Bei den Nürnberger Prozessen war alles neu –sie gelten auch als Geburtsstunde der modernen Simultanübersetzung. Die neue Übersetzungsmethode kam ausgerechnet vor dem Militärgerichtshof erstmals zum Einsatz. Die Weltgemeinschaft hatte sich darauf geeinigt, keine Kriege mehr und friedlich leben zu wollen. Die Dolmetscher spielten eine eminent wichtige Rolle bei der Verständigung vor Gericht. Sie hatten dabei wohl die größte Verantwortung übernommen, weil etwas mit dieser Tragweite noch nie zuvor getan hatten. Besonders schwer hatten es die sowjetischen Dolmetscher, die diese Prüfung glücklicherweise glänzend bestanden.

Jewgeni Gofman: 1946 musste ich in Nürnberg erstmals als Simultandolmetscher fungieren. Als ich in diese alte Stadt reiste, auf die damals Millionen Augen aus aller Welt blickten, die die Arbeit des Internationalen Militärgerichtshofs verfolgten, hatte ich nicht die geringste Vorstellung von den Aufgaben, die ich zu erfüllen hatte.

Tatjana Stupnikowa: An einem windigen und kalten Abend im Januar 1946 wurde ich, Dolmetscherin des Stabs der Sowjetischen Militärverwaltung in Deutschland, von General Serow, dem Stellvertreter des Volkskommissars für Inneres, Lawrenti Beria, bestellt. (…) Das Treffen war kurz: „Ich habe mir mitteilen lassen, dass Sie simultan dolmetschen können.“ Ich schwieg, denn ich hatte keine Ahnung davon, was der Begriff „Simultandolmetschen“ bedeutete. Ich wusste damals nur, dass es nur schriftliche und mündliche Übersetzung gab.

US-Außenministerium und Linguistik: Geburtsstunde der Simultanübersetzung

Die Akte über die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht wurde am 7. Mai 1945 im französischen Reims unterzeichnet, und die Unterzeichnung der endgültigen Akte fand einen Tag später im Berliner Vorort Karlshorst statt. Vom 26. Juni bis 8. August verhandelten die Alliierten (UdSSR, USA, Großbritannien und Frankreich) über das Abkommen über Organisation des Internationalen Militärgerichtshofs. Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher sollte in Nürnberg ausgetragen werden, wo in den 1930er-Jahren mehrere NSDAP-Parteitage stattgefunden hatten. Dann wurden die Organisatoren mit der Frage konfrontiert: Wie könnten bzw. sollten alle Teilnehmer sich verständigen?

Mit der Suche nach Dolmetschern für die US-Delegation wurde Guillermo Suro, Leiter der Übersetzungszentrale des US-Außenministeriums, beauftragt. Faktisch beschäftigte sich damit aber der ausgebildete Linguist, Oberst Leon Dostert, Mitarbeiter des US-Büros für strategische Dienste und persönlicher Dolmetscher General Eisenhowers.

Dostert sah ein, dass die konsekutive Übersetzung, die damals auf internationalen Konferenzen üblich war, zur Verzögerung des Prozesses führen würde, und plädierte deshalb für Simultanübersetzung. Diese Übersetzungsmethode ist schwierig, weil der Dolmetscher gleichzeitig mit dem Redner spricht, während bei konsekutiver Übersetzung der Dolmetscher nach dem Redner spricht. Auf Simultanübersetzung hatte man auch vor dem Nürnberger Prozess zurückgegriffen, allerdings nur wenn Redner im Voraus vorbereitete Texte vorlasen oder wenn mehrere Dolmetscher die Rede gleichzeitig in mehrere Sprachen übersetzten.

Dostert und seine Assistenten beschlossen, dass Simultandolmetscher in Nürnberg nur in eine Richtung übersetzen würden – in ihre Muttersprachen, um eine doppelte psychische Belastung zu vermeiden. Dann stellte sich die nächste Frage: Wo könnte man solche Dolmetscher finden?

Auswahl der Dolmetscher: von Studenten bis adligen Emigranten

Nur der Leiter des französischen Dolmetscherteams, André Kaminker, hatte Erfahrungen als Simultandolmetscher. Die 1941 gegründete Genfer Dolmetscherschule hatte noch keine Simultandolmetscher ausgebildet. Die Auswahl der Dolmetscher für die Arbeit in Nürnberg verlief in zwei Phasen.

