Der Chef der Sicherheitspolizei und hochrangige SS-Funktionär Ernst Kaltenbrunner behauptete, von den Verbrechen seiner Behörden nichts gewusst zu haben.

Am 10. Dezember erschien Ernst Kaltenbrunner zum ersten Mal im Sitzungssaal des Nürnberger Tribunals. Die Ärzte hatten ihn nach einer ganzen Reihe von Krankheitsanfällen wieder auf die Beine bekommen. Der Angeklagte Kaltenbrunner musste sich nicht nur für seine eigenen Verbrechen verantworten, sondern auch für die Taten des am meisten verworrenen Elements des bürokratischen Systems des Dritten Reiches – des Reichssicherheitshauptamts (RSHA). Seine Meinung über diesen Mann und die Organisation, an deren Spitze er stand, bringt in diesem Beitrag Pjotr Romanow zum Ausdruck.

RSHA-Führer: Dritter Mann nach Heyndrich und Himmler

Seit den Zeiten des ersten RSHA-Führers, Reinhard Heyndrich, (eines der Autoren der Idee zur „endgültigen Lösung der Judenfrage“, der 1942 im Rahmen einer britischen Operation von tschechischen Patrioten getötet wurde) ist es nun einmal passiert: Er wollte viele Vollmachten und Funktionen anderer alter deutscher Behörden (Abwehr, Polizei usw.) übernehmen, allerdings jeder formellen Verantwortung ausweichen. Die Logik war klar: Erfolge könnte er sich zugute schreiben, und die Verantwortung für Misserfolge sollten dann andere übernehmen. Diese Tradition übernahm später auch Heinrich Himmler, der den Posten des RSHA-Chefs nach Heyndrich übernahm. Und auch Kaltenbrunner folgte diesem Verhaltensmodell.

Ein typisches Beispiel für die Arbeit dieses Systems zeigte die IV. RSHA-Verwaltung – die Gestapo mit dem SS-Gruppenführer Heinrich Müller an der Spitze. De facto war das der wichtigste Bestrafungsdienst, der das Recht hatte, Menschen ohne offizielle Anklage zu verfolgen. Die Gestapo genoss völlige Freiheit – Gerichten war es verboten, sich in ihre Angelegenheiten einzumischen. Dabei durfte der RSHA-Chef (Heyndrich, dann Himmler, dann Kaltenbrunner) natürlich Entscheidungen höchstpersönlich treffen. Aber sie alle zogen es bei der Übernahme dieses Amtes vor, die Vollmacht zur entscheidenden Unterschrift der Gestapo-Führung zu überlassen – also Müller.

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Aber auch Müller durfte nicht befehlen, einen Verhafteten zu töten. Laut Gesetz hatte die Gestapo kein Hinrichtungsrecht. Allerdings starben etliche Menschen, weil sie die Folterungen nicht ertragen konnten, und noch öfter wurden Menschen in Konzentrationslagern umgebracht. Dort war der Tod der Häftlinge quasi legitimiert.

Die Rechtsanwälte in Nürnberg versuchten, diese juristische Unbestimmtheit auszunutzen. Die offensichtlich schuldigen Angeklagten taten alles, um ihre Schuld anderen Diensten bzw. anderen „Auftragnehmern“ zuzuschieben. Als in Israel später Eichmann vor Gericht gestellt wurde, behauptete er ebenfalls, keinen einzigen Juden umgebracht zu haben, weil er als „Verantwortlicher für die endgültige Lösung der Judenfrage“ „nur“ Züge mit Juden in Konzentrationslager verschickt hätte.

Auch der Aufklärungsdienst und die Spionageabwehr, die ebenfalls Teile der RSHA-Struktur waren, hatten eine „verwässerte“ Hierarchie. Allerdings gab es eine Nuance: Müller und der Chef der VI. RSHA-Abteilung, Walter Schellenberg, verhielten sich zu Kaltenbrunner mit Ironie, weil sie ihn für weniger intelligent hielten als sie selbst waren – und deshalb standen sie in Kontakt unter Umgehung des Chefs.

Der Nazi mit der Schramme

Inwieweit sie Recht hatten, ist schwer zu sagen. Wie die Forschungen der Psychologen, die mit den Angeklagten arbeiteten, zeigten, hatten sie fast alle (auch Kaltenbrunner) ein ziemlich hohes IQ-Niveau. Und was Kaltenbrunner angeht, so war er immerhin Doktor der Rechtswissenschaften, und den Grad hatte er noch 1926 in Österreich bekommen, also noch vor der Machtübernahme durch die Nazis.

Auch seine Vorfahren waren offenbar durchaus intelligent: Sein Urgroßvater Karl-Adam Kaltenbrunner war Beamter der Wirtschaftsprüfungskammer in Dichter, sein Großvater Karl Kaltenbrunner war mehr als 20 Jahre lang Bürgermeister der Stadt Eferding und sein Vater war ein erfolgreicher Rechtsanwalt. Ernst Kaltenbrunner studierte Chemie an der Technischen Universität Graz und dann Jura. Später zog er nach Linz, eröffnete dort eine Anwaltskanzlei, heiratete – und wurde ein leidenschaftlicher Anhänger der nationalsozialistischen Ideen. Im Oktober 1930 trat Kaltenbrunner der österreichischen NSDAP bei und im August 1931 wurde er SS-Mitglied.

