Legaler Kampf der NSDAP erwies sich als bewaffneter Raubüberfall

Am Nachmittag des 22. November beschrieb der US-Ankläger Frank Wallis die „legalen“ Schritte der NSDAP an die Machtspitze. Das Publikum im Saal Nr. 600 hatte diese Ereignisse großenteils noch im Gedächtnis. Doch der Ankläger erläuterte sie, indem er seine Argumente mit Dokumente Hitlers und der NSDAP begründete, insbesondere mit den geheimen Protokollen.

Nach dem gescheiterten Bierbräu-Putsch im November 1923 in München, als Hitler mit Maschinengewehren und Tätern der Pogrome einen Staatsstreich versuchte, um dann „nach Berlin“ zu ziehen (dieses Kapitel ihrer Geschichte bezeichnen die deutschen Nazis ehrenvoll als „Revolution“ und die von Polizisten getöteten Täter der Pogrome als „Märtyrer“), landeten die Verschwörer hinter Gittern. Dort begann Hitler die Arbeit an seinem Buch „Mein Kampf“ und überlegte sich legitime Wege an die Macht.

Zwischen 1925 und 1930 nahmen die Nazis an insgesamt 30 Parlamentswahlen verschiedener Ebenen teil. 14 Mal bekamen sie keinen einzigen Platz in den Legislativgremien. Bei der Reichstagswahl 1927 stimmten nur vier Prozent der Deutschen für die NSDAP – eine Lappalie.

Der erste Erfolg kam 1929 in Thüringen, wo die Nazis sechs von insgesamt 53 Sitzen bekamen, und der künftige Nürnberger Angeklagte Wilhelm Frick wurde zum Thüringer Innenminister ernannt. Zu dem Zeitpunkt war er schon ein Jahr lang Mitglied des Reichstags, wohin er im Namen einer anderen Partei gewählt worden war. Als Vertreter der Exekutive organisierte Frick eine bürokratische Operation, dank der der Österreicher Hitler die deutsche Staatsbürgerschaft bekam.

In den Augen der Nachkommen wurde Frick nicht zu einem „Star“ des Dritten Reiches wie Göring oder Himmler, aber seine Verdienste (genauer gesagt, seine Schuld) waren nicht geringer als die der zwei erwähnten Personen. Frick war zehn Jahre lang deutscher Innenminister – und derjenige, der diese Behörde den Bedürfnissen der NSDAP und Hitlers persönlich anpasste. Und dennoch war er nicht gut genug für den Führer: 1943 wurde Frick durch Himmler ersetzt – und nach Prag „verschoben“.

Nach dem Sieg in Thüringen fühlten sich die Nazis beflügelt und bemühten sich noch intensiver um neue Anhänger, die sie gegen „Feinde“ aufhetzten. Zudem verhärteten sie allmählich die Konstruktion der NSDAP. Die Nazis waren dermaßen aggressiv, dass die Weimarer Republik sie nicht mehr ignorieren konnte. In Preußen riefen die Behörden die Beamten mit NSDAP-Mitgliedschaft auf, die Partei zu verlassen, und es wurde ihnen verboten, braune Hemden zu tragen. Dasselbe passierte auch in Baden-Württemberg. In Bayern wurde jede „politische“ Kleidungsform verboten.

Aber für Hitlers Partei waren das nichts als Mückenstiche. Bei der Reichstagswahl 1930 bekam die NSDAP schon 107 von 577 Sitzen. Das war schon viel, aber noch keine Mehrheit – und schon gar nicht die in der Verfassung vorgesehene Zwei-Drittel-Mehrheit. Dabei strebte Hitler ausgerechnet die Verfassungsmehrheit an: Er verstand, dass nur ein legitimer Regierungssturz ihm den Weg an die Machtspitze ebnen würde.

Hitler brauchte eine neue Wahl. Die Nazi-Fraktion behinderte konsequent die Arbeit des Reichstags – mit Geschrei, mit Skandalen, mit Bulling und verschiedenen Straßenaktionen. Der Reichskanzler Heinrich Brüning, der ein großer Altruist und Intellektueller war und den Spitznamen „Der arme Brüning“ hatte, konnte einer solchen Kraft nicht widerstehen. Die Nazis provozierten eine Regierungskrise, und den Kanzlerposten übernahm statt des Demokraten Brüning von Papen – der künftige Angeklagte in Nürnberg. Er rief eine neue Reichstagswahl aus, bei der die NSDAP 230 von 608 Sitzen bekam.

Aber auch das war zu wenig. Es folgten neue Skandale und eine neue Krise. Von Papen, wie auch sein Vorgänger, musste den Platz räumen, und im selben Jahr 1932 fand noch eine Wahl statt, die der Hitler-Partei überhaupt nur 196 Sitze brachte. Nach dem Verlust so vieler Sitze sahen die Nazis ein, dass sie unter Umständen die politische Bühne überhaupt verlassen könnten. Hitler verstand offenbar, dass Reden und Märsche allein nicht genügten, um die Macht in die eigenen Hände zu bekommen. Er verabredete sich mit von Papen und bot dem Reichspräsidenten, General von Hindenburg, die Vereinbarung: Hitler sollte zum Reichskanzler und von Papen zu seinem Vize ernannt werden. Dann würde sich die Situation im Reichstag wieder beruhigen, und Hitlers Parteigenossen würden die Machtspitze unterstützen.

