Den Organisatoren der Nürnberger Prozesse ist es gelungen, ein äußerst komplexes juristisches Problem in kurzer Zeit zu lösen.

Sie schufen eine internationale Strafprozessordnung. Der Völkerrechtsforscher Sergej Mirosсhnitschenko schildert, wie die Parteien eine gemeinsame Rechtssprache gefunden haben.

Im Vereinigten Königreich und in den Vereinigten Staaten hat sich der Angelsächsische Rechtskreis gestaltet. Die Hauptrolle im Strafprozess spielen dort die Parteien – der Staatsanwalt und der Rechtsanwalt. Sie sammeln Beweise, befragen Zeugen und geben sich höchstmöglich Mühe, um das Gericht oder die Geschworenen in ihren Argumenten zu überzeugen. Der Richter ist ziemlich passiv: Seine Aufgabe ist es, die Beweise abzuwägen und dann zu entscheiden, ob der Angeklagte schuldig ist und welche Strafe er verdient. Gleichzeitig hat der Richter das Recht, die Verfahrensordnung, nach der der Fall untersucht wird, selbst zu bestimmen.

Die Rechtssysteme der UdSSR und Frankreichs gehören zu dem kontinentaleuropäischen (römisch-germanischen) Rechtskreis. Hier ist der Richter die Hauptfigur der Gerichtsverhandlung. Die Sitzung beginnt damit, dass die Anklage eine Anklageschrift mit allen Beweisen vorlegt. Die Angeklagten werden gefragt, ob sie sich schuldig bekennen, danach werden die Angeklagten und die Zeugen vernommen. Ihnen folgen die Schlussvorträge der Parteien, das letzte Wort der Angeklagten wird gehört und das Gericht fällt sein Urteil. Dabei gibt es für das Gericht wie auch die Anklage und die Verteidigung klare, durch das Strafprozessrecht festgesetzte Grenzen.

Zunächst wollten die Organisatoren des Prozesses bestimmen, welches der Verfahren am besten für ein internationales Tribunal geeignet ist. Das Ergebnis war ein Gleichgewicht zwischen den Normen des angelsächsischen und des kontinentalen Systems. Aus ihrer Synthese entstand das Tribunalverfahren.

Der Prozess begann mit der Verlesung einer detaillierten Anklageschrift, gefolgt von der Vorlage von Beweisen der Anklage, und danach wurden Beweise der Verteidigung vorgelegt, wie es in Kontinentaleuropa üblich ist. Dabei machte das Tribunal weitgehend von dem Recht Gebrauch, das das angelsächsische System gewährt: Es formulierte die Verfahrensregeln bereits während des Prozesses. Die Zeugen wurden ebenfalls nach einem rein angelsächsischen Schema befragt: Zuerst vernahm die Partei, die den Zeugen vorgeladen hatte, direkt, später wurde er von der Gegenseite ins Kreuzverhör genommen, und danach wurde der Zeuge zu Themen, die sich während des Kreuzverhörs ergaben, erneut befragt. Diese Methode trug dazu bei, möglichst viele Informationen von jedem Zeugen zu erlangen.

So wurde beispielsweise der Angeklagte Hermann Göring eine Woche lang von seinem Anwalt und eine Woche lang von den Anklägern verhört. Während die Verteidigung den Angeklagten befragte, griffen weder der Vorsitzende Richter beim Internationalen Militärgerichtshof, (Geoffrey) Lawrence, noch die Anklage ein. Als es jedoch um die Motive für Strafaktionen gegen die Widerstandsbewegung Résistance in Frankreich ging, wandte der Hauptanklagevertreter der USA, (Robert) Jackson, ein, es sei unzulässig, die Rechtsdoktrin der Repressalien zur Rechtfertigung dieser Strafmaßnahmen zu verwenden.

Der Vorsitzende Richter hörte nicht nur die Meinung des Anklägers und des Verteidigers, sondern auch die des deutschen Rechtsprofessors (Franz) Exner, der einen anderen Angeklagten, Alfred Jodl, verteidigte.

In dieser Handlung kommen kennzeichnende Merkmale des angelsächsischen Systems zum Vorschein, nämlich das Recht des Richters, von der Verfahrensordnung abzuweichen und die Ansichten angesehener Rechtsexperten als Stellungnahme anzunehmen. Als die Anklage die Befragung Görings beendete, versuchte sein Verteidiger, ihn wiederholt zu befragen, um einige zusammenfassende Schlussfolgerungen zu ziehen. Das Tribunal stoppte die Initiative jedoch mit der Begründung, dass die erneute Befragung nur zu Fragen durchgeführt werden könne, die sich während des Kreuzverhörs ergeben hätten.

Die Aufgabe, sowohl vor als auch während des Prozesses Beweise der Anklage zu sammeln und vorzulegen, stand den beiden Parteien gleichermaßen zu: Die Anklage machte auf die belastenden Umstände aufmerksam, und die Verteidigung musste sich ihrerseits maximal darum bemühen, die Umstände an den Tag zu bringen, die die Schuld mindern oder die Argumente der Anklage widerlegen würden. Dies stand im Einklang mit dem angelsächsischen System, das die entgegengesetzten Parteien oft als „Kombattanten“ bezeichnet und die Voruntersuchung nicht als eine unabhängige Etappe in einem Strafverfahren anerkennt.

