Der 22. November verlief für die US-Chronisten etwas enttäuschend. Die Sitzung war nicht so knackig, wie sie es erwartet hatten.

Die US-Ankläger erzählten, wie sie nach Dokumenten der Entscheidungsträger des Dritten Reichs suchten und Beweise für das Gericht vorbereiteten. Erst nach einiger Zeit wurden einige Details einer umfassenden Operation zum Sammeln von Dokumenten für die Nürnberger Prozesse bekannt. Diese Geschichte könnte sicher als Stoff für einen atemberaubenden Krimi dienen.

700 Menschen für 1000 Tonnen

Den Amerikaner fielen viele wichtige Zeugnisse der Nazi-Regentschaft geradezu in die Hände. Mit dem Vorrücken der Armee in Deutschland stießen sie auf eine unglaublich große Menge von Dokumenten.

„Oft gab es so viele Unterlagen, dass man sie mit unzähligen Lastwagen in ein spezielles Lager bringen musste“, berichtete der stellvertretende US-Chefankläger Robert Storey. „Anfang Juni bat mich Richter Jackson, die Leitung beim Sammeln der dokumentarischen Beweise auf dem Kontinent zur Begründung der Anklage seitens der USA zu übernehmen. Es wurden Feldgruppen unter Leitung des Majors William Coogan gebildet, der Verbindungsoffiziere an den Militärstützpunkten für das Sammeln der Dokumente ernannte. Hunderte Tonnen Dokumente und Schriften des Gegners wurden aussortiert, durchschaut und zur Entsendung nach Nürnberg ausgewählt“.

In jedem US-Armeeverband wurden spezielle Dienste zur „Arbeit mit Dokumenten“ gebildet. Sie mussten Tonnen Dokumente lesen und beschreiben - und jene auswählen, die als Beweis im Gericht dienen könnten. Diese Dokumente mussten noch fotografiert und übersetzt werden. Das alles musste innerhalb weniger Wochen gemacht werden.

Eine dem Oberst Storey untergeordnete Gruppe der Juristen des Militärs – insgesamt 700 - studierte 100.000 Dokumente. Ende September wählten die Amerikaner 1900 Dokumente für das Gericht aus, doch es wurden nur 500 von ihnen detailliert analysiert und 600 übersetzt. Die öffentlichen Anhörungen rückten näher, die Amerikaner gerieten unter Zeitdruck. Im November mussten weitere 40 Stenotypistinnen hinzugeholt werden. Zwei Wochen vor dem 20. November waren weniger als die Hälfte der Dokumente – potentielle Beweise – erst fertig. Im Laufe der gesamten Nürnberger Prozesse durchforstete die dokumentarische Abteilung der US-Anklage weiterhin die deutschen Archive. Zum Ende des Gerichts belief sich die Zahl der Unterlagen, die US-Ankläger in Nürnberg nutzten, auf 2500 Dokumente. Davon wurden dem Militärgerichtshof mehrere Hundert als Beweise vorgelegt.

Wie deutsche Archivare das Dritte Reich verrieten

Bereits 1944 befiehl Berlin den Armee- und Zivildiensten, Archive im Falle einer drohenden Eroberung durch den Feind zu vernichten.  Laut einem britischen Historiker mussten die Archivare nach einer Balance zwischen eigenem Gewissen und Befehlsgehorsam suchen. Letztendlich waren die Deutschen mehr Archivare als Soldaten. Sie waren so sehr an ihre Archive gebunden, dass sie leicht auf Seite des Feindes wechselten – statt sich von wertvollen Akten zu trennen.

Ein riesengroßes Archiv der Luftwaffe wurde in einem Geheimversteck im Gebirge entdeckt und nach London gebracht – zusammen mit dem offiziellen Historiker der Luftwaffe, der seiner Lieblingsbeschäftigung nun bereits in der Hauptstadt des Feindes nachging. Der Chefarchivar des Außenministeriums des Dritten Reichs übergab der britisch-amerikanischen Kommission die Unterlagen und leitete persönlich die Verpackung und Beförderung der Dokumente mit dem Gesamtgewicht von 485 Tonnen. Italienische Kriegsgefangene wurden für deren Transport eingesetzt. Geheime Dokumente wurden auf eigene Initiative von Hitlers Chefdolmetscher übergeben – die Amerikaner bekamen unter anderem eine vollständige Sammlung der Verhandlungen und Korrespondenz Hitlers. 2,5 Tonnen Fotos wurden für die Alliierten persönlich von deren Urheber und Bewahrer – Hitlers Cheffotograf Heinrich Hoffmann - aussortiert.

