So sah Nürnberg bei der Ankunft der Mitarbeiter des Militärgerichtshofs aus

Als geeigneter Ort für den Militärgerichtshof bot sich Nürnberg mit seinem intakten Justizpalast samt Gefängnis an. In der unmittelbaren Umgebung lag die Stadt jedoch in Trümmern, in denen sich Ratten tummelten, während bettelarme und hungrige Deutschen nach Essensresten und Zigarettenstummeln suchten.

Jackson fuhr mit Hitlers Limousine und Ribbentrops Mercedes durch die Stadt

Am 17. August trafen in Nürnberg aus Berlin kommend die künftigen Teilnehmer des Prozesses ein – der sowjetische Richter Iona Nikitschenko, der US-Chefankläger Robert Jackson, der britische Chefankläger Hartley Shawcross und der Vertreter der französischen Anklage, der Völkerrechtsprofessor André Gros. Sie sollten die Lage in der Stadt einschätzen, vorrangige Aufgaben bestimmen, um im November ein Gerichtsverfahren einzuleiten.

Auf den ersten Blick war Nürnberg für diese Prozesse geradezu prädestiniert. Der Justizpalast war intakt. Das Grand Hotel, wo ein bedeutender Teil des Personals untergebracht werden konnte, war fast unbeschädigt vom Krieg geblieben. Einige Residenzen am Stadtrand waren auch nicht zerstört. Jackson bezog Quartier in einer dieser Residenzen – mit Tennisplatz und Klavier sowie mehreren Dienstwagen, darunter die gepanzerte Limousine Hitlers und Ribbentrops Mercedes.

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Trotz der vorhandenen Unterkünfte und Limousinen fehlte es an Infrastruktur, um einen reibungslosen Verlauf der Nürnberger Prozesse zu gewährleisten. In Nürnberg waren die Wasserleitungen und die Kanalisation, Verkehr und Verbindungen sowie Stromleitungen außer Betrieb. Statt in Geschäften wurde unter der Hand gehandelt. Fast bis zum Ende der Nürnberger Prozesse war der Justizpalast beinahe der einzige Ort, an dem die Kommunikation und die Versorgung gewährleistet waren.

Die US-Richter Francis Biddle und John Parker waren sich nicht besonders sympathisch, doch sie wurden durch die Administration des Militärgerichtshofs zusammen mit dem Personal in einem Privathaus untergebracht. Die Sekretärin Biddles erinnerte sich daran, dass sie vor allem Strom vermisste, um abends lesen und schreiben zu können. Biddle scherzte, dass ein simpler Wasserkocher den Alltag erleichtern würde.

Es dauerte einige Zeit, bis Möbel, Geschirr, Bettwäsche, Kissen und andere Haushaltsgegenstände in die Residenzen geliefert wurden. Auch die Lebensmittelversorgung passte den anspruchsvollen Amerikanern nicht, die daran gewohnt waren, jeden Morgen Milch und Eier zum Frühstück zu haben. Biddle schrieb vergeblich Beschwerden an die Militärführung - die Ressourcen der Armee waren nahezu aufgebraucht.

Die britischen Vertreter des Militärgerichtshofs sehnten sich nicht so sehr nach Eiern und Milch, sondern nach Spirituosen. Selbst eher deplatziert anmutende Anfragen bei den US-Besatzungsbehörden schafften keine Abhilfe. Danach schickten sie entsprechende Schreiben an britische Institutionen, sogar ans Außenministerium in London. Als das Oberhaupt des Herzogtums Lancaster von diesem Problem erfuhr, schickte er drei Kisten Gin und anschließend jede Woche Whiskey nach Nürnberg.

Zwei Monate nach Kriegsende liegen noch verweste Leichen herum

Die Stadt selbst bot ein schreckliches Bild. Der Karikaturist der Zeitung „Iswestija“, Boris Jefimow, als er schon 101 Jahre alt war, teilte seine Erinnerungen: „Diese museale Stadt, in der ganzen Welt bekannt, die nach hunderten Jahren noch wie im Mittelalter aussieht. Alle diese Gebäude, Kathedralen, Kirchen – das alles war wie früher, der Unterschied war nur, dass die Deutschen nicht mittelalterlich, sondern moderner europäisch gekleidet waren. Diese Stadt war dafür bekannt, Kinderspielzeug herzustellen – was könnte schöner, attraktiver als Kinderspielzeug sein? Mit Nürnberg ist der Name des großen Künstlers Albrecht Dürer verbunden. Sein Haus war übrigens neben schrecklichen Ruinen der Stadt unversehrt geblieben. Über Nürnberg schuf Wagner eine Oper. Das war etwas Gehobenes, Attraktives. Und plötzlich ist Nürnberg ein schrecklicher Ort. Sie können sich nicht vorstellen, wie dieser Stein-Dschungel aussah. Wir mussten jeden Morgen aus dem Hotel, wo wir untergebracht waren, zum Prozess laufen, der im Verwaltungsgericht, einem riesigen Gebäude, verlief.“