Nach der Geschäftsordnung durfte das Tribunal Beweise oder Zeugenaussagen ablehnen, wenn es sie für den Fall als irrelevant erachtete. Der Gerichtshof akzeptierte staatliche Dokumente des Dritten Reiches, falls Informationen darüber vorhanden waren, wie sie in den Besitz der Alliierten gelangt waren. Unbestritten durften die Dokumente der zuständigen staatlichen Behörden angenommen werden, die ordnungsgemäß zur Untersuchung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit befugt worden waren.

Bei diesen Dokumenten handelte es sich um Materialien der Außerordentlichen Staatlichen Kommission der UdSSR („Außerordentliche Staatliche Kommission für die Feststellung und Untersuchung der Gräueltaten der deutsch-faschistischen Aggressoren und ihrer Komplizen, und des Schadens, den sie den Bürgern, Kolchosen, öffentlichen Organisationen, staatlichen Betrieben und Einrichtungen der UdSSR zugefügt haben – Anm.d. Red.), sowie der Kommission der Vereinten Nationen zur Untersuchung von Kriegsverbrechen. Die United Nations War Crimes Commission (UNWCC) war eine Kommission alliierter Staaten zur Beweismittelsicherung und strafrechtlichen Ahndung von Kriegsverbrechen der Achsenmächte im Zweiten Weltkrieg, (die United Nations War Crimes Commission, UNWCC – Anm. d. Red.) und Regierungsberichte von Belgien, den Niederlanden, Griechenland, Norwegen, Jugoslawien und Polen.

Das Tribunal folgte dem Prinzip des Präjudizes in der Bedeutung, die er im kontinentalen Rechtssystem hat, das heißt, er ließ die in Kraft getretenen Gerichtsakte der Organisatoren-Länder des Tribunals bedingungslos als Beweismittel zu.

Da das Tribunal neben den Fällen einzelner Angeklagter auch die Frage der Einstufung einer Reihe von Organisationen in Nazi-Deutschland, zu denen Hunderttausende von Mitgliedern gehörten, als verbrecherische Organisationen behandelte, entstanden viele Streitigkeiten in Bezug auf die Institution der Bevollmächtigten, die mit der Sammlung und Bewertung von Beweisen außerhalb des Gerichtssaals beauftragt wurden.

Diese Methode ist typisch für das angelsächsische Recht, während im kontinentalen Rechtssystem ein Fall als Ganzes in öffentlichen Gerichtssitzungen gehört wird.

Hier einigte man sich auf einen Kompromiss: Bevollmächtigte wurden ernannt, um lediglich jene Zeugen zu befragen, die physisch nicht vor das Gericht vorgeladen werden können oder deren Aussagen in Form eines Affidavits (eine durch Eid beglaubigte schriftliche Aussage) vorgelegt werden können.

Die Verwendung von Affidavits an sich ist ein typisches Element des angelsächsischen Rechts – im kontinentalen Verfahren werden Verhörprotokolle verwendet. Der Unterschied besteht darin, dass ein Affidavit von einem Notar oder Rechtsanwalt aufgenommen werden kann und eine eigenhändige Aussage des Zeugen über ihm bekannte Tatsachen darstellt, während die Vernehmung nur von den Ermittlungsbehörden durchgeführt wird.

Mehrere tausend Affidavits wurden dem Gericht als Beweismittel vorgelegt. Das berühmteste davon ist das Affidavit des SS-Offiziers Wilhelm Höttl, der einst vor Adolf Eichmann geprahlt hatte, an der Vernichtung von sechs Millionen Juden mitgewirkt zu haben. Allerdings machte die Verteidigung Gebrauch von Affidavits – davon gab es viel mehr als Zeugenaussagen.

Die kontinentale Tradition beruht in erster Linie auf den Gesetzen als Rechtsquelle, die angelsächsische Tradition verwendet den Begriff des Präzedenzfalls. In diesem Sinne folgten die Nürnberger Prozesse in stärkerem Maße dem angelsächsischen System: Die Parteien beriefen sich in ihrer Argumentation immer wieder auf Präzedenzfälle.
Wie bereits erwähnt, war das Tribunal ein absolutes Novum in der Geschichte des Völkerrechts, es schuf selbst eine Verfahrensregel, von der sich seine Teilnehmer leiten ließen. Manchmal gab es im Gerichtssaal

Debatten darüber, in welcher Reihenfolge die Beweise vorgelegt werden sollten und ob es möglich ist, einen im Voraus nicht angekündigten Zeugen zu hören. Das Tribunal entschied diese Fragen direkt beim Gerichtsverfahren.

Spätere internationale Strafgerichtshöfe haben sich des Erbes der Nürnberger Prozesse bedient – insbesondere der Fassungen von Tatbeständen, darunter der Definition des Völkermordes. Diese Definitionen sind sowohl in die nationalen Gesetzgebungen als auch in das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs aufgenommen worden.

Die weitere Entwicklung der Prozessregeln verlief im Einklang mit dem kontinentalen Rechtssystems. Mit der Zeit sind sie komplexer geworden. Die Statuten des Gerichtshofs in Nürnberg sahen beispielsweise vor, dass das Gerichtsverfahren innerhalb eines kurzen Zeitrahmens abgehalten werden muss.

Allerdings werden die Anklage und die gerichtliche Untersuchung sowohl im Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda als auch im Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien oder im Internationalen Strafgerichtshof in Bezug auf den Zeitrahmen nicht eingeschränkt.

Allerdings setzen die Internationalen Tribunale für Ruanda und das ehemalige Jugoslawien sowie der Internationale Strafgerichtshof weder den Staatsanwälten noch der gerichtlichen Untersuchung zeitliche Grenzen.