Die Kandidaten wurden zu Oberst Dostert ins Pentagon geschickt. Dort wurden sie von Dosterts Assistenten Peter Uiberall aufgefordert, zehn Bäume, zehn Automobilersatzteile und zehn landwirtschaftliche Instrumente in ihrer Muttersprache und in der jeweiligen Fremdsprache zu nennen. Weitere Aufgaben waren noch schwieriger: Die Kandidaten sollten ihre Fähigkeiten als Übersetzer und Dolmetscher, ihre Kenntnisse im militärischen und juristischen Bereich und ihre allgemeine Kultiviertheit zeigen. Wer diese Phase überstand, reiste nach Nürnberg, um dort vom Chefdolmetscher der US-Delegation, Richard Sonnenfeldt, getestet zu werden. Dieser schrieb in seinen Erinnerungen: „(Die Mitarbeiter des US-Außenministeriums), die sie nach Nürnberg aus den Vereinigten Staaten geschickt hatten, hatten sich offenbar nicht allzu viel Mühe gegeben. Manche Kandidaten sprachen Englisch mit deutschem Akzent, und schriftlich kopierten sie die deutsche Syntax. Wenn sie Deutsch sprachen, ließ sich manchmal ungarischer oder polnischer Akzent hören. Irgendwann erschien in meinem Arbeitszimmer ein kleiner dicker Mann, reichte mir grüßend die Hand und ging tanzend auf mich zu mit den Worten: ‚ Misster Tzonnenfelt, I amm sooo glat to mit you. I speaka da seven linguiches and Englisch dee best‘. Die Worte ‚Englisch dee best‘ wurden später zu unserem Lieblingsscherz.“

Ende Oktober 1945 besuchten Dostert und sein Team Deutschland, um die Vorbereitung der IBM-Ausrüstung für Dolmetscher zu überwachen und die Suche nach Dolmetschern in Europa fortzusetzen. Künftige Simultandolmetscher wurden in der Schweiz (vor allem unter Absolventen der Genfer Dolmetscherschule), Belgien, den Niederlanden und auch anderen Ländern gefunden, deren Einwohner üblicherweise mehrere Sprachen sprechen. Aber einen Monat vor dem Beginn des Prozesses blieb die Frage immer noch ungelöst. Die französische Delegation versprach, ihre Dolmetscher spätestens am 7. oder 8. November nach Nürnberg zu bringen, und der Richter Lawrence erklärte, das britische Dolmetscherteam würde am 7. November eintreffen.

Tatjana Stupnikowa: „Es stellte sich heraus, dass die sowjetische Delegation nach Nürnberg (…) ohne Dolmetscher gekommen war, denn unsere leitenden Genossen waren überzeugt, dass die Amerikaner in der amerikanischen Besatzungszone die Lösung nicht nur aller wirtschaftlichen und technischen Probleme der Nürnberger Prozesse, sondern auch die Übersetzung in die vier Sprachen: Englisch, Deutsch, Russisch und Französisch – übernehmen würden. Als aber klar wurde, dass Simultanübersetzung im Gerichtssaal nur in die Muttersprache des Dolmetschers erlaubt war, so dass die Übersetzung aus dem Englischen, Deutschen und Französischen ins Russische sowjetische Dolmetscher übernehmen sollten, kabelte man das nach Moskau, und dort musste man hektisch nach Dolmetschern aus den drei anderen offiziellen Sprachen ins Russische suchen. Damals erwies sich das als eine ziemlich schwierige Angelegenheit. Und deshalb wurde die Suche dem Volkskommissariat für Inneres (NKWD) bzw. dem KGB anvertraut, der diese Aufgabe quasi über Nacht lösen musste. Die Mitarbeiter dieser (…) Behörde haben sie binnen von 24 (wenn nicht zwölf) Stunden erfüllt und einen Teil der sowjetischen Dolmetscher unmittelbar vor der Eröffnung des Prozesses nach Nürnberg gebracht. (…) Ich war damals in der zweiten Gruppe, die aus Berlin schon im Januar 1946 nach Nürnberg gebracht wurde. Aber auch da ging es ziemlich hektisch zu – die Dolmetscher aus der ersten Gruppe entsprachen offenbar nicht den Ansprüchen. Und noch etwas: Ich konnte nicht einen Monat später, wie der General mir versprochen hatte, sondern erst im Januar 1947 endlich nach Hause fahren.“

