Faschistische Besatzer töteten fast 16 Mio. Sowjetbürger

Nach dem heutigen Stand wurden mehr als 2000 Dokumente der Außerordentlichen Staatskommission veröffentlicht - darunter sowohl solche, die bereits zugänglich waren, als auch solche, die vor kurzem als Teil des Moskauer Projektes „Ohne Verjährungsfrist“ offengelegt wurden.

In den Dokumenten sind ausführliche Angaben über menschliche Opfer und materielle Schäden aufgeführt. Die Unterlagen der Kommission beweisen, dass der Nazi-Terror in den besetzten Gebieten planmäßig und systematisch war. Aus der Sicht des heutigen Völkerrechts sind die Taten der Besatzer in der Sowjetunion als Genozid einzuordnen.

Neue deutsche Ordnung

Die Einwohner der okkupierten Gebiete wurden zu Geiseln, die kein Recht auf Gerechtigkeit und Schutz hatten. Bei den deutschen Truppen und Besatzungsverwaltungen herrschte eine allgegenwärtige Straflosigkeit, das Leben der sowjetischen Bürger war nichts wert. Vielleicht deshalb blieben die kleinsten, wenigen menschlichen Züge, die die Deutschen selten zeigten, so tief im Gedächtnis der Opfer haften. Geschichten über einen Schokoriegel als Geschenk für ein Kind, Gruppenfotos mit freundlichen Soldaten u.a. können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Sowjetbürger der Macht der Eroberer hilflos ausgeliefert waren.

Besonders grausam gingen die Sicherheitspolizei und Sicherheitsdienste vor. Insgesamt agierten in der Sowjetunion ab Kriegsbeginn bis zum Ende der Besatzung vier Einsatzgruppen, zusätzlich wurden drei Einsatzkommandos gebildet. Gerade sie waren für die Massenmorde an friedlichen Zivilisten verantwortlich. Außerdem waren SS-Organe und Gestapo, Gegenaufklärung und die Militärkommandantur vor Ort im Einsatz. In den ländlichen Gebieten wurde die Polizei aus Nazi-Kollaborateuren unter deutscher Aufsicht gebildet; in den Städten wurde die „neue Ordnung“ von SS-Einheiten und Überwachungseinheiten, die dem Wehrmachtkommando untergeordnet waren, gesichert.

Die von deutschen Behörden ernannten Bürgermeister, ihre Untergeordneten in den Stadtverwaltungen und Provinz-Leiter sowie Kosakenführer beteiligten sich nicht selten an den Verbrechen. Dabei kooperierten einige von ihnen mit dem antifaschistischen Untergrund. Der ehemalige Kolchos-Vorsitzende im Dorf Dolskaja im Gebiet Orlow, Morosow, bezeichnete sich im Auftrag des NKWD (Vorgänger des späteren KGB) als Kollaborateur und wurde zum lokalen Oberhaupt. Nach der Tötung des Bürgermeisters des Kreises Trubtschewsk, Pawlow, organisierte er eine Partisaneneinheit und übernahm deren Führung. Zum Bürgermeister des Kreises Djatkowski, Gebiet Orlow, wurde mit Zustimmung der Partisanen Kalaschnikow, mit dessen Hilfe die sowjetischen Behörden deutsche Agenten ausfindig machten.

Dokumente der Außerordentlichen Staatskommission berichten von Massenmorden an Menschen in „Totenwagen“ – speziellen Fahrzeugen, in denen Menschen mit Auspuffgasen erstickt wurden. Zum ersten Mal wurde über diese Praxis auf dem Krasnodarer Prozess 1943 berichtet. Danach wurde die Anwendung der „Totenwagen“ in Kiew, Charkow, Minsk, Stawropol, Simferopol und anderen sowjetischen Städten bekannt. Diese Praxis wie auch andere Grausamkeiten der Nazis führten dazu, dass einige deutsche Soldaten und Offiziere auf die Seite der Roten Armee wechselten, so zum Beispiel der Ingenieur der Pioniertruppen Karl Koch auf der Halbinsel Taman im Juli 1943.

