Es wird ein einzigartiges Archiv von Dokumenten angelegt, die von allen Verbrechen der Besatzer auf sowjetischem Territorium zeugen.

Der Direktor des Forschungsfonds „Digitale Geschichte“, Jegor Jakowlew, äußert sich zu den „Unkosten“ der Prozesse gegen die Nazis, zu den Plänen zur Vernichtung des sowjetischen Volkes und zur “Herkömmlichkeit des Völkermordes“.

Der Nürnberger Prozess war zweifellos ein außerordentliches Ereignis in der Geschichte der Menschheit. Er fasste die Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges bzw. des Großen Vaterländischen Krieges zusammen, verurteilte den Nazismus und die Nazi-Hauptverbrecher. Allerdings sollte man nicht vergessen, dass dieser Prozess binnen kürzester Zeit vorbereitet werden musste. Die politischen Gründe dieser Eile waren durchaus nachvollziehbar, aber deswegen wurden in Nürnberg bei weitem nicht alle Dokumente präsentiert, die von den Verbrechen der Nazis zeugten.

Darüber hinaus wurden etliche Führungsfiguren des Dritten Reiches nicht in Nürnberg vor Gericht gestellt, sondern in den Ländern, die unter ihren Verbrechen am meisten leiden mussten. Deshalb wurden ihre Aussagen und einzelne Details dieser „lokalen“ Prozesse nicht bzw. nicht rechtzeitig mit den Unterlagen synchronisiert, die in Nürnberg veröffentlicht wurden. Damit konnte die Weltgemeinschaft keine vollständige Vorstellung vom Umfang der Nazi-Verbrechen bekommen.

Ich denke, dass es die Aufgabe unserer Generation ist, diese Aufgabe bis zu Ende zu führen. In den vergangenen 75 Jahren gelang es Historikern, eine viel umfassendere Datenbank von Unterlagen zu schaffen als die, die den Anklägern in Nürnberg zur Verfügung gestanden hatte. Aber all diese Dokumente sind immer noch vereinzelt: Sie befinden sich in Archiven verschiedener Länder; nur ein Teil von ihnen wurde veröffentlicht, und ins Russische wurden nur sehr wenige Papiere übersetzt.  Es ist offensichtlich, dass es an der Zeit ist, alle solche Dokumente zusammenzufassen, eventuell ins Russische zu übersetzen und mit Kommentaren von Historikern zu versehen.

Welche Dokumente sind in Russland nicht erschienen? Leider wurde bei uns nicht einmal ein kleiner Teil der Unterlagen zum Nürnberger Prozess veröffentlicht. Darüber hinaus wurden bei uns auch nie Unterlagen von sogenannten „lokalen“ Prozessen veröffentlicht, die ich schon erwähnt habe. Der „verdiente“ Nazi-Henker  Erich Koch wurde in Polen vor Gericht gestellt, weil er dort als Gauleiter Ostpreußens zahllose Verbrechen gegen die dortigen Einwohner begangen hatte. Aber Koch war auch der Reichskommissar der Ukraine, und dazu wurde er auch verhört. Aber diese Dokumente erschienen bei uns nie.

Dasselbe gilt auch für die Unterlagen zum Prozess gegen Kurt Daluege, den Leiter der nazistischen Ordnungspolizei, der Himmler sehr nahe gestanden hatte. Als die tschechoslowakischen Patrioten Reinhard Heydrich getötet hatten, wurde Daluege zum amtierenden Prorektor Böhmens und Mährens ernannt. Doch Daluege hatte auch etliche Verbrechen auf sowjetischem Territorium begangen – doch auch über solche Unterlagen verfügen wir nicht. Auch in russischer Sprache wurden sie nie veröffentlicht.