Die sowjetischen Dolmetscher kamen nach Nürnberg entweder aus dem Stab der Roten Armee in Karlshorst oder unter Mitwirkung der Allsowjetischen Gesellschaft für kulturelle Verbindungen mit dem Ausland. Sie hatten verschiedene Ausbildungen: der Russisch-Deutsch-Dolmetscher Jewgeni Gofman hatte die Militärfakultät bei der Zweiten Moskauer Staatlichen Pädagogischen Hochschule für Fremdsprachen, die Russisch-Englisch-Dolmetscherin Tatjana Russkaja, die Russisch-Deutsch-Dolmetscherin Inna Kulakowskaja und der Russisch-Französisch-Dolmetscher Konstantin Zurinow (der später Chefdolmetscher und Sekretär der sowjetischen Delegation wurde) die Moskauer Hochschule für Geschichte, Philosophie und Literatur absolviert. Bei der Prüfung der Kandidaten wurde häufig offensichtlich, dass die linguistische Universitätsbildung keine Garantie für die Fähigkeit zum Simultandolmetschen war. Neben ausgebildeten Dolmetschern arbeiteten auch Lehrer, Juristen oder ausgebildete Militärs im „Aquarium“: Juri Chlebnikow hatte eine Handelshochschule in Paris, und Peter Uiberall war vor dem Krieg Börsenmakler gewesen. Unter den Russisch-Deutsch-Dolmetschern gab es auch Nachkommen von russischen Emigranten: der Fürst Georgi Wassiltschikow, die Fürstin Tatjana Trubezkaja, Juri Chlebnikow. Viele von ihnen beherrschten seit ihrer Kindheit zwei oder sogar drei Sprachen.

Die Französisch-Englisch-Dolmetscherin Patricia van der Elst sagte: „Ich war überrascht, als ich die von der Genfer Dolmetscherschule organisierten Tests hervorragend bestanden hatte. Dort hatten wir nur konsekutive Übersetzung gelernt, und deshalb brachte mich die Notwendigkeit, ins Mikrofon zu sprechen und gleichzeitig dem Berichterstatter zuzuhören, beinahe in Verlegenheit. Die Tinte auf meinem Diplom war kaum getrocknet, und ich war schon auf dem Weg nach Nürnberg. Das war mein erster Job – und auch der wichtigste, auch wenn ich das damals noch nicht wusste. Ich tauchte in diese Arbeit mit der unschuldigen Begeisterung einer 25 Jahre jungen Frau, die auf eine Dienstreise ins Ausland gegangen war, um unabhängig von den Eltern zu werden und sich in die verlockende Ungewissheit zu begeben. In Nürnberg verbrachte ich die ganze Zeit meiner Dienstreise im Grand Hotel. Eine Woche verbrachte ich in der Gästegalerie und beobachtete den Prozess. Dann wurde ich während der Mittagspause kurz in der Kabine getestet, und dann sagte man mir, dass ich morgen meine Arbeit beginnen sollte. Ich verstand, dass ich entweder untergehen oder den Kopf über Wasser halten würde. Ich habe es geschafft.“

Ihre Kollegin Elisabeth Heyward arbeitete nur einen Tag nach der Ankunft in Nürnberg im „Aquarium“.

Jewgeni Gofman: „Einen Tag nach der Ankunft organisierten die Amerikaner, die die Dolmetschergruppe leiteten, eine Prüfung für die neuen Dolmetscher. Aus dem Saal wurde der deutsche Text ins Mikrofon gelesen, der in die anderen Sprachen (Russisch, Französisch, Englisch) zu übersetzen war. Der Test verlief gut, und schon am nächsten Tag saß ich in der Kabine neben meinen Kollegen. Der Vorsitzende überließ dem deutschen Rechtsanwalt das Wort, der den angeklagten Großadmiral Röder verteidigte. Ich geriet unter einen regelrechten ‚Hagel‘ aus juristischen Begriffen, Gesetzesinterpretationen, die äußerst kompliziert formuliert und eine äußerst komplizierte Syntax hatten. Ich musste mir sehr viel Mühe geben, um durch diesen ‚Dschungel‘ zu kommen. Ich versuchte, mich auf meinen gesunden Verstand so gut es ging zu verlassen… Als ich die Kabine verließ, hatte ich nur Nebel im Kopf.“

Manche Simultandolmetscher hatten auch andere Aufgaben. So war der amerikanische Chefdolmetscher Richard Sonnenfeldt auch Assistent des Chefermittlers; Oleg Trojanowski und Enwer Mamedow beschäftigten sich vor allem mit diplomatischer Arbeit: Trojanowski war Sekretär des Richters Iona Nikitschenko, und Mamedow hatte den Auftrag, heimlich den Feldmarschall Paulus nach Nürnberg zu bringen, der bei Stalingrad gefasst worden war. Paulus sollte als Zeuge Aussagen machen.