…und dann erschossen

Die Nazis töteten vor allem Juden, Sinti und Roma. Oft wurden die Morde mit ungeheuerlicher Grausamkeit begangen. Wie es im Protokoll einer Befragung des Leiters der Besatzungspolizei  des Kreises Monastyrschtschinski im Gebiet Smolensk, Iwan Blinow, heißt, wurde Menschen befohlen, sich vor den vorbereiteten Gräben auszuziehen, sie wurden erschossen. Auf die Leichen der Getöteten legte sich eine weitere Gruppe, die Verletzten wurden zusammen mit den Getöteten vergraben.

Auch Nicht-Juden wurden brutal verfolgt. In den Dörfern Owsjanniki und Kurowjatino, Gebiet Smolensk, peitschten die Deutschen, wütend über die Angriffe der Partisanen, die Einheimischen aus und legten beide Dörfer anschließend in Schutt und Asche. Aus Kurowjatino wurden 150 Frauen, Greise und Kinder vertrieben - erst wurden Hunde auf sie gehetzt, danach wurden sie erschossen.

Man konnte Menschen auch wegen Verstoßes gegen die Ausgangssperre, wegen des Verdachts kleiner Diebstähle oder wenn man sich weigerte, persönliche Sachen bei den deutschen Soldaten abzugeben, verprügeln bzw. töten. Der als Partisan eingestufte Iwan Petrutzki aus der kalmückischen Stadt Elista wurde im September 1942 erst entkleidet, dann heftig verprügelt, ihm wurden die Ohren abgerissen, dann wurde er durch die Stadt gezogen und schließlich erschossen. Laut Augenzeugen hatte Petruzki sich nichts zuschulden kommen lassen. Leichen friedlicher Einwohner wurden mit abgeschnittenen Lippen, Bauch, Brust, Zungen, zerstochenen Augen und abgeschnittenen Ohren gefunden.

Ein verbreitetes Verbrechen in den besetzten Gebieten waren Vergewaltigungen von Frauen. In Stalingrad wurden neben einem deutschen Feldbunker zwei weibliche Leichen mit Stich- und Schusswunden entdeckt. Die beiden Opfer wurden vergewaltigt, die Leichen waren so stark entstellt, dass man sie nicht mehr erkennen konnte. Viele Vergewaltigungsopfer schwiegen darüber, weil sie das als Schande ansahen und Ausgrenzung befürchteten. Frauen wurden gezwungen, als Prostituierte für Soldaten und Offiziere der Wehrmacht zu dienen, wobei ihnen die Verpflegungssätze der Soldaten versprochen wurden. Jene, die Geschlechtskrankheiten hatten, wurden isoliert und oft auch erschossen.

Den Nazi-Ideen über die Vernichtung „minderwertiger“ Menschen folgend, töteten die Besatzer gezielt Psychiatrie-Patienten und Behinderte. Im Dorf Nischne-Tschirskaja im Gebiet Stalingrad wurde ein Kinderheim für geistig behinderte Kinder geplündert, 47 von 85 Kinder wurden weggebracht, davon einige erschossen und andere lebendig begraben. Im Dorf Sapogowo im Gebiet Kursk wurden Patienten eines Psychiatrie-Krankenhauses erschossen, im Dorf Indom im Gebiet Leningrad mindestens 70 Einwohner eines Invalidenhauses erschossen. Anschließend wurden ihre Leichen direkt in einen See geworfen. Dieselbe Tragödie ereignete sich mit 140 Bewohnern des Invalidenhauses „Swoboda“ im Dorf Mogutowo im Gebiet Leningrad. Weitere 50 Bewohner des Heims starben an Hunger – die Besatzungsverwaltung gab ihnen kein Essen mehr.

„Totaler Krieg“ gegen Dörfer

Oft wurden Dörfer selbst bei Verdacht von Verbindungen mit Partisanen und sogar als Präventivmaßnahme in Brand gesteckt. Ortschaften und deren Einwohner wurden teilweise oder völlig vernichtet (wie die Dörfer Toporschtschino, Golowanowo, Podgorje im Gebiet Pskow, Paporotnowo, Perstowo, Potschinok, Bytschkowo und Schuschelowo im Gebiet Nowgorod). Besonders verbreitet war diese Praxis, als im Februar 1943, nach der Niederlage der deutschen Armee in Stalingrad der Propaganda-Reichsminister Joseph Goebbels vom „totalen Krieg“ sprach.

