Einige nannten ihn den verlängerten Arm Hitlers in Österreich

Arthur Seyß-Inquart war einer der Hauptangeklagten der Nürnberger Prozesse, der eine wichtige Rolle beim Anschluss Österreichs und bei der Judenvernichtung gespielt hatte. Einige nannten ihn den verlängerten Arm Hitlers in Österreich, andere verächtlich „Zes-en-een-kwart“.

Der Führer hatte bis zu seinem letzten Tag keine Zweifel an seiner Loyalität, und das Gericht hatte keine Zweifel an seiner Schuld.

Jurist aus Mähren

Arthur Seyß wurde 1892 in Stannern unweit der Stadt Iglau geboren. Dieser Teil Mährens, einer der tschechischen Provinzen von Österreich-Ungarn, war eine deutsche „Sprachinsel“ mitten in einer Region, wo Tschechisch gesprochen wurde. In einer Umgebung, in der Deutsche und Tschechen gegeneinander konkurrierten, wuchs Arthur Seyß als Nationalist auf. Es gab Gerüchte, er wäre nur mütterlicherseits Deutscher, wobei sein Vater, Schuldirektor Emil Seyß, in Wahrheit ein Tscheche namens Zajtich wäre. Allerdings gab bzw. gibt es keine Dokumente, die diese Version bestätigen würden.

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1906 bekam die Familie durch Namensübertragung seitens eines Großonkels, Heinrich Ritter von Inquart, den Doppelnamen Seyß-Inquart. 1907 zog sie nach Wien, wo der künftige Nürnberger Angeklagte an der Uni Jura studierte, allerdings mit einer Unterbrechung für den Ersten Weltkrieg. Im August 1914 wurde er Soldat der österreichischen Armee, wo er mit dem künftigen Kanzler der Alpenrepublik, Kurt Schuschnigg, dem er Jahre später die Macht wegnahm, gemeinsam seinen Wehrdienst leistete. Er wurde mit mehreren Medaillen für Tapferkeit ausgezeichnet, erlitt eine schwere Verletzung. Sein Studium schloss er 1917 in einem Krankenhaus ab. Nach dem Krieg wurde er Rechtsanwalt und eröffnete seine eigene Kanzlei. 1916 heiratete er Gertrud Maschka, mit der er einen Sohn und zwei Töchter hatte.

Den Ersten Weltkrieg hatte Wien verloren. Die riesige Österreichisch-Ungarische Monarchie zerfiel in ein Dutzend kleine „Splitter“, die nationale Staaten bildeten, wo es deutschsprachige Einwohner gab (einer von ihnen war eben Seyß‘ Heimat Tschechoslowakei). Zum ersten Mal in seiner Geschichte wurde Österreich zu einer Republik.

Deutscher Nazismus gegen Austrofaschismus

In den ersten Jahren der Republik stand Arthur Seyß-Inquart der konservativen Vaterländischen Front des Kanzlers Engelbert Dollfuß nahe, den er ebenfalls in den Kriegsjahren kennengelernt hatte.

Dollfuß, der sowohl von den österreichischen Nationalsozialisten als auch von den Linken (Kommunisten und Sozialdemokraten) unter Druck gesetzt wurde, versuchte, die Nation auf Basis der traditionellen Werte zusammenzuhalten. 1933 verwandelte sich Österreich aus der parlamentarischen Republik in einen autoritären Ständestaat. Die Macht stützte sich auf die katholische soziale Doktrin mit deren Solidaritätsprinzipien (Zusammenwirken verschiedener Bevölkerungsschichten), Distributismus (allgemeines Eigentum für Produktionsmittel) und Subsidiarität (Probleme sollten nach Möglichkeit vor Ort gelöst werden). Dieses Regime wurde bekannt als Austrofaschismus, aber mit dem Nationalsozialismus hatte es nichts zu tun. Mehr noch: Es kämpfte dagegen – die NSDAP war in Österreich verboten, und ihre Aktivisten saßen hinter Gittern. Viele Methoden schauten sich die Austrofaschisten bei dem italienischen Diktator Benito Mussolini ab und wandten sie sanfter an.