Viele fanden Kaltenbrunners Äußeres irritierend (und Himmler hatte angeblich sogar Angst vor ihm) – er sah aus wie ein richtiger Rabauke: zwei Meter groß, mit groben Gesichtszügen und vernarbten Wangen. Laut einer Version hatte er sich das Gesicht bei einem Autounfall verletzt. Es gab aber auch eine andere, romantischere: In der Jugend war Kaltenbrunner ein leidenschaftlicher Fechter, und Schrammen galten als bester Beweis für den Mut eines jungen Mannes.

„Er bewegte sich langsam und sah aus wie ein Holzfäller, und sein quadratisches, schweres Kinn, das von seinem starken Charakter zeugte, sein großer Hals, der praktisch mit dem Nacken verschmolz – das alles verstärkte den Eindruck von ihm als einem groben und vulgären Mann noch mehr. Seine kleinen, bohrenden braunen Augen wirkten sehr unangenehm. Wie eine Otter, die ihr Opfer verfolgt, hatte er die Gewohnheit, seinen Gesprächspartner mit den Augen zu durchbohren.“

 

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Augenzeugen erinnerten sich, dass Kaltenbrunner von morgens bis abends trank, Cognac mit Champagner vermischte und gut 100 Zigaretten am Tag rauchte. Also wurde der schlechte Eindruck von seinem Rabaukengesicht wegen der vom Tabak schwarzen Zähne und wegen gelber Finger noch stärker. Jemand erzählte, Kaltenbrunner wäre bärenstark gewesen und konnte ein Hufeisen leicht verbiegen. Seine physische Stärke hatte er offensichtlich von seinen Vorfahren väterlicherseits, die Schmiede gewesen waren.

Österreichisches Trampolin

Dass der RSHA-Führer ein gebürtiger Österreicher war, half ihm, eine erfolgreiche Karriere zu machen. Denn auch Adolf Hitler war immerhin Österreicher. Die Einwohner Österreichs begrüßten massenweise den Anschluss ihres Landes an das Dritte Reich, und es gab dort immer ziemlich viele Beamten, die aus Österreich stammten. In den Reihen der Wehrmacht kämpften im Zweiten Weltkrieg etwa eine Million Österreicher, die sich auch an der „Lösung der Judenfrage“ in Konzentrationslagern intensiv beteiligten.

Kaltenbrunners Vergangenheit galt im Dritten Reich als würdig und ehrenvoll. Noch vor dem Anschluss hatte er heimlich Geld aus Bayern nach Österreich gebracht, um dortige Nationalsozialisten zu unterstützen. 1934 wurde er gefasst und für einige Zeit hinter Gitter geworfen. Im Mai 1935 wurde er wieder festgenommen – diesmal für sechs Monate. Später wurde er dafür mit dem „Blutorden“ ausgezeichnet. Kaltenbrunner war einer der Anführer des Wiener Putsches 1934, als SS-Soldaten, in österreichische Uniformen verkleidet, den Kanzler Engelbert Dollfuß ermordeten.

Nach dem Anschluss bekam Kaltenbrunner im März 1938 das Amt des Staatssekretärs für Sicherheitsfragen – direkt im Arbeitszimmer von Arthur Seyss-Inquart. Als er den in Österreich eingetroffenen Himmler am Flugplatz traf, sagte er, dass die österreichische SS auf weitere Anweisungen warte. Seit dieser Zeit bekleidete er die Führungspositionen in der SS in Österreich – zunächst als SS-Brigadeführer, dann als SS-Gruppenführer. Im Juni war Kaltenbrunner bereits SS-Kommandant und Polizeichef in Wien. Er schuf das größte Aufklärungsnetz in Österreich. 1943 wurde er nach Berlin gerufen.

Chefaufseher von Mauthausen

Formell war der RSHA-Chef nicht für Konzentrationslager zuständig. Doch als Ausnahme blieb unter der Kontrolle Kaltenbrunners das größte KZ-Lager in Österreich – Mauthausen. Das war ein ganzes Lagersystem aus dem Hauptlager und 49 Außenlagern auf dem Territorium des ehemaligen Österreichs. In dieses Lager wurden in der Regel Intellektuelle aus den von Deutschland besetzten Ländern gebracht.

Kaltenbrunner kontrollierte dieses System aufmerksam. Er besuchte sogar das Lager, wo für ihn Schau-Hinrichtungen mit verschiedenen Methoden organisiert wurden – Erschießung, Erhängen und Vernichtung in Gaskammern. Bei seinem Verhör in Nürnberg dementierte er vehement diese Tatsache, obwohl dies auf Aufnahmen dokumentiert wurde.

