75 Jahre Nürnberger Prozesse
Einige bezeichnen den Nürnberger Prozess als ein Gericht der Sieger und folglich als Rachejustiz. Inwiefern trifft diese Bezeichnung zu? Diese Sputnik-Frage wurde während einer Online-Konferenz von dem Vizepräsidenten der Internationalen Vereinigung der Staatsanwälte (IAP), Alexander Swjaginzew, beantwortet.
Dabei berief er sich auf Ewald Behrschmidt, Vizepräsident des Oberlandesgerichts Nürnberg a. D.:
„Ich sagte zu ihm, machen wir reinen Tisch. Nemo judex in propria causa. Keiner kann Richter über sich selbst sein. Dies war eindeutig keine Rache. Ich habe diese Frage vielen amerikanischen, italienischen, französischen und britischen Kollegen gestellt. Sie alle, einschließlich Behrschmidt, gaben zu, dass der Nürnberger Prozess juristisch angemessen war.“
„Uns Deutschen schien anfänglich, es wäre ein Prozess der Sieger gegen die Besiegten“, so Behrschmidt. „Die Deutschen waren auf Rache, aber nicht auf den Triumph der Gerechtigkeit gefasst. Doch fiel das Ergebnis des Prozesses anders aus. Die Richter hatten alle Tatumstände sorgfältig ausgelotet und nach Wahrheit gesucht. Alles war aus rechtlicher Sicht genau ausgewogen, und die Herangehensweise war differenziert.“
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Ähnlich sieht es laut dem russischen Juristen auch Peter Küspert, Präsident des Oberlandesgerichts München und des Bayerischen Verfassungsgerichtshofes, der in einem Gespräch mit ihm die Gerechtigkeit dieses Gerichts bestätigt hat. Der Nürnberger Prozess wird auch „Völkergericht“ genannt. Neben den Alliierten hatten sich ihm weitere 19 Staaten angeschlossen. „So muss derjenige, der von Rachejustiz spricht“, urteilt Swjaginzew, „die Unterlagen des Nürnberger Prozesses schlecht oder gar nicht gelesen haben. Bei dem internationalen Forum in Moskau, das am 20. und 21. November stattfinden soll, und zu dem Gäste aus 30 Ländern kommen, wollen wir auch diese Frage erörtern.“