Mit Feuer löschten die Nazis und ihre Helfershelfer nicht nur ganze Ortschaften aus, sondern auch deren Einwohner. Sehr bekannt ist die Geschichte der weißrussischen Siedlung Chatyn, doch es gibt viele andere Beispiele auch in Russland – die Dörfer Nowiny und Garnikowo im Gebiet Leningrad, das Dorf Michisejewa Poljana in der Region Krasnodar, die Dörfer Stilja, Ulu-Sala und Awdschi Koj auf der Krim.

Die nach der Zahl der Opfer größte Bestrafungsaktion des ganzen Zweiten Weltkriegs ereignete sich im Gebiet Tschernigow in der Sowjetrepublik Ukraine. Anfang März 1943 töteten SS-Einheiten, örtliche Polizisten und Soldaten der ungarischen Division knapp 6700 Einwohner des Dorfs Korjukowka (vorwiegend lebendig verbrannt) wegen angeblicher Verbindung mit Partisanen.

Lippen von Kindern mit Gift bestrichen

Eines der schrecklichsten Momente der Besatzung – der Mord an Kindern. Sie kamen bei Massenhinrichtungen und der Vernichtung von Ortschaften ums Leben. Oft wurden sie einfach spaßeshalber vor den Augen ihrer Eltern getötet, wie es bei dem zehnjährigen Jungen Witja der Fall war – einem Gefangenen des finnischen KZ-Lagers in Petrosawodsk.

„Als er im Dampfbad war, wollte er auf die Toilette und fragte mich: „Mama, frag den Herrn Leiter, ob ich das darf. Er nahm Witja an die Hand, führte ihn zum Kessel mit kochendem Wasser und begoss ihn damit. Er rannte wegen der starken Schmerzen auf mich zu und sagte – Mama, es tut unglaublich weh. Danach bat ich, ihn nach Hause mitnehmen zu dürfen. Doch der Soldat führte mich weg und peitsche mich aus. Peitschenhiebe, dann mit Salzwasser begießen, damit es ätzt, und dann wieder. (…) Ich wurde in einen kalten Stall geworfen, ich kam zu Bewusstsein und fragte nach meinem Söhnchen Witja. Doch der Soldat sagte, dass mein Sohn schon im See ertränkt wurde“.

Zeugenangaben von Anastassija Demojewa aus dem Gebiet Leningrad

Der Einwohner Ilja Detinitschew des Dorfes Peredowaja in der Region Krasnodar erzählte, wie Kinder erschossen und mit Blausäure vor den Augen ihrer Eltern vergiftet wurden.

„Dort gab es mehr als hundert Kinder, deren Lippen mit Gift bestrichen wurden - jene, die nicht sofort starben, wurden erschossen“.

Im Dorf Awerin im Gebiet Stalingrad wurden 17 Kinder im Alter von sieben bis 14 Jahren, denen ein deutscher Offizier den Diebstahl einer Zigarettenpackung vorwarf, drei Tage lang ohne Essen gehalten und verprügelt. Nach Verhören und Folterungen wurden die Kinder in ein Fahrzeug gesetzt, zu einer Grube gebracht, wo zehn von ihnen erschossen wurden.

Im Oktober 1942 löschte die Besatzungsverwaltung ein Kinderheim in Jeisk aus: Mehr als 150 Kinder wurden in Lastwagen geworfen, nach außerhalb der Stadt gebracht und dort erschossen. Das war kein Einzelfall. Im Kreis Oredesch (Gebiet Leningrad) verbrannten die Deutschen beim Rückzug ein Waisenheim, wobei 20 Kinder im Feuer starben und sechs weitere später erfroren auf der Straße entdeckt wurden.