Das Marinearchiv wurde 1943 aus Berlin nach Hamburg gebracht, um es vor den Bombenangriffen zu schützen. Ein bemerkenswerter Zufall – am nächsten Tag wurde das Gebäude, wo sich das Archiv befanden hatte, von einer Bombe getroffen. Nach der Evakuierung nach Hamburg bekamen Archivmitarbeiter den Befehl, dass im Falle einer Gefahr die Dokumente in ein leeres Schwimmbad gebracht und dort verbrannt werden sollen. Brennholz und Benzin wurden zur Verfügung gestellt. Doch können Archivare mit Berufsehre eine solche Sünde begehen? Archive mit Dokumenten von Mitte des 19. Jahrhunderts verbrennen!? Dazu noch im Winter während des Krieges, als Brennholz und Benzin so teuer waren. Natürlich taten sie das nicht. Zudem war das Kommando auf ihrer Seite – Admiral Karl Dönitz forderte, die Archive den Amerikanern zu übergeben (diese Zuvorkommenheit rettete ihn allerdings nicht vor der Anklagebank in Nürnberg).

Ein weiterer Angeklagter in spe – der Reichsminister für Waffen und Produktion, Albert Speer – kam persönlich zu den Amerikanern mit einem Geschenk – er übergab alle Dokumente über die Rüstungsproduktion, die ihm zur Verfügung standen.

Nicht alle Nazis waren so nett.

„In den letzten Etappen des Kriegs wurden Dokumente in Salzgruben, vergraben im Boden, in Geheimräumen und an vielen anderen Orten entdeckt, die von Nazis als sicher betrachtet wurden“, berichtete Storey vor dem Militärgerichtshof. „Zum Beispiel persönliche Korrespondenz und das Tagesbuch des Angeklagten Rosenberg, einschließlich seiner Korrespondenz über die Angelegenheiten der Nazi-Partei, wurden in geheimen Räumen eines alten Schlosses in Ostbayern entdeckt“.

„In Flensburg wurde das Archiv des Kommandos Heer ausfindig gemacht. Unter den Unterlagen war die berühmte Anweisung Nr. 21 zum Unternehmen Barbarossa. In Hitlers Bunker in den Bayerischen Alpen wurde das Archiv von Hitlers Adjutanten Schmutz entdeckt, in dem der Plan für den „Fall Grün“ zur Ergreifung der Tschechoslowakei aufbewahrt wurde.  Im Keller der Staatsbank in Köln die Briefe von Industriellen an Heinrich Himmler, die ihre Beteiligung an den Verbrechen des Regimes bewiesen. Militärische Ermittler bekamen persönliche Archive der künftigen Angeklagten Franz von Papen und Hjalmar Schacht sowie 40 Bände der Tagebücher von Hans Frank, der später versicherte, er habe sie selbst übergeben“.

Der Sarg von Friedrich dem Großen

Es gab so viele Materialien, dass es manchmal zum Chaos kam. In den Hafendocks von Antwerpen lagen einen Monat lang bis in den Herbst Tonnen nicht identifizierter Papiere. Als man sich jedoch mit ihnen befasste, stellte sich heraus, dass es ein Archiv der deutschen Armee war. Im September wurden im Müll am Stadtrand von München zufällig ein Haufen Papiere gefunden – sie wurden einfach weggeworfen, weil sie nicht als wertvoll betrachtet wurden. US-Militärjuristen stellten fest, dass es sich um eine Kartothek der Nazi-Partei handelte – 9 Mio. Karten.

Viele gesammelte Dokumente wurden von den Amerikanern zur Lagerung in das Marburger Schloss gebracht. Diese Episode der Marburger Geschichte inspirierte die Einwohner der mittelhessischen Stadt, eine Legende zu stricken. So soll ein US-Soldat zum Schloss einen herrenlosen Lastwagen mit drei großen Kasten gefahren haben. Die Mitarbeiter des Depots öffneten die Kisten. In ihnen befanden sich drei Särge mit dem Reichspräsident der Weimarer Republik Paul von Hindenburg (1934 gestorben), Frau Hindenburg (1921 gestorben) und König Friedrich der Große (1786 gestorben).

Nicht nur der Dienst von Robert Jackson war an der schnellstmöglichen Systematisierung der deutschen Archive interessiert. Die von den Reflexionen über Justiz weit entfernten Politiker, Militärs, Aufklärer sahen in dieser Reichhaltigkeit vor allem eine Quelle geheimer Informationen. Oft kam es zu Konflikten zwischen diesen Diensten und auch Institutionen der Alliierten. Es wurde gesagt, dass zur Verurteilung von 24 Verbrechern nur ihre Befragungen und Zeugenangaben ausreichen würden, und Jackson mit der Krämerei um diese Dokumente nur Zeit und Staatsgelder verschwende. Zudem seien Befragungen viel effektvoller als das Vorlesen der Dokumente. Doch der US-Chefankläger war unbeugsam. Die Nürnberger Prozesse waren für ihn ein zwar ungewöhnliches, doch einzigartiges Strafgericht. Er wollte Geschichte schreiben.

Literaturverzeichnis:

  • N. Lebedewa „Vorbereitung der Nürnberger Prozesse“
  • Ann Tusa, John Tusa “The Nuremberg Trial”