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Besonders traurig ist, dass es keine vollständigen wissenschaftlichen Veröffentlichungen selbst der Ermittlungsunterlagen gibt, die in der Sowjetunion vorbereitet wurden. So haben Soldaten der Roten Armee Friedrich Jeckeln gefasst, der Himmler sehr nahe gestanden hatte und de facto der Vertreter des SS-Reichsführers im Reichskommissariat Ostland gewesen war. Jeckeln wurde im sowjetischen Lettland vor Gericht gestellt und 1946 in Riga hingerichtet. Die Unterlagen zu seinem Fall wurden immer noch nicht vollständig  veröffentlicht, und seine Aussagen über die Kriegsvorbereitung und über die Entfaltung des Terrors in den okkupierten Gebieten wurden nicht mit den Aussagen anderer SS-Leute, auch Dalueges, verglichen.

Angesichts all dieser Fakten haben wir uns für die Umsetzung eines internationalen Projekts unter dem Namen „Unsterbliches Gedächtnis“ entschieden. Seine Ziele sind folgende:

Erstens in einem einheitlichen virtuellen Rahmen alle Dokumente zu den Völkermordsplänen der Nazis in der Sowjetunion zu sammeln, die in ausländischen Archiven aufbewahrt werden.

Zweitens die Unterlagen über die Verbrechen der Okkupanten zu übersetzen und zu veröffentlichen, die früher nur im Ausland veröffentlicht wurden.

Das erste Buch unseres Projekts wird zum 80. Jahrestag des Überfalls Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion erscheinen. Das werden fast 800 Seiten von Unterlagen des Dritten Reiches sowie Zeugenaussagen, Briefe und Tagebücher sein, von denen die meisten in unserem Land nie erschienen sind.

Anhand der Verfügungen der höchsten Staatsführung Hitler-Deutschlands wird völlig offensichtlich, dass sie im Mai 1941 den Plan zum Massenmord am sowjetischen Volk gebilligt hatte. Vor allem wurde dabei auf den Hunger gesetzt, so dass dieser Plan in der westlichen Historiographie als „Hungerplan“ bezeichnet wird. Dass es ihn gegeben hat, haben nach dem heutigen Stand solche bekannten westlichen Historiker wie Christian Gerlach, Alex Key, Adam Tooze usw. anerkannt. Der Ideologe dieses Plans war der Staatssekretär des Ministeriums für Ernährung und Landwirtschaft, Herbert Backe. Backe war einer der führenden Mitarbeiter des sogenannten Wirtschaftsstabs „Ost“, der im Rahmen der Vorbereitung des Überfalls auf die Sowjetunion zwecks Ausbeutung der okkupierten Gebiete gebildet wurde. An der Spitze dieses Stabs stand der offizielle Nachfolger des Führers, Hermann Göring.

Backe verwies darauf, dass das Reich wegen der Seeblockade seitens Großbritanniens am Rande einer Ernährungskrise gestanden hätte. Außerdem wäre es aus logistischen Gründen enorm schwer gewesen, die Armee, die die riesigen Teile der Sowjetunion besetzen würde, mit Lebensmitteln zu versorgen.

Deshalb sollten nach der Besetzung der fruchtbaren Schwarzerdegebiete absolut alle Ressourcen dieser Territorien für die Versorgung der Wehrmacht und des Reiches eingesetzt werden. Die Nazi-Planer machten keinen Hehl daraus, dass diese Politik zum Tod von etwa 30 Millionen sowjetischen Bürgern führen würde, die in den Nichtschwarzerdegebieten lebten, die dann nicht mehr mit Lebensmitteln versorgt werden sollten.

Dieser Plan wurde am Ende nur dank des verbissenen Widerstands der sowjetischen Kräfte und aus einigen anderen Gründen nicht umgesetzt. Aber zu seinen Folgen gehören unter anderem der Hungertod von etwa zwei Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen, der organisierte Hunger in mehreren okkupierten Gebieten (Kiew, Charkow, Gebiet Leningrad) und natürlich die Blockade Leningrads. Um die offizielle Verantwortung für die Ernährung sowjetischer Bürger nicht zu übernehmen, beschloss Hitler, die größten Städte in den sowjetischen Nichtschwarzerdegebieten nicht zu erobern. Diese sollten blockiert werden, und ihre Infrastruktur sollte mit Artillerie- und Luftschlägen zerstört werden, so dass ihre Einwohner aussterben sollten.