Viele Simultandolmetscher arbeiteten zunächst als schriftliche Übersetzer, und erst einige Wochen oder Monate später durften sie ins „Aquarium“ wechseln. Manchmal ging es auch umgekehrt: Manche frühere KZ-Häftlinge oder Kinder von Ex-Häftlingen konnten den psychischen Druck nicht mehr ertragen und entschieden sich für schriftliche Übersetzungen. So hatte sich eine Absolventin der Genfer Schule, ethnische Jüdin, als hervorragende Dolmetscherin gezeigt, aber im „Aquarium“ konnte sie kaum ein Wort sagen. Dem Chefdolmetscher sagte sie, sie könne nicht arbeiten, wenn sie die Verbrecher sah, die für die Tod ihrer Nächsten verantwortlich waren. „Diese Personen haben zwölf der insgesamt 14 Mitglieder meiner Familie getötet“, betonte sie.

Die Arbeit der Simultandolmetscher wurde unterschiedlich bezahlt: besonders gut wurden die Dolmetscher entlohnt, die für die Amerikaner arbeiteten. Für die USA waren mindestens 640 Dolmetscher bzw. Übersetzer beschäftigt, für die sowjetische Delegation etwa 40.

Dolmetscherleben im „Aquarium“

Die Simultandolmetscher arbeiteten im so genannten „Aquarium“. Dieser Name ließ sich darauf zurückführen, weil die Dolmetscherkabinen kleine Glaswände und kein Dach hatten. Das „Aquarium“ lag mitten im Sitzungssaal, neben der Anklagebank, und bestand aus vier Drei-Platz-Kabinen. In jeder Kabine saßen drei Dolmetscher, die ihre eigenen Kopfhörer, aber nur ein Handmikrofon hatten.

Für alle Zuschauer waren auch Kopfhörer vorgesehen, damit sie den Redner und die Übersetzung in die offiziellen Sprachen hören könnten. Das war ein Fünf-Kanal-System: Der erste Kanal war für die Originalrede, drei weitere für die offiziellen Sprachen und der fünfte für das Deutsche bestimmt. Die Kopfhörer der Dolmetscher waren nur auf den ersten Kanal eingestellt.

Die US-amerikanische Firma IBM hatte kostenlos die modernsten Anlagen bereitgestellt – das modernisierte System Hushaphone. Dabei kam die US-Regierung nur für die Lieferung und Montage der Anlagen auf.

Am 20. November 1945 fand im Saal Nr. 600 des Justizpalastes die erste Sitzung des Internationalen Militärgerichtshofs statt. An diesem Tag wurde quasi die moderne Simultanübersetzung auf Konferenzen geboren. Um 09.30 Uhr nahmen die Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft und die Rechtsanwälte im Sitzungssaal und die zwölf Simultandolmetscher im „Aquarium“ Platz. Um 09.45 Uhr wurden 20 Angeklagte von Soldaten der US-amerikanischen Militärpolizei eingeführt, und diese nahmen auf zwei Anklagebänken Platz. Um 10.00 Uhr rief ein Gerichtsvollzieher: „Achtung! Aufstehen! Das Gericht tritt ein!“ Den Raum betraten die Richter, und die Sitzung wurde eröffnet. Die Dolmetscher gehörten zu den wichtigsten handelnden Personen des Nürnberger Prozesses. Vom ersten Tag an war ihr ganzes Leben dem strengen Arbeitsplan untergeordnet, den Dostert  ú sein Team erstellt hatten.

Die Übersetzungsabteilung bestand aus fünf Gruppen: 1) Simultandolmetscher (36 Mitarbeiter), 2) konsekutive Dolmetscher (zwölf Dolmetscher aus anderen Sprachen), 3) schriftliche Übersetzer (acht Sektionen aus  je 20 bis 25 Mitarbeitern; 15 bis 18 Übersetzer bereiteten „vorläufige“ Übersetzungen, weitere acht Mitarbeiter redigierten diese; jeder Sektion gehörten zudem zehn Schreibkräfte an), 4) Stenographen (zwölf Mitarbeiter für jede Sprache), 5) Stenogrammredakteure (mehr als 100 Übersetzer redigierten Stenogramme und verglichen sie mit Tonaufnahmen).

Die Zahl der Simultandolmetscher blieb im Laufe des ganzen Nürnberger Prozesses konstant. Die Teams A, B und C (je zwölf Übersetzer) arbeiteten schichtweise. Morgens arbeitete das Team A 85 Minuten im „Aquarium“: In der Kabine saßen Dolmetscher (nach der Zahl der Sprachen). Einer von ihnen dolmetschte und die zwei anderen warteten, bis sie an der Reihe waren. Sobald eine andere Sprache zu hören war, überließ der Dolmetscher das Mikrofon seinen Kollegen.

