Medizinische Gutachten: gesund, aber hysterisch

Die große, schlichte Uhr über der Anklagebank zeigte punkt 16 Uhr an. Es war Feierabend am 30. November. Der Gerichtsvorsitzende Sir Geoffrey Lawrence befahl der Wache, alle Angeklagten außer Rudolf Hess aus dem Saal zu geleiten. Das Gericht sollte entscheiden über ein Gesuch des Anwalts Heß’ über die Zurechnungsfähigkeit seines Mandanten, der bereits seit einigen Wochen den Eindruck geistiger Verwirrtheit hinterließ – mal lächelte er leise, mal sprach er. Zudem klagte er über Gedächtnisverlust. Heß inszenierte ein perfektes Spektakel für das Publikum im Gerichtssaal Nr. 600. Andere Angeklagten bedauerten später, dass sie die theaterreife Vorführung von Heß nicht sehen konnten.

Sowjetischer Befund hält Heß für verhandlungsfähig

Sein Anwalt Günther von Rohrscheidt legte keine großen Hoffnungen auf sein Gesuch. Einen Tag vor der Sitzung teilte er Journalisten mit, dass das Gericht kaum zulassen wird, den Prozess wegen Unzurechnungsfähigkeit abzusagen. Aber die Erörterung des Verfahrens bis zur vollständigen Genesung des Angeklagten zu verschieben – das war durchaus möglich. Die Pflicht des Verteidigers im Interesse des Mandanten jeden möglichen Anlass zu nutzen, bestimmte sein  Vorgehen vor Gericht. Vier Anlässe boten dazu Gelegenheit – vier medizinische Befunde über den psychischen Zustand des Angeklagten. Das Problem bestand darin, dass man das Gericht von der Richtigkeit der Deutung der medizinischen Gutachten durch den Anwalt und nicht durch die Staatsanwälte überzeugen muss.

Als Verteidiger kam Rohrscheidt zu dem Schluss: sowohl auf Grundlage der Analyse dieser Gutachten als auch im Zusammenhang mit seinen persönlichen Erfahrungen aus den Gesprächen mit Heß, hindert sein Zustand ihn daran, an diesem Prozess teilzunehmen.

Anschließend erklärte er überraschend, dass der Angeklagte meine, dass er imstande sei, am Prozess teilzunehmen und dem Gericht dies selbst mitteilen werde.

Der Vorsitzende des Militärgerichtshofs Lawrence nahm ebenfalls Einblick in den Text der medizinischen Befunde.

„Ich möchte eine Frage an Sie stellen“, fragte er den Anwalt. „Bedeutet es nach Betrachtung aller medizinischer Befunde, dass der Angeklagte den Verlauf des Gerichtsprozesses mitbekommt und das einzige Manko im Gedächtnisverlust, der die Periode vor seinem Flug nach England betrifft, besteht?“.

Im Mai 1941 war Heß nach England geflogen, um die Briten zu einem separaten Frieden zu bewegen. Doch er wurde sofort festgenommen, und befand sich seitdem ständig in verschiedenen Gefängnissen.

Rohrscheidt versuchte, seine Deutung der Gutachten aufzudrängen. Den Experten zufolge sei sein Mandant nicht in der Lage, sich entsprechend zu verteidigen, Fragen an Zeugen zu stellen und den Gerichtsprozesses in Gänze zu verfolgen. So wurde es laut Rohrscheidt in allen Befunden außer den sowjetischen formuliert.

Daraufhin kam der sowjetische Chefankläger Roman Rudenko zu Wort und drückte die gemeinsame Ansicht der Ankläger aller vier Mächte aus:

„Die Details der vergangenen Periode, an die sich Heß nicht erinnern kann, werden den Militärgerichtshof nicht besonders interessieren. Am wichtigsten ist, was die Experten in ihrem Befund betonen, und woran sie keine Zweifel haben, und was bei der Verteidigung von Heß nicht den Zweifel auslöst, dass Heß zurechnungsfähig ist. Und weil dem so ist, wird Heß vor dem Internationalen Gerichtshof geladen. Wegen dieser Angaben bin ich der Meinung, dass das Gesuch der Verteidigung als unbegründet zurückgewiesen werden soll“.

Ergo: Heß ist zurechnungsfähig. Doch kann man einen Menschen verurteilen, der sich an nichts erinnert? Der französische Richter Henri Donnedieu de Vabres verdächtigte Heß, sich hinter einem Gestrick aus Lügen zu verstecken.