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Aber Dollfuß‘ Kurs, der die Unabhängigkeit und Selbstständigkeit Österreichs verteidigte, gefiel den Nazis gar nicht. Auch Seyß-Inquart, der seit den 1920er Jahren an der prodeutschen Bewegung beteiligt war, war der Auffassung, dass sein Land Teil Deutschlands werden sollte.

Am 25. Juli 1934 wurde die Residenz des österreichischen Kanzlers von bewaffneten SS-Kämpfern überfallen, wobei Dollfuß schwer verletzt wurde. Die Revolte wurde niedergeschlagen (nicht zuletzt dank der Unterstützung Italiens), aber der Kanzler konnte nicht gerettet werden und starb.

Der neue Kanzler, Kurt Schuschnigg, ernannte Seyß-Inquart zu seinem Berater. Ungefähr zu der Zeit ließ sich Arthur Seyß-Inquart von den Ideen Heinrich Himmlers von der Rassenreinheit überzeugen und etablierte sich 1938 als respektierter „Frontmann“ der österreichischen Nationalsozialisten, obwohl er damals noch kein NSDAP-Mitglied war.

Kanzler Schuschnigg war nicht so entschlossen wie sein Vorgänger Dollfuß, versuchte aber ebenfalls, Österreichs Anschluss an das Dritte Reich zu verhindern. Um Deutschland zu beschwichtigen, wurden mehrere Tausend österreichische Nazis freigelassen, und der Staat verpflichtete sich, der deutschen Außenpolitik generell zu folgen. Viele Anhänger Hitlers bekamen in Österreich leitende Posten. Doch der deutsche Führer erkannte keine halben Maßnahmen an und war entschlossen, das Nachbarland zu annektieren.

Ins Mittelalter und noch weiter

Am 12. Februar 1938 nahm Schuschnigg unter Androhung der deutschen Invasion Hitlers Ultimatum an. Eine seiner Bedingungen war, Seyß-Inquart zum Innenminister und zum Chef der Kriminalpolizei zu ernennen. Am 17. Februar war dieser bereits bei Hitler und besprach mit ihm die Überfallpläne der Nazis. Dennoch hoffte der Kanzler immer noch, sein Land zu retten. Am 9. März ordnete er für den nächsten Sonntag ein Unabhängigkeitsreferendum an. Einen Tag später verlangte Hitler, den Volksentscheid abzusagen (und drohte wieder mit der Invasion). Am 11. März musste Schuschnigg zustimmen und zurücktreten. Zum neuen Staatschef wurde Seyß-Inquart erklärt. In derselben Nacht marschierten deutsche Truppen in Österreich ein. Die offizielle Version lautete, dies wäre auf Einladung des neuen Kanzlers passiert, aber in Wahrheit erfuhr Seyß-Inquart erst im Nachhinein darüber. Im Laufe der Nürnberger Prozesse wurde diese Episode ausführlich behandelt.

Am 12. März kam Hitler nach Österreich – über seine Heimatstadt Braunau und Linz, wo er seine Jugend verbracht hatte. Unterwegs wurde er von riesigen Menschenmengen begrüßt. Einen Tag später war der Führer zu Feierlichkeiten in Wien. Am selben Tag wurde das Gesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich veröffentlicht, dem zufolge Österreich zu einem Land des Deutschen Reiches unter dem Namen „Ostmark“ erklärt wurde (so hieß der Staat, der auf diesem Territorium vom 9. bis 12. Jahrhundert  existiert hatte).

Alle österreichischen Machtstrukturen, insbesondere der Kanzlerposten, wurden abgeschafft. Seyß-Inquart wurde zum Reichsstatthalter in der Ostmark ernannt. Am selben Tag trat er der NSDAP bei und wurde zum SS-Gruppenführer ernannt.

Am 10. April fand der von den Nazis organisierte Volksentscheid über den Anschluss statt. Laut offiziellen Angaben stimmten in Deutschland 99,08 Prozent und in Österreich 99,75 Prozent der Einwohner dafür.