Die Simultandolmetscher aus dem Team B hat in dieser Zeit Kopfhörer an und verfolgten die Sitzung im benachbarten Raum Nr. 606. Sie waren einsatzbereit für den Fall, dass ihre Kollegen im Sitzungssaal die Arbeit nicht mehr fortsetzen könnten oder grobe Fehler machten. Die Dolmetscher aus dem Team B setzten Glossare zusammen, indem sie sich an der Übersetzung ihrer Kollegen aus dem A-Team orientierten. So wurde ein Glossar von Begriffen erstellt und damit ein einheitlicher Übersetzungsstil gesichert.

Als Beweislage verwendete die Anklage etliche Dokumente in deutscher Sprache. Schriftliche Übersetzer bereiteten ihre Übersetzungen vor, damit ihre Simultankollegen die nötigen Namen bzw. Zahlen zur Verfügung hätten, und überreichten ihnen diese Unterlagen vor der Sitzung. Aber die schriftlichen Übersetzer schafften es nicht immer, und dann bekamen die Simultandolmetscher Kopien in deutscher Sprache und mussten diese Arbeit aus dem Stegreif leisten.

85 Minuten später kam der Schichtwechsel: Das A-Team begab sich in den Raum Nr. 606 und das B-Team ins „Aquarium“. Um 13.00 Uhr verkündete der Gerichtsvorsitzende eine einstündige Pause, und danach setzten beide Teams die Arbeit fort. Das C-Team hatte an dem Tag Ruhetag. Wenn die Mitglieder des C-Teams im „Aquarium“ nicht arbeiten mussten, überprüften sie Stenogramme, halfen den schriftlichen Übersetzern. Zudem gab es geschlossene Beratungen des Tribunals, in denen die Simultandolmetscher die Erfahrungen austauschten.

Zwischen der Kabine der englischsprachigen Dolmetscher und dem Tisch des Gerichtsvollziehers lag der Platz des Schichtleiters der Dolmetscher. Er war für den Betrieb der Dolmetscherausrüstung und Qualitätskontrolle zuständig. Zudem war er Vermittler zwischen den Richtern und Simultandolmetschern. Er hatte zwei Tasten vor sich: die gelbe und die rote. Die gelbe Taste signalisierte dem Vorsitzenden, dass der Redner langsamer sprechen sollte, weil der Dolmetscher das Sprechtempo nicht einhalten konnte oder um eine Wiederholung des Gesagten bat (bei der Simultanübersetzung betrug das optimale  Sprechtempo damals etwa 60 Wörter pro Minute). Die rote Taste signalisierte ein Problem: Entweder musste der Dolmetscher plötzlich husten oder war die Anlage kaputt.

Jedes der drei Teams arbeitete im „Aquarium“ im Durchschnitt drei Stunden täglich und vier Tage pro Woche. Die Gerichtsverhandlungen fanden jeden Tag außer sonntags von 10.00 bis 17.00 Uhr mit einer einstündigen Mittagspause statt. Dieser Arbeitsplan blieb auch nach dem 18. April 1946 unverändert, als Oberst Léon Dostert an der Spitze der Übersetzungsabteilung vom Fregattenkapitän Alfred Steer ersetzt wurde.

Simultanübersetzung der Emotionen

Die meisten Simultandolmetscher, die am Nürnberger Prozess teilnahmen, waren jünger als 30 Jahre, und die jüngste Dolmetscherin war sogar erst 18.

Patricia van der Elst: „Wenn ich zurückblicke, muss ich mich wundern, wie gut wir alle Schwierigkeiten in den Griff bekamen, wie schnell wir neue Fähigkeiten lernten“; Tatjana Russkaja: „Nur unsere Jugend half uns wohl, mit solchen Überbelastungen klar zu kommen…“; Marie-France Skuncke: „Die Qualität der Simultanübersetzung wurde im Laufe des Prozesses immer höher.“