Die Fakten beweisen, dass die Blockade Leningrads nicht irgendein Vorfall bzw. militärische Notwendigkeit war. Sie war ein geplanter Völkermord, von dem die Nazis bereits vor Kriegsbeginn erstmals sprachen. Genauso wollten die Deutschen Moskau blockieren und die Bevölkerung der Hauptstadt zum Tode verurteilen. Hitlers Pläne wurden von der Roten Armee torpediert, doch es gab solche Pläne. Man kann dies dokumentarisch beweisen.

Von großem Interesse sind SS-Dokumente aus dem Bundesarchiv, unter anderem die ins Russische nie zuvor übersetzten Reden des SS-Reichsführers Heinrich Himmler, wo er Anweisungen für den Umgang mit der indigenen Bevölkerung gab und dabei äußerst offen war. Hier ist ein anschaulicher Auszug aus der Rede Himmlers auf der Tagung der Befehlshaber der Kriegsmarine in Weimar im Dezember 1943:

Bundesarchiv NS 19/1739
Bundesarchiv NS 19/1739

Denn man müsse eindeutig begreifen – angesichts dessen, wohin man sich in den kommenden Jahrhunderten bewegen werde, bei der Verteidigung und entschlossenem Kampf gegen die Völker, die von Zentralasien und Osteuropa ständig ausgespuckt werden … wenn die wertvollsten Menschen unseres Blutes sich auf der Seite des Feindes erweisen werden, müssen sie ausgerottet werden. Andernfalls würden sie als beste Kommandeure, beste Oberbefehlshaber und beste Anführer, die auf der Seite des Gegners vorgehen, eines Tages unsere Enkel töten, so Himmler.

„Wenn ich irgendwo gezwungen war, in einem Dorfe gegen Partisanen und gegen jüdische Kommissare vorgehen zu lassen -- ich spreche dies in diesem Kreise aus, als lediglich für diesen Kreis bestimmt -- so habe ich grundsätzlich den Befehl gegeben, auch die Weiber und Kinder dieser Partisanen und Kommissare umbringen zu lassen. Ich wäre ein Schwächling und ein Verbrecher an unseren Nachkommen, wenn ich die hasserfüllten Söhne dieser von uns im Kampfe von Mensch gegen Untermensch erledigten Untermenschen groß werden ließe. Glauben Sie mir: Dieser Befehl ist nicht so leicht gegeben und wird nicht so einfach durchgeführt, wie er konsequent richtig gedacht und in der Aula ausgesprochen ist. Aber wir müssen immer mehr erkennen, in welch einem primitiven, ursprünglichen, natürlichen Rassenkampf wir uns befinden“, sagte Himmler. Man sollte ziemlich tapfer vor sich selbst und den Nachkommen sein, um die Gesetze dieser natürlichen Auswahl zu berücksichtigen und nach ihnen zu leben (Bundesarchiv NS 19/4011, S. 106-153).

Interessant sind auch die Materialien des Bundesarchivs, die die Arbeit am Unternehmen Ost betreffen. Danach können die Pläne um die von Nazis ergriffenen Räume verfolgt werden. Mit dem Erhalt der Skizzen der Strategie für die Anfangsphase der Germanisierung der ehemaligen sowjetischen Gebiete gibt Himmler die Anweisung: in das östliche Siedlungsgebiet sollen Litauen, Lettland, Estland, Weißrussland und Ingermanland sowie die ganze Krim und Taurien eingegliedert werden. Die genannten Gebiete sollten komplett germanisiert und besiedelt werden, so Himmler. (Bundesarchiv NS 19/1739).