„Es war klar, dass die meisten Österreicher, die am 13. März Schuschnigg ‚Ja‘ gesagt hätten, am 10. April Hitler ‚Ja‘ sagen würden“, schrieb der US-amerikanische Journalist William Shearer, der in Hitler-Deutschland und später in Nürnberg arbeitete. „Viele von ihnen glaubten, dass ein fester Bund mit Deutschland, selbst mit Nazi-Deutschland, wünschenswert und unvermeidlich für Österreich wäre, dass Österreich (…) selbstständig nicht lange bestehen würde und nur als Teil des Deutschen Reiches überleben könnte.“

Sowohl unter Österreichern als auch in der ganzen Weltgemeinschaft rief der Anschluss viele Fragen hervor. Einerseits schien die Vereinigung der zwei deutschen Staaten nach dem Zerfall von Österreich-Ungarn und der Verwandlung Deutschlands in die Republik durchaus logisch zu sein. Andererseits war Deutschland 1938 ein totalitärer rassistischer Staat, wo ganze Bevölkerungsgruppen verfolgt wurden. Und obwohl Hitler selbst Österreicher war, betrachtete er die neuen Länder nicht als seine Heimat, die sich endlich mit Deutschland vereinigten, sondern als eine Ressourcenbasis und als Plattform für die Vorbereitung aggressiver Kriege.

Das wurde im April 1939 klar, als in der Ostmark sieben Reichsgaue eingerichtet wurden, die keine einheitliche Verwaltung hatten und unmittelbar Berlin unterstellt waren. Später, im Januar 1942, geriet sogar der Name Ostmark in Vergessenheit. Jetzt wurden diese Gebiete als Alpen- und Donau-Reichsgaue bezeichnet, damit sich niemand mehr an die einstige Unabhängigkeit Österreichs erinnerte.

Reichskommissar „Zes-en-een-kwart“

Österreich verlor endgültig seine Autonomie, und Seyß-Inquart seinen Posten. Allerdings fand der Führer für ihn einen neuen: Im April 1939 wurde er Minister ohne Portefeuille in der deutschen Regierung und im Oktober zudem auch Staatssekretär im Generalgouvernement in Polen. Er war es, der in Nürnberg beschuldigt wurde, jüdische Ghettos eingerichtet und „außerordentliche Maßnahmen“ bei der Unterdrückung des polnischen Widerstands beschlossen zu haben.

Im Mai 1940 folgte ein neuer Karriereaufschwung: Deutschland besetzte die Niederlande, und Seyßt-Inquart wurde zu deren Reichskommissar ernannt. Am Anfang bildete er eine Regierung aus Holländern, die er aber später auflöste und alle Verwaltungsgremien sich selbst unterstellte. Die niederländische Industrie wurde nach dem Bedarf der Wehrmacht umorientiert. In dieser Zeit entstanden neue militärische Organisationen (Landwachten), und die Niederlande wurden zwangsläufig „verdeutscht“. Hitlers Statthalter war persönlich für die Unterdrückung der Nazi-Gegner verantwortlich, insbesondere der Streiks in Amsterdam und Arnhem. In diesen Jahren segnete Seyß-Inquart insgesamt nahezu 800 Todesurteile ab (laut manchen Quellen lag diese Zahl sogar bei etwa 1500).