Tatjana Stupnikowa erwähnte in ihrem Buch „Nichts außer der Wahrheit“ eine Episode während des Verhörs von Sauckel: Dieser schrie, als er den Richter von seiner Unschuld überzeugen wollte. „Wir haben das alles richtig und schnell übersetzt, die russischsprachigen Zuschauer hörten in ihren Kopfhörern störungsfrei die Übersetzung. Und plötzlich ist uns etwas völlig Unerklärliches passiert: Als wir unsere Contenance wiedererlangt hatten, vergegenwärtigten wir erschrocken, dass wir in unserem ‚Aquarium‘ von unseren Stühlen aufgesprungen waren und mit einem Kollegen einen heftigen Dialog führten – genauso wie der Dialog zwischen dem Ankläger und dem Angeklagten war. Aber das war noch nicht alles: Mir tat mein Arm weh. Mein Kollege hatte mich am Oberarm geschnappt und wiederholte laut – genauso wie der aufgeregte Ankläger, aber Russisch: ‚Man muss Sie erhängen!‘ Und ich schrie weinend vor Schmerz – genauso wie Sauckel: ‚Man darf mich nicht erhängen! Ich bin ein Arbeiter, ein Seemann!‘ Alle Anwesenden im Saal guckten auf uns und verfolgten die Szene. Ich weiß nicht, wie das alles hätte enden können, wenn es den Gerichtsvorsitzenden Lawrence nicht gegeben hätte, der auf uns mit dem freundlichen Blick Mr. Pickwicks über seine auf die Nasenspitze gerutschte Brille schaute. Ohne lange nachzudenken, sagte er ruhig: ‚Den russischen Dolmetschern ist etwas passiert. Ich schließe die Sitzung‘.“

Unanständige Wörter

Manche Dolmetscher weigerten sich, aus ihrer Sicht unanständige Aussagen zu übersetzen, oder versuchten, diese zu mildern. So erzählte ein Zeuge der Verteidigung über die Lebensbedingungen für Häftlinge eines Arbeitslagers, wo es angeblich eine Bibliothek, ein Schwimmbad und ein Bordell gegeben haben soll. Eine junge amerikanische Dolmetscherin, die diese Aussage ins Englische übersetzte, stolperte beim letzten Wort und schwieg auf einmal. Der Richter Lawrence mischte sich ein und fragte: „Was hatten sie denn da?“ In diesem Moment ließ sich die männliche Stimme des Schichtleiters der Dolmetscher hören: „Ein BORDELL, Herr Richter!“ Manchmal entschieden sich die Dolmetscher für Euphemismen. Bei der Übersetzung der Aussagen eines KZ-Wärters hat eine Dolmetscherin die Worte „Auf die Juden durfte man pinkeln“ so übersetzt: „Auf die Juden musste man gar nicht achten.“  In beiden Fällen wurden die Dolmetscherinnen ersetzt, weil sie nach Auffassung Alfred Steers die Zeugenaussagen wesentlich entstellt hatten.

Wegen des enormen psychologischen Drucks machten die Simultandolmetscher manchmal Fehler. Eine junge sowjetische Dolmetscherin übersetzte beispielsweise die Aussage Görings und verstand nicht den Ausdruck „die Politik des Trojanischen Pferdes“. Sie stolperte und konnte nicht mehr weiter dolmetschen, und der Vorsitzende musste die Sitzung unterbrechen.

Tatjana Stupnikowa: „Manche saßen noch in der Dolmetscherkabine und mussten bei der Übersetzung ins Russische den Sinn jeder Aussage, jeder blitzschnellen Bemerkung maximal präzise wiedergeben – in meinem Fall waren das die Aussagen der deutschsprachigen Teilnehmer des Dialogs, und dabei möglichst Ruhe bewahren, ohne eigene Gefühle und eigene Einstellung zu den Ereignissen zu zeigen… Dann werden Sie verstehen, welchen psychologischen Schwierigkeiten man ausgesetzt wird, wenn man um Himmels Willen plötzlich Teilnehmer einer solchen Veranstaltung wie der Internationale Prozess in Nürnberg geworden ist. (…) Der Ex-Minister (Speer) gab zu, dass er sehr gut verstanden hatte, dass die Arbeiter aus verschiedenen Ländern Europas nach Deutschland wider ihren Willen geschickt worden waren. Aber er sah seine Aufgabe immer darin, dass es solche nach Deutschland verschleppten Zwangsarbeiter möglichst viele geben sollte. Ich muss ehrlich sagen, dass es mir schwer fiel, diese Worte zu übersetzen. Der Angeklagte sagtу: ‚Möglichst viele!‘, und ich bereitete mich schon vor, zu sagen: ‚Möglichst wenige!‘ Oder durfte ich meinen Augen nicht trauen, die mich überzeugten, dass die Person vor mir eine Art Gottesgestalt war, oder dass ich hätte diese schrecklichen Worte falsch verstanden: ‚Ja, man verschleppt sie zwangsläufig, aber man sollte möglichst viele von ihnen verschleppen!‘“