Uns zur Verfügung stehen auch die in der russischen Sprache veröffentlichten Dokumente, die die Alltäglichkeit der Versklavung und des Genozids offenbaren. Zum Beispiel zwei Dokumente des Reichsministers für die besetzten Ostgebiete Alfred Rosenberg. Das eine Dokument vom 16. März 1942, in dem Rosenberg Besorgnisse über die Sprache der Besatzungsbehörden ausdrückt, die sehr abwertend über die lokale Bevölkerung sprechen – „koloniales Volk, das mit Peitsche wie Neger geführt werden muss“, „slawisches Volk, das man dumm halten soll“, „Kirchen und Sekten schaffen, um sie gegeneinander aufzuhetzen“ u.a.

Die Vorschläge Rosenbergs sind sehr beispielhaft – er ruft dazu auf, über die Pläne der Nazis nicht laut zu sprechen. Die politischen Anführer im Osten sollen stillschweigend dort bleiben, wo die deutsche Politik die Grausamkeit diktiere.

(International Military Tribunal. Trial of the Major War Criminals. Official text, English edition, Nuremberg 1947/49, Vol. XXV, 045-PS).

Das zweite Dokument ist Erich Koch gewidmet, der laut Rosenberg in der Ukraine Jagdreviere für repräsentative Zwecke einrichten wollte. Ursprünglich wollte Koch die Einwohner von einigen Dörfern in eine andere Region verlegen.  Doch die Aussiedlung von allen Bewohnern bereitete große Schwierigkeiten, weshalb einige Bauern einfach vernichtet wurden. Wie Rosenberg an Himmler schrieb, begann die Aussiedlung im Dezember 1942, bereits bei starkem Frost. Hunderte Familien mussten innerhalb einer Nacht all ihr Hab und Gut sammeln, sie wurden in ein anderes, 60 km entferntes Gebiet umgesiedelt. Doch hunderte Menschen in Zuman wurden einfach erschossen, weil sie kommunistisch eingestellt waren. Daran konnten weder Ukrainer noch Deutsche glauben, weshalb in diesem Fall solche Vorgänge gleichzeitig auch in anderen kommunistisch „vergifteten“ Gebieten stattfinden sollen, wenn es tatsächlich um Sicherheit ging. Doch in diesem Gebiet wurde behauptet, dass diese Menschen ohne Urteil erschossen wurden, weil die Zahl der für Umsiedlung bestimmten Menschen einfach zu groß war. Nun sei die Gegend von Zuman vollständig zerstört, dort wurden selbst die Bauern vertrieben. Jetzt stellte sich plötzlich heraus, dass man dorthin, 30 bis 40 Kilometer weit, andere Bauern jagen soll, "um Holz aus der Gegend auszuführen, die bereits ein wahres Paradies für Partisanenbanden wurde“.

(International Military Tribunal. Trial of the Major War Criminals. Official text, English edition, Nuremberg 1947/49, Vol. XXV, 032-PS).

Hannah Arendt schrieb im berühmten Buch  „Eichmann in Jerusalem“ über den Nazi Adolf Eichmann, der für die Vernichtung der Juden verantwortlich war. Eichmann ist ein Beispiel der Genozidpolitik der Nazis.

Wir starten ein globales Projekt. Es liegt auf der Hand, dass es mehrere Jahre in Anspruch nehmen wird. Doch letzten Endes können wir ein einmaliges Archiv der Dokumente über Naziverbrechen schaffen, das die Möglichkeit einer anderen Deutung des Vorgehens der Besatzer in der Sowjetunion ausschließen wird. Zudem werden im Rahmen des Projekts eigene Dossiers für diese Verbrecher erstellt, die Verbrechen in den ergriffenen Gebieten verübten – sowohl für Vertreter von Nazi-Deutschland als auch für Kollaborateure.