Der Chefdolmetscher der US-Anklage, Richard Sonnenfeldt, war bereits im Oktober in Nürnberg eingetroffen. „Unsere Kolonne drängte sich durch das endlose Labyrinth der Trümmer, an Kellern und unterirdischen Bunkern vorbei, wo auch zwei Monate nach dem Kriegsende der Gestank der verwesten Leichen zu riechen war“, schrieb er. „Beißender Gestank von früheren Bränden und Schießpulver hing in der heißen Sommerluft. Selbst bei Tageslicht jagten knochige Katzen Ratten unter den zerfallenden Ruinen.“

Der Chef der sowjetischen Dolmetscher, Oleg Trojanowski, kam einen Tag vor den Gerichtsanhörungen nach Nürnberg. „Ich bin in Nürnberg am 19. November, kurz vor Prozessbeginn, eingetroffen“, schreibt Trojanowski in seinem Buch. „Die Stadt macht einen deprimierenden Eindruck. Die britisch-amerikanischen Bombenangriffe haben das gesamte historische Zentrum in Trümmer verwandelt. Niemand wohnt dort und kann nicht wohnen, nur ab und zu kamen aus den Trümmern der Häuser riesige Ratten.“

Frauen stürzten sich wie Möwen auf Zigarettenstummel

Nürnberg war nicht ausgestorben – in der Stadt lebten immer noch 175 000 Menschen. Genauer gesagt, sie kämpften ums Überleben. Augenzeugen erinnerten sich an den Rauch über den Trümmern, wo sich obdachlos gewordene Menschen versteckten.

Richard Sonnenfeldt: „Die meisten deutschen Männer im wehrpflichtigen Alter, die überlebt hatten, waren jetzt Kriegsgefangene. Ab und an begegneten wir mal einem Greis, mal einem einbeinigen oder einarmigen Veteranen, der Ziegelsteine aus den Trümmern stapelte. Auf den Straßen liefen schwer erschöpfte deutsche Frauen aller Altersgruppen – sie waren hungrig, grau, mit schmutzigen Haaren, und versuchten, in dieser Verwüstung zu überleben. Ich warf aus dem Fenster meines Jeeps einen Zigarettenstummel – sofort rannten drei Frauen zu dem Stummel, als wären sie Möwen, die Brotbrösel aufschnappen wollten.“

Die Geschichte mit den Zigarettenstummeln hatte übrigens eine Fortsetzung. Einmal sah er eine Menschenschlange vor dem Nebeneingang zum Justizpalast. Die Menschenschlange zog sich durch das ganze Stadtviertel. Ein Sergeant am Eingang erklärte einem Dolmetscher, dass all diese Menschen gekommen waren in der Hoffnung, als Putzkräfte angestellt zu werden. Ich dachte sofort: „Warum, dachte ich, wollen sie denn diesen dienenden Hilfsjob?“ Aber am Ende jedes Tages waren die Aschenbecher immer mit Zigarettenstummeln gefüllt, und die Putzkräfte sammelten den nicht verbrannten Tabak ein, den sie dann rauchten oder tauschten.

Kurze Zeit später konnte Sonnenfeldt auch selbst den wahren Wert des Geldes und des Tabaks im Nachkriegs-Nürnberg begreifen. Er wurde in einem erhalten gebliebenen Einfamilienhaus am Stadtrand untergebracht. „Die deutschen Hausbesitzer durften oft in ihrer Häusern bleiben – im Keller oder in der Garage, damit sie die Räume reinigen und die Bewohner bedienen konnten“, schrieb er. „Die meisten von ihnen waren vor dem Krieg wohlständige Kaufleute oder qualifizierte Fachkräfte gewesen, und jetzt passten sie sehr peinlich auf ihr Eigentum auf. Für ihre Arbeit wurden sie mit Seife, Kaffee, Zigaretten, Schokolade bezahlt, und in Nürnberg war das 1945 viel wertvoller als Geld.“