Für die Nazis war es kein Problem, „rassisch minderwertige“ Kinder zu töten. Dabei scheuten sie sich nicht, deren Blut für ihre verletzten Soldaten zu verwenden. Bei solchen „Blutspenden“ kamen die meisten Kinder ums Leben – hierzu kann das Beispiel der Häftlinge des KZ „Krasny Bereg“ im weißrussischen Gebiet Gomel genannt werden. Solche Dinge ereigneten sich auch in anderen Lagern.

„Kaum nachvollziehbare Menschlichkeit“

Laut dem „Barbarossa“-Plan sollten aus den besetzten sowjetischen Gebieten maximal mögliche Ressourcen „herausgepresst“ werden. Um die Zivilbevölkerung machten sich die Nazis keine Gedanken, und deshalb verhungerten diese Menschen massenweise. Für die Behörden war das nur günstig – kranke und sterbende Menschen leisteten den Okkupanten keinen Widerstand. Seltene Versuche deutscher Offiziere, sich um die Ernährung der Kriegsgefangenen und der Zivilbevölkerung zu kümmern, galten als „kaum nachvollziehbare Menschlichkeit“.

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Besonders hoch war die Zahl der Hungertoten in den Konzentrationslagern, wo nicht nur Kriegsgefangene, sondern auch Zivilisten gehalten wurden. In Gatschina (Gebiet Leningrad) wurden mindestens 15 000 Menschen eingesperrt. Wegen der schlechten Ernährung, unerträglichen Arbeit und Typhus starben mindestens 3500 von ihnen. Weitere 300 Menschen wurden zu Tode gefoltert. In Karelien, das von finnischen Truppen okkupiert war, wurden spezielle Arbeits-KZ für „zivile Kriegsgefangene“ (Kutischma, Wilga, Kindossow) eingerichtet, deren Häftlinge regelmäßig zusammengeschlagen wurden und die verhungerten.

Ein weiterer Weg zur Ausbeutung der eroberten Gebiete war die Sklavenarbeit: Ihre Einwohner wurden gezwungen, Verteidigungseinrichtungen zu bauen, in Betrieben zu arbeiten und Straßen zu sanieren. Wer sich weigerte, wurde oft getötet. Als es in Deutschland nach einer Reihe von militärischen Niederlagen 1942 plötzlich an Arbeitskräften mangelte, verfügte die Reichsführung, aus der Sowjetunion Zwangsarbeiter nach Deutschland zu bringen. Im Grunde waren sie nichts als Sklaven.

Vor dem Rückzug aus den besetzten Territorien bemühten sich die Nazis darum, möglichst viele Städte und Dörfer zu vernichten und möglichst viele Zwangsarbeiter nach Deutschland zu bringen. Manchmal wurden unter Einwohnern vergiftete Lebensmittel in Umlauf gebracht, damit diese Menschen massenweise starben. Das passierte beispielsweise in der Stadt Georgijewsk in der Region Stawropol. Viele Menschen kamen bei der „Evakuierung“ ins deutsche Hinterland ums Leben.

Vor dem Rückzug bemühten sich spezielle deutsche Einsatzkommandos um die Vertuschung von begangenen Verbrechen, indem sie Massengräber und Leichname beseitigten.

Heutzutage tendieren die meisten Historiker dazu, dass in den besetzten Gebieten mehr als 15,9 Millionen friedliche Zivilisten gestorben sind. Viele von den Nazis begangene Verbrechen wurden nicht offiziell registriert, denn es waren einfach keine Augenzeugen mehr geblieben, die diese bestätigen könnten.

Daniil Sidorow

 

„Die deutschen Okkupanten haben 1710 Städte und mehr als 70 000 Dörfer vollständig oder teilweise zerstört bzw. verbrannt, mehr als sechs Millionen Häuser verbrannt bzw. vernichtet und etwa 25 Millionen Menschen obdachlos gemacht. (…) Sie haben 40 000 Krankenhäuser und andere medizinische Einrichtungen, 84 000 Schulen, Berufsschulen, Hochschulen bzw. Universitäten, Forschungsinstitute und 43 000 Bibliotheken vernichtet bzw. zerstört.“

Mitteilung der Außerordentlichen Staatlichen Kommission vom 12. September 1945.