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In Den Haag zeigte er sich als Anhänger einer harten antisemitischen Politik. Er plädierte für einen „besonderen Umgang mit Juden“ in den Niederlanden, nämlich für „die vollständige Beseitigung der Juden aus der holländischen nationalen Gesellschaft“. Der Radikalismus seiner Erklärungen entsprach durchaus der Realität der deutschen Besatzungspolitik. Nach Auffassung Seyß-Inquarts war die Judenverfolgung sogar noch wichtiger, als den Holländern die nationalsozialistischen Ideen „beizubringen“. Seit 1941 wurden Juden massenweise registriert, in Amsterdam wurde ein Ghetto und in Westerbork ein Durchgangslager eingerichtet. Zur selben Zeit wurden Juden in Konzentrationslager wie Buchenwald, Mauthausen und Bergen-Belsen und später auch nach Sobibor und Auschwitz verschickt. Im September 1944, als die Alliiertentruppen schon in der Nähe waren, wurden alle Insassen des Lagers Westerbork ins KZ Theresienstadt überführt. Am Ende überlebten von 140.000 niederländischen Juden nur höchstens 35.000 den Krieg. Darüber hinaus wurden 430.000 bis 530.000 Holländer gezwungen, für das Dritte Reich zu arbeiten, und 250.000 wurden zu Zwangsarbeiten umgesiedelt. Die Atmosphäre der damaligen Zeit wurde im „Tagebuch der Anne Frank“ ausführlich beschrieben, einem jüdischen Mädchen, das sich zwei Jahre in Amsterdam versteckte und ihre Eindrücke niederschrieb.

Berlin gab dem Reichskommissar große Handlungsfreiheit. Wie der deutsche Historiker Ludger Heid schrieb, gibt das „interessante Aufschlüsse über jene Leute, die nach Kriegsende behauptet haben, sie seien nur ein Rädchen in einem großen Getriebe gewesen“. Und Seyß-Inquart sei ein großes „Rad“ im Getriebe der nationalsozialistischen Gewaltpolitik gewesen, betonte er.

Der Gerechtigkeit halber muss man sagen, dass sich Seyß-Inquart gegen manche Befehle zur Wehr setzte. 1944 schickte er beispielsweise „nur“ 12.000 Zwangsarbeiter (statt der geplanten 250.000) nach Deutschland. Und beim Rückzug aus den Niederlanden sabotierte der Reichskommissar, der sein Vorgehen mit Rüstungsminister Albert Speer absprach, Berlins Befehle zur „Verbrennung der Erde“. Ende 1944 legte er sein Veto auf Lebensmittellieferungen in die okkupierten Gebiete der Niederlande ein, doch am Ende des seinem Befehl folgenden „Hungerwinters“ stimmte er doch humanitären Lieferungen der Alliierten zu, die über den betroffenen Gebieten Lebensmittel abwarfen.

Die Holländer selbst nahmen den Reichskommissar mit Ironie wahr. So waren damals Aschenbecher verbreitet, die aus 6 ¼-Cent-Münzen gefertigt waren – und sein Name klang wie „Zes-en-een-kwart“.

Zwischen dem Führer und Nürnberg

Am 30. April 1945 beging Hitler Selbstmord. Am Vortag hatte er ein politisches Testament geschrieben, in dem er die neue Regierung ernannte. Seyß-Inquart sollte dabei den Posten des Außenministers bekommen – es sieht so aus, dass der Führer bis zu seinem letzten Lebenstag an seine Treue glaubte.

Obwohl die Küste von Schiffen der Alliierten patrouilliert wurde, erreichte der Reichskommissar mit einem Torpedoboot Flensburg, wo das Kabinett des neuen Reichspräsidenten Karl Dönitz saß. Dort erklärte Seyß-Inquart, dass er auf den Posten in der Regierung verzichte, weil er in Holland weiterarbeiten müsse. „Ich gehöre dorthin“, zitierte ihn Speer in seinen „Erinnerungen“. „Wenn ich zurück bin, werde ich sofort verhaftet.“ So sollte es auch kommen: Am 4. Mai 1945 kapitulierte die Wehrmacht in den Niederlanden, und der Reichskommissar wurde festgenommen.

In Österreich hat Seyß-Inquart immer noch das Image eines anständigen katholischen Gentlemans, eines zurückhaltenden und feinen Intellektuellen, der nun einmal ein Mitgefühl für den Nazismus hatte. Aber Forscher, unter anderem sein Biograf Johannes Kohl, betonen, dass Seyß-Inquart in den 1930er Jahren ein überzeugter Nationalsozialist wurde, und seine Rolle bei den Verbrechen gegen die Menschlichkeit lasse sich nicht unterschätzen.

Daniil Sidorow