Oft begannen die Angeklagten ihre Aussage mit dem Wort „Ja“, was buchstäblich einem Schuldgeständnis gleichgestellt werden konnte. Der Ankläger fragte beispielsweise: „Haben Sie damals begriffen, dass Ihre Handlungen kriminell waren?“ Und der Angeklagte erwiderte: „Ja…“ Aber in diesem Fall war das „Ja“ eine Art Pausenfüller, den der Angeklagte brauchte, um sich seine Antwort zu überlegen. Peter Uiberall verlangte von den Dolmetschern, sehr vorsichtig mit diesem deutschen Wort umzugehen und es nicht als bejahende Antwort zu übersetzen, solange sie nicht absolut überzeugt waren, dass der Angeklagte tatsächlich der Behauptung des Anklägers zustimmte. „Andernfalls könnte man ihn für schuldig erklären, wobei er das nicht begangen hatte, und aufhängen – und Sie wären schuld daran. Denn sobald das Wort ‚Ja‘ ins Protokoll eingetragen worden war, war die Person, die es gesagt hatte, im Grunde zum Tode verurteilt.“

Und wie verhielten sich die Angeklagten zu den Dolmetschern? Manche von ihnen, beispielsweise Göring und Rosenberg, kritisierten sie oft. Andere zeigten im Gegenteil großen Respekt für die Arbeit der Dolmetscher und wollten ihnen helfen. Vor dem Prozess hatte sich der Häftling Hans Frank bei Gesprächen mit dem Militärpsychologen Leon Goldenson an dessen Dolmetscher Triest mit den Worten „Herr Dolmetscher“ gewandt. Albert Speer schrieb in seinen Memoiren: „Aber im Gerichtssaal sahen wir immer feindselige Gesichter und wurden mit eisigen Dogmen konfrontiert. Die einzige Ausnahme war dabei die Dolmetscherkabine. Von dort aus konnten wir ein freundliches Nicken erwarten.“ Und Hans Fritzsche formulierte sogar „Empfehlungen für die Redner“, die er allen Angeklagten überreichte. So riet er beispielsweise, die Sätze so zu formulieren, dass das Vollverb möglichst am Anfang stehen sollte – das würde das Dolmetschen viel leichter machen. Hjalmar Schacht und Speer halfen oft den Dolmetschern, indem sie ihnen Synonyme für schwierige deutsche Wörter und Wendungen quasi in den Mund legten.

Aus erster Hand: „Zwar ein kleiner, aber ein Erfolg“

Der Schriftsteller Arkadi Poltorak, der im Laufe des Prozesses das Sekretariat der sowjetischen Delegation leitete, lobte in seinem Buch „Das Nürnberger Epilog“ die Arbeit der sowjetischen Dolmetscher:

„Neben der Anklagebank standen vier gläserne Kabinen. In jeder Kabine saßen drei Dolmetscher. Jede solche Gruppe dolmetschte aus den drei Sprachen in ihre Muttersprache – die vierte. Also bestand die Dolmetscherabteilung des Apparats der sowjetischen Delegation aus Experten für die englische, französische und deutsche Sprache, und sie alle dolmetschten ins Russische. So trat einer der Verteidiger auf (natürlich sprach er Deutsch), und das Mikrofon hatte Jewgeni Gofman in der Hand. Der Vorsitzende unterbrach plötzlich den Rechtsanwalt mit einer Frage. Jewgeni überließ das Mikrofon an Tatjana Russkaja. Lord Lawrences Frage wurde übersetzt, und jetzt sollte die Antwort des Rechtsanwalts folgen – und das Mikrofon bekam wieder Gofman…

Aber die Arbeit unserer Dolmetscher bestand nicht nur darin. Das Stenogramm der Übersetzung musste noch gründlich redigiert, mit den Tonaufnahmen verglichen werden, auf denen die russische Rede mit der englischen, französischen und deutschen vermischt war. Und noch mussten tagtäglich etliche deutsche, englische und französische Dokumente übersetzt werden, die die sowjetische Delegation erhielt.