„Ich möchte fragen, zu welcher Periode gehört der tatsächliche Verlust des Gedächtnisses bei Heß?“, wandte er sich an die Ankläger. „Er behauptet, dass er Ereignisse vergisst, die vor länger als 15 Tage stattfanden. Ist das nicht ein böswilliges Simulieren? Ich möchte erfahren, ob Heß tatsächlich die Fakten vergessen hat, die in der Anklage dargelegt sind?“.

Der Franzose hatte Recht – Heß hat es gelernt, seine Amnesie zu seinen Gunsten zu nutzen.

„Heß befindet sich im Stadium freiwilliger Experimente mit seinem Gedächtnisverlust“, sagte der US-Chefankläger Robert Jackson.

„In England sagte er angeblich, dass er den Gedächtnisverlust früher simuliert hatte. Nach einiger Zeit in England behauptete er nicht mehr, dass er Gedächtnis verloren hat. Später begann er wieder damit. Jetzt ist es natürlich schwer zu sagen, an was sich Heß erinnert und an was nicht“

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Der Anwalt ging davon aus, dass der Trick mit der Unzurechnungsfähigkeit nicht aufgeht. Doch die Amnesie ist geblieben. Ärzte boten Heß eine Behandlung an, doch er lehnte diese ab. Anwalt Rohrscheidt hatte dafür eine Erklärung parat: Experten würden Heß vorwerfen, er wolle bewusst nicht behandelt werden, nur weil er sich als gesund und fähig zur Teilnahme am Prozess ohne diese Behandlung betrachtet.

Allerdings war dieses Argument ziemlich schwach. Heß befürchtete angeblich, dass die Ärzte seine psychische Gesundheit verschlechtern werden. Der fehlende Wunsch, behandelt zu werden, sei nicht mit einer böswilligen Absicht des Angeklagten verbunden. Er habe Angst vor negativem Einfluss der Injektionen und sei der Ansicht, dass dies dazu führen könne, dass er an diesem Prozess nicht teilnehmen könne, so der Anwalt.

Dem Anwalt fiel es nicht leicht, rationelle Aspekte in der wirren Logik seines Mandanten zu finden. Rohrscheidt unternahm den letzten Versuch. Der Angeklagte habe ihm gesagt, dass er gegen eine medizinische Intervention sei. Das stimmte in der Tat, denn Heß war während der Nazi-Zeit Anhänger einer  homöopathischen Behandlung und gründete sogar ein Krankenhaus, wo Behandlungen nicht auf medizinischen Eingriffen, sondern auf natürlichen Heilpraktiken basierten.

Robert Jackson sagte darauf:

„Diese Polemik zeugt von einer seltsamen Form des Gedächtnisverlustes. Anscheinend konnte Heß seinem Anwalt über seine Haltung zur Medizin erzählen, die zur Periode des Nationalsozialismus gehört. Doch wenn wir ihn nach den Verbrechen, an denen er beteiligt war, fragen, erinnert er sich nicht daran“.

Der Anwalt versuchte sich zu rechtfertigen – von dem Krankenhaus habe er nicht von Heß erfahren, sondern schon früher gehört. Doch es war zu spät. Die vier medizinischen Expertisen halfen der Anklage, die Verteidigung verfügte nur über die sich zum Teil widersprechenden Äußerungen von Heß, die der Anwalt dem Gericht nicht überzeugend darlegen konnte.

„Auch wenn wir annehmen, dass er sein Gedächtnis vollständig verloren hat und sich an nichts davon erinnert, was vor seiner Heranziehung zur Verantwortung war, obwohl ihm der gesamte Verlauf des Prozesses vertraut ist, denken Sie, dass er verurteilt werden sollte?“, sagte US-Richter Francis Biddle.

„Ja, ich denke, dass er verurteilt werden sollte“, sagte der britische Ankläger David Maxwell Fyfe. „Wenn ein Mensch zum Beispiel nach einem Autounfall wegen Mord bzw. ernsthaften körperlichen Verletzungen unter Verdacht steht, sagt er oft, dass er wegen dieses Unfalls sich schlecht daran erinnert, was zum Zeitpunkt des Unfalls war. Niemals behauptete jemand, dass dieser Fakt daran hindern kann, dass dieser Mensch vor Gericht gestellt wird“.

Die Diskussionen dauerten rund anderthalb Stunden. In dieser Zeit saß Heß regungslos auf seinem Stuhl. Nur zu Beginn der Rede seines Anwalts, schrieb er einen Zettel für ihn und bat den Wächter, ihn zu übergeben. Der Wächter weigerte sich.