Viel zu hungrig, um an die Justiz zu denken

Die Mitarbeiter des Tribunals, von denen viele selbst am Krieg teilgenommen hatten, machten in ihren Erinnerungen keinen Hehl aus ihrem Interesse für deutsche Zivilisten: Was waren das für Menschen, warum haben sie ihr Land in diese schändliche Lage geraten lassen? „Mein Vermieter hatte früher einen Bücherladen, der später zerstört wurde, und er nahm sich sehr viel Zeit, um mir zu erklären, warum er nie ein aktiver Nazi gewesen war“, schrieb Richard Sonnenfeldt. „Als er verstand, dass ich Jude war und in Deutschland aufgewachsen war, vermied er dieses Thema und fand andere Wege, um meine Zuneigung zu gewinnen. (…) Wie die meisten Deutschen, mit denen ich sprach, gab er am Ende zu, dass er der NSDAP beitreten musste, um einfach sein Geschäft zu retten.  Es ist ja bemerkenswert, wie viele Nazis im Nachkriegs-Deutschland neben den Juden ‚verschwunden‘ waren!“

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Der Leibwächter des sowjetischen Chefanklägers, Roman Rudenko, der noch sehr junge Josef Gofman, betrachtete Nürnberg aus der Sicht dessen Vorkriegsruhmes. „Im bekannten Nürnberger Stadion hatte Hitler grandiose Militärparaden abgehalten“, schrieb Gofman. „Unter den Tribünen aus grauem Stein ragte die zentrale Tribüne heraus, von der Hitler an den Tagen der faschistischen Versammlungen den marschierenden Truppen und Sturmbannern zuschaute. Hier gab er ihnen Anweisungen zur Eroberung  fremder Länder und zur Vernichtung von ganzen Völkern. An solchen Tagen wurde die Stadt durch das Gestampfe von Tausenden Soldatenstiefeln erschüttert. Und abends waren die Straßen mit brüllenden Teilnehmern der Fackelzüge gefüllt. An den Tagen der Nürnberger Prozesse war das Stadion leer, aber Touristen und viele Teilnehmer der Prozesse ließen sich an der Stelle, wo einst Hitler gestanden hatte, fotografieren. Auf der zentralen Tribüne zeigte ein breiter dunkelblauer Pfeil von unten nach oben, wo Hitler gestanden hatte. Ich habe mich auch einmal in diesem berühmten Stadion fotografieren lassen.“

Der 22-jährige US-Soldat Richard Sonnenfeldt zeigte Verständnis für die ungerechte Situation, in der sich die zivile Bevölkerung befand.

„An ihrer (der deutschen Kriegsgefangenen) abgerissenen Uniform erkannte ich, dass viele von ihnen Soldaten der SS-Truppen, der elitären Abteilungen von Heinrich Himmler, gewesen waren“, so Sonnenfeldt. „Zwei Monate nach der Niederlage waren sie nun am Leben, unversehrt und satt, mit Zigaretten und Kaltverpflegung der US-Armee versorgt. Sie konnten Kaffee trinken und sich mit Seife waschen. Und ihre Mitbürger, friedliche Einwohner, mussten sich eigenhändig Rüben und Kartoffeln besorgen, sich mit Ersatz-Kaffee und Surrogaten von allen anderen Gütern begnügen und um Zigarettenstummel kämpfen, die aus dem Fenster eines Jeeps geworfen wurden.“

An einem von diesen Tagen gelang es einem Korrespondenten der US-Armeezeitung „Stars and Stripes“, mit einem Nürnberger Einwohner über den Militärgerichtshof zu sprechen, der seine Arbeit in der Stadt erst aufgenommen hatte. „Wir sind viel zu hungrig, um an die Justiz zu denken. Der Tod wäre ein viel zu schönes Ende für diese Schweine“, bekam der Reporter zu hören.

Julia Ignatjewa

Literaturquellen:

  • Alexander Swjaginzew, „Nürnbergs Internationaler Kriegsgerichtshof“
  • Oleg Trojanowski, „Durch Jahre und Entfernungen“
  • Josef Gofman, „Nürnberg warnt“
  • Richard Sonnenfeldt, „Witness to Nuremberg“
  • Ann Tusa, John Tusa, “The Nuremberg Trial”