Allerdings dementierte Kaltenbrunner überhaupt alles in dem Prozess. So behauptete er, dass er bei der „jüdischen Frage“ von Himmler irregeführt worden sei. Dabei wurde aber bewiesen, dass er zusammen mit Hitler, Goebbels, Himmler und Heydrich in einer Sitzung 1940 anwesend war, wo beschlossen wurde, alle Juden, die nicht zu schwerer physischer Arbeit fähig waren, in Gaskammern zu schicken.

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Zudem gab es in jedem Lager politische Abteilungen, die der RSHA direkt unterstellt waren. Der RSHA-Chef bekam regelmäßig Berichte über die Vernichtung der Gefangenen. Wie der Historiker Konstantin Salesski schrieb, wurde im Dritten Reich ein solches „zynisches System geschaffen, dass sich mit der jüdischen Frage die RSHA befasst, die aber angeblich mit der Vernichtung der Juden nichts zu tun hat“.

Kaltenbrunner sagte in dem Prozess, dass seine Unterschrift auf den Dokumenten nur ein „Gummi-Stempel“ sei, der vom Adjutanten gestellt worden sei. Der Gestapo-Chef soll angeblich zahlreiche Dokumente unterschrieben haben, von denen der RSHA-Chef nichts wusste.

In seltenen Fällen ging etwas tatsächlich an Kaltenbrunner vorbei. Manchmal übergab er eine Sache von Anfang an an die Unterstellten. Zudem hatte der RSHA-Chef auch viele andere Funktionen. Es war gerade Kaltenbrunner, der Heydrich als ICPC-Chef ablöste – diese Organisation ist heute als Interpol bekannt (Während der „deutschen Herrschaft“ funktionierte die 1923 gebildete Organisation de facto nicht und wurde erst 1946 wiederbelebt). Zudem gab es auch Fälle, dass seine Unterstellten auf direkte Anweisungen Himmlers vorgingen, ohne ihren Chef darüber zu informieren. Himmler führte insbesondere zum Kriegsende ein eigenes Spiel – er rechnete mit separaten Friedensabkommen mit Alliierten und wollte nicht, dass Bormann und Hitler von seinen Schritten etwas wussten, und Kaltenbrunner richtete sich gerade nach ihnen.

Doch im Ganzen war der RSHA-Chef kein Bürovorsteher im System des Reiches und kam deshalb begründet auf die Anklagebank in Nürnberg. Er beteiligte sich auch an der Entwicklung der bekannten Aufklärungsoperationen. Das Unternehmen Weitsprung zur Vorbereitung des Mordes an Stalin, Churchill und Roosevelt bei der Teheraner Konferenz 1943 wurde von ihm geleitet. Kaltenbrunner machte Hitler mit dem österreichisch-deutschen Diversanten Otto Skorzeny, Drahtzieher vieler Geheimoperationen, bekannt.

Nach der Niederlage der Wehrmacht bei Stalingrad hatte Kaltenbrunner wohl keine Zweifel daran, dass der Krieg im Osten verloren war. Doch er war dem Führer unglaublich treu und blieb bei ihm fast bis zum Ende. Erst ganz am Ende flüchtete er in die Alpen, wurde dort aber von US-Spezialeinheiten aufgespürt.

„Freiheit“ hinter Lager-Stacheldraht

Im Buch „Endgame. Bobby Fischer's Remarkable Rise and Fall “ beschreibt der Autor Frank Brady diese Episode. Der berühmte Schachspieler Bobby Fischer war von Antisemitismus gekennzeichnet und hielt den Holocaust für eine Fiktion. Als er erfuhr, dass in Wien der Sohn Kaltenbrunners wohnt, wollte er sich mit ihm treffen. Ihn interessierte die Frage, ob die Geschichte über die KZ-Lager wahr ist oder absichtlich aufgebläht wurde. Laut dem Buchautor enttäuschte dieses Treffen Fischer, weil der Sohn seines Götzen ein „notorischer Liberaler“ war. Allerdings zeigte Kaltenbrunner auch etwas Interessantes. Das war ein Brief Kaltenbrunners an seine Verwandten, den er im Nürnberger Gefängnis schrieb. Wie sich herausstellte, bezeichnete sich Kaltenbrunner als einen gläubigen Menschen. Er schrieb, dass sein Schicksal in den Händen Gottes sei, er freue sich darüber, dass er sich von ihm nie getrennt habe. Zudem sei er auch ein „Freiheitskämpfer“ gewesen. War es nicht seine Pflicht, die Tür für Sozialismus und Freiheit zu öffnen? – schrieb Kaltenbrunner.

Es gibt natürlich verschiedenen Sozialismus, Kaltenbrunner sprach natürlich von Nationalsozialismus. Zwischen den Wurzeln des Nationalsozialismus, aus denen die NSDAP hervorwuchs, und den Ideen des Faschismus ist eine große Spanne. Doch man weiß sehr gut, welcher „Freiheit“ der Aufseher von Mauthausen die Tür öffnete.