Ja, wir hatten alle Hände voll zu tun, und ich dankte dem Schicksal, dass unsere Dolmetscher nicht nur qualifiziert genug waren (die meisten von ihnen waren ausgebildete Linguisten), sondern auch (und das war genauso wichtig) junge und physisch starke Menschen waren. Dadurch waren sie imstande, die große Belastung zu ertragen. Heute, wenn ich diese Worte schreibe, möchte ich Nelly Topuridze und Tamara Nasarowa, Serjoscha Dorofejew und Mascha Sobolewa, Lisa Stenina und Tanja Stupnikowa, Walja Walizkaja und Lena Woitowa lobend erwähnen. Ihre gewissenhafte und hochqualifizierte Arbeit machte einen wichtigen Teil des Erfolgs des Nürnberger Prozesses aus. Ihnen sind viele sowjetische Historiker und Ökonomen, Philosophen und Juristen zu Dank verpflichtet, die die Möglichkeit haben, denen die großen Archive des Nürnberger Prozesses in ihrer Muttersprache zur Verfügung stehen. (…) Ich muss auch Tamara Solowjowa und Inna Kulakowskaja, Kostja Zurinow und Tanja Russkaja erwähnen. Nachdem sie die Moskauer Hochschule für Geschichte, Philosophie und Literatur absolviert hatten, arbeiteten sie alle mehrere Jahre lang in der Allsowjetischen Gesellschaft für kulturelle Verbindungen mit dem Ausland. Und wir waren mit Stolz gefüllt, als wir verstanden, dass ihre Qualifikation viel höher als die der Dolmetscher aus anderen Ländern war. Wenn unter der endgültigen Fassung eines Stenogramms die Unterschrift von Kulakowskaja oder Solowjowa stand, durfte man hoffen, dass ein künftiger Historiker, der das Nürnberger Archiv untersuchte, keine Einwände haben würde. Außerdem halfen diese Genossen und Genossinnen, die große Erfahrungen im Umgang mit ausländischen Kulturschaffenden hatten, den Mitgliedern der sowjetischen Delegation, sich mit ihren amerikanischen, britischen oder französischen Kollegen zu verständigen.

Wir hatten viel weniger Dolmetscher als die Delegationen anderer Länder. Dabei hatten sie eigentlich viel mehr zu tun als unsere Partner auf dem Prozess. Und da hatten wir alle die Gelegenheit, zu sehen, was das neue, sowjetische Verhalten zur Arbeit bedeutete. Fürst Wassiltschikow, der in Diensten der Amerikaner stand, fragte unsere Simultandolmetscher verwundert: ‚Meine Damen und Herren, warum befassen Sie sich mit der Übersetzung der Dokumente? Sie werden doch dafür nicht bezahlt!‘

Die Simultandolmetscher, die sehr viel Kraft für die Erfüllung ihrer unmittelbaren Dienstpflichten brauchten, waren tatsächlich von allen anderen Übersetzungsarten befreit. Aber Kostja Zurinow und Tamara Solowjowa, Inna Kulakowskaja und Tanja Russkaja konnten nicht gleichgültig bleiben, wenn ihre Kolleginnen wie Tamara Nasarowa oder Lena Woitowa, die sich mit der Übersetzung von Dokumenten beschäftigten, ihre Arbeit kaum noch erledigen konnten.

Unsere ungeschriebene Regel – „man muss den Kollegen helfen“ – kam auch anders zum Ausdruck. Wie ich schon erwähnte, saßen in den Dolmetscherkabinen jedes Landes je drei Dolmetscher. Die Redner traten oft eine Stunde oder sogar noch länger auf. In solchen Fällen arbeiteten die Dolmetscher mit maximaler Belastung, und die zwei anderen durften dabei nicht besonders aufmerksam sein – sie mussten nur darauf achten, dass sie eine Aussage in „ihrer“ Sprache nicht verpassen. Die amerikanischen, englischen oder französischen Dolmetscher lasen in solchen Situationen häufig Bücher oder erholten sich einfach. Und unsere Männer und Frauen hörten immer gemeinsam zu und halfen ihrem Kollegen bzw. ihrer Kollegin, der bzw. die gerade dolmetschte.

Bei der Simultanübersetzung liegt selbst der erfahrenste Dolmetscher dem Redner immer etwas zurück. Indem er eine Phrase zu Ende übersetzt, achtet er schon auf die nächste Phrase. Und wenn die Rede eine lange Liste von Namen oder Zahlen enthält, entstehen dabei zusätzliche Schwierigkeiten. Und dann kamen unseren Dolmetschern immer ihre Kameraden zur Hilfe. Sie schrieben üblicherweise alle Zahlen oder Namen auf dem Papierblatt auf, das vor dem Dolmetscher lag, der gerade dran war, der dann diese Vermerke vorlas, ohne sein Gedächtnis zusätzlich anzustrengen. Das war nicht nur eine Garantie gegen Fehler, sondern war auch aus der Sicht der Kontextur der Übersetzung sehr hilfreich.

Der Gerechtigkeit halber muss ich auch sagen, dass diese Form der kollegialen Unterstützung sich bald auch unter den Dolmetschern der anderen Delegationen verbreitet. Und das war zwar ein kleiner, aber immerhin ein Erfolg unserer Moral!“

 

Jelena Kalaschnikowa