Am 30. Januar 1933 ernannte Hindenburg Hitler zum Reichskanzler der Weimarer Republik. Weniger als zwei Monate später, am 24. März, verabschiedete der Reichstag das von den Nazis verfasste Ermächtigungsgesetz, dem zufolge die ganze Macht, auch die Legislative, dem Reichskanzler Hitler überlassen werden sollte. Im Saal waren bewaffnete SA- und SS-Kämpfer anwesend. Von 647 Abgeordneten waren nur 535 zur Abstimmung gekommen – die anderen boykottierten die Sitzung oder wurden verhaftet bzw. getötet. Mit diesem Gesetz wurde der Verfassungssturz in Deutschland vollendet. Binnen  zweier Monate wurden im Land die Opposition, die Pressefreiheit und das Bundesprinzip zerstört. Der gesamte politische Apparat wurde der NSDAP untergeordnet, die ab jetzt als einzige politische Partei in Deutschland galt.

Ankläger Wallis: „Hitler hatte allen Grund, weniger als fünf Monate nach seiner Ernennung zum Kanzler zu sagen (ich darf zitieren): ‚Die Partei wurde zum Staat‘.“

Aus der Satzung der NSDAP:

„In Deutschland kann es nur Organisationen geben, die dem Führerprinzip und dem Prinzip der nationalsozialistischen Wahrnehmung des Staates und Volkes treu sind, die Teil der Partei sind, von der Partei gegründet wurden, von ihr beobachtet werden und solche auch künftig bleiben sollen. Alle anderen, die ihre Selbstständigkeit als Organisationen beibehalten wollen, sollten als fremde verfolgt werden: Sie haben sich entweder zu fügen oder aus dem Gesellschaftsleben zu verschwinden.“

Es wurden auch Zeugenaussagen angeführt. Wallis las die schriftliche Aussage von Raymond Geist, der damals US-Konsul in Berlin gewesen war: „1933 wurden unverzüglich Konzentrationslager eingerichtet, die der Gestapo untergeordnet wurden. In den Konzentrationslagern wurden nur politische Häftlinge gehalten. (…) Als die NSDAP die ‚Wahl‘ im März 1933 gewann (am 5. März fand ohne die fast vernichtete Opposition die Abstimmung statt, wobei die NSDAP wieder keine Mehrheit bekam, sondern „nur“ 43,9 Prozent der Stimmen – Anm. d. Autorin), begann die allgegenwärtige Verfolgung der Kommunisten, Juden und anderen Menschen. Horden von SA-Mitgliedern gingen durch die Straßen und schlugen Passanten zusammen, von denen viele sogar starben.“

Damals zählten die SA-Truppen etwa 600.000 Mann, die über Schusswaffen, darunter über Maschinengewehre, verfügten. Ein Jahr später stieg diese Zahl auf drei Millionen – das war eine Armee, die zahlenmäßig stärker als die regulären Streitkräfte war. Und während die Reichswehr Hitler als Regierungschef untergeordnet war, hatte die SA ihre eigenen Führer. Diese Gefahr konnte der Reichskanzler unmöglich ignorieren. Dann kam er auf eine Idee: Unter dem Vorwand der Unterbindung eines SA-Putsches sollte dieses gefährliche Heer vernichtet werden. Damit wurde die von der NSDAP kontrollierte Struktur beauftragt – die SS.

Am Vortag der Eröffnung der Gerichtsverhandlungen in Nürnberg machte der Angeklagte Frick eine schriftliche Aussage über die „Nacht der langen Messer“ am 30. Juni 1934: „Viele Menschen wurden verhaftet, und etwa 100 oder vielleicht noch mehr wurden wegen Landesverrats hingerichtet. Sie wurden einfach auf der Stelle getötet. Viele wurden getötet – ich weiß nicht, wie viele, aber getötet wurden auch solche Menschen, die mit dem Putsch nichts zu tun hatten. Das waren Menschen, die einfach nicht gemocht wurden. Zum Beispiel der frühere Reichskanzler Schleicher. Seine Frau wurde auch getötet. Dann Gregor Strasser, der (…) die zweite Person in der Partei nach Hitler war.“

Am 2. August 1934 starb der 86-jährige Reichspräsident Hindenburg. Hitler erklärte, dass Hindenburg (rein zufällig!) einen Tag vor seinem Tod ein Gesetz unterzeichnet hätte, dem zufolge die Präsidialmacht im Falle seines Todes der Reichskanzler übernehmen sollte. Am 19. August fand in Deutschland, das zu dem Zeitpunkt voll und ganz von den Nazis kontrolliert wurde, ein Volksentscheid statt, bei dem 84 Prozent der Menschen für die Machtübergabe an den Kanzler stimmten. Hitler erklärte sich selbst zum Führer. Dabei hatte er keine einzige Wahl gewonnen.

Aus einem Medienauftritt Hans Franks:

„Das Führerprinzip bei der Verwaltung sieht folgendes vor: Die Entscheidung der Mehrheit muss immer durch die Entscheidung einer Persönlichkeit ersetzt werden, deren Jurisdiktion genau bestimmt ist und die nur der Person gegenüber verantwortlich ist, die über ihr steht.“

Julia Ignatjewa