Als die Argumente der Seiten ausgeschöpft waren und es im Saal still wurde, meldete sich Heß plötzlich zu Wort. Den Angeklagten waren Wortmeldungen bislang nie erlaubt worden. Sie wurden im Voraus benachrichtigt, dass sie sich während des Verhörs und nicht während der Erörterung der Gesuche äußern dürfen. Das Gericht erlaubte ihm dennoch, zu sprechen. Rudolf Heß war der erste Angeklagte von Nürnberg, der öffentlich vor Gericht sprach.

Heß sagte, er wolle am weiteren Verlauf des Prozesses teilnehmen und auf der Anklagebank zusammen mit den anderen sitzen.

„Ab nunmehr steht mein Gedächtnis auch nach außen hin wieder zur Verfügung. Die Gründe für das Vortäuschen von Gedächtnisverlust sind taktischer Art. Tatsächlich ist lediglich meine Konzentrationsfähigkeit etwas herabgesetzt. Dadurch wird jedoch meine Fähigkeit, der Verhandlung zu folgen, mich zu verteidigen, Fragen an Zeugen zu stellen oder selbst Fragen zu beantworten, nicht beeinflusst. Ich betone, dass ich die volle Verantwortung trage für alles, was ich getan, unterschrieben oder mitunterschrieben habe. Meine grundsätzliche Einstellung, dass der Gerichtshof nicht zuständig ist, wird durch obige Erklärung nicht berührt. Ich habe bisher auch meinem Offizialverteidiger gegenüber den Gedächtnisverlust aufrechterhalten, er hat ihn daher guten Glaubens vertreten.“

Diese Episode wurde im Buch „Nürnberger Tagebuch“ vom Augenzeugen der Ereignisse in Nürnberg, Boris Polewoi, beschrieben: „Heß steht auf, beißt auf die Lippen, streicht mit der Hand durchs dünne Haar, und wartet, bis ein Mikrofon vor ihn  gestellt wird“.

Die Erklärung von Heß sorgte für großes Aufsehen.

„Unsere westlichen Kollegen rennen sofort zu den Telefonen und Telegrafen, die Sensation Nummer eins zu übermitteln“, schrieb Boris Polewoj.

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„- Welche Häßlichkeit, welche Kleinkrämerei!

-      Und was habt ihr von den Faschisten erwartet? Von diesen Monstern!.. Diesen Bastarden!... Diesen Unmenschen“, sagte Winschnewski.

Mit diesen Worten endete die Gerichtssitzung am 30. November. Am darauffolgenden Tag, am Samstag, las Lawrence den Beschluss des Gerichtshofs vor – der Angeklagte Heß bleibt vor Gericht, das Gesuch seines Anwalts abgelehnt.

Spektakel

„Als ich Dr. Rohrscheidt später in der Halle traf, war er völlig perplex und wusste nicht, ob sein Mandant vorher oder jetzt geblufft hatte“, schreibt US-Gerichtspsychologe Gustave Gilbert in seinem Buch „Nürnberger Tagebuch“. 

„Sein Gedächtnis war vollkommen in Ordnung, und er konnte Fragen über seine Haftzeit, seinen Flug nach England, seine Stellung in der Partei und sogar über seine Jugend beantworten“, so Gilbert.

Am nächsten Tag vor Beginn der Gerichtssitzung berichteten US-Gerichtspsychologen einigen Angeklagten von der plötzlichen Genesung von Heß. „Göring war zuerst ungläubig, brüllte dann aber vor Vergnügen, weil er glaubte, dass Heß damit dem Gerichtshof und den Psychiatern einen Streich gespielt hatte. Er war sich nicht sicher, ob die Wiederherstellung des Gedächtnisses echt war (…).Göring fragte auf der Anklagebank Heß, ob er wirklich simuliert hätte und ob er sich tatsächlich an alle Einzelheiten seines Fluges nach England erinnern könnte. Heß berichtete detailliert  mit sichtlichem Vergnügen und rühmte sich, wie geschickt er beim Start, beim Niedrigflug, beim Blindflug und der Fallschirmlandung gewesen sei. «Von welcher Höhe sind Sie abgesprungen?» He prahlte, es sei ganz schön tief gewesen – ungefähr 200 Meter. Als sich Göring im Gerichtssaal umblickte und bemerkte, dass Heß jetzt im Mittelpunkt stand, hörte er allmählich auf, den Streich mit dem simulierten Gedächtnisschwund auszukosten. Heß fand es wundervoll“, schrieb Gilbert.

Anschließend reichte Rohrscheidt noch einige Gesuche zur medizinischen Untersuchung von Heß ein, doch alle wurden abgelehnt. Letzten Endes nahm Heß seinem Anwalt übel, dass er beharrlich versucht hatte, ihn als unzurechnungsfähig darzustellen. Ab dem 5. Februar 1946 hatte er einen anderen Anwalt – Alfred Seidl, der bereits einen anderen Mandanten in Nürnberg hatte – Hans Frank. Frank wurde übrigens auch beinahe zum Anwalt und Angeklagten in einer Person. Alfred Rosenberg wollte ihn „einstellen“, doch der Militärgerichtshof ermöglichte das nicht.

Heß verdankt in gewissem Sinne Seidl sein langes Leben. Ohne dessen Anstrengungen hätte er gehängt werden können und wäre nicht ins Berliner Gefängnis Spandau verlegt worden. Seidl setzte sich stark für seinen Mandanten ein  - nicht nur wegen seiner beruflichen Pflicht, sondern auch aus ideologischen Gründen. Der Nazi-Anhänger in der Jugendzeit wurde nach dem Krieg ein rechter Politiker in Westdeutschland und eine bedeutende Figur unter den Revisionisten. Seidl blieb Anwalt von Heß bis zu dessen Tod  im Jahr 1987.

Juli Ignatjewa

 

Inhaltsverzeichnis:

S. Miroschnitschenko „Stenogramm des Nürnberger Prozesses“, Band II.

 

Hintergrund

Befund der Psychiater: Zurechnungsfähig, mit schlechtem Gedächtnis

Amerikanisch-französischer medizinischer Befund vom 20. November 1945:

„Rudolf Heß leidet an Hysterie, die durch einen teilweisen Gedächtnisverlust geprägt ist. Der Gedächtnisverlust wirkt so, dass er ihn nicht daran hindert, den Verlauf der Ermittlungen zu verstehen, doch er hindert ihn daran, auf Fragen zu antworten, die seine Vergangenheit betreffen und in diesem Zusammenhang ihn daran hindern können, sich zu verteidigen.“

Sowjetischer medizinischer Befund vom 17. November 1945: „Aus psychischer Sicht ist Heß ziemlich zurechnungsfähig. Er weiß, dass er sich im Gefängnis von Nürnberg befindet und als Kriegsverbrecher angeklagt wird, er las und wie er selbst sagte, kennt die gegen ihn erhobene Klage. Er antwortet auf die Fragen schnell und sachlich. Seine Rede ist fließend. Seine Gedanken sind genau und richtig formuliert, begleitet von emotionalen Gesten. Zudem wurden keine Erscheinungen festgestellt, die auf seinen Paralogismus hinweisen (…) Zudem soll betont werden, dass die jetzige psychiatrische Untersuchung, die von Leutnant Dr. med. Gilbert durchgeführt wurde, zeigt, dass die geistlichen Fähigkeiten von Heß normal sind und in einigen Fällen über einem durchschnittlichen Niveau liegen, seine Bewegungen sind natürlich und fließend … Das ist eine Reaktion (über Amnesie – Anm. d. Red.) einer instabilen Person auf Ereignisse, die wegen des Scheiterns seiner Mission und anschließender Festnahme vorkamen. Diese Erscheinungen zeigten sich und verschwanden je von den äußeren Umständen, die den geistlichen Zustand von Heß beeinflussten … Der Gedächtnisverlust von Heß ist nicht ein Ergebnis einer psychischen Erkrankung, sondern eine hysterische Amnesie, deren Grundlage im unterbewussten Streben nach Selbstverteidigung liegt … Und in der absichtlichen Tendenz, das zu erreichen. Solche Erscheinungen verschwinden oft, wenn vor einer hysterischen Person die unvermeidliche Notwendigkeit entsteht, normal zu handeln. Deswegen kann die Amnesie von Heß enden, wenn er vor Gericht gestellt wird.“

Einschätzung des Psychologen Gustave Gilbert.

„Alles Vorhergehende ergibt einen Schlüssel zu seiner hysterischen Reaktion auf eine Vorstellung, die eine Katastrophe für sein Ego war. Vom Führer als verrückt abgewiesen suchte er zwar Zuflucht in der Gedächtnisleere, taucht aus dieser aber wieder auf, um dieselbe Zurückweisung von seinen alten Freunden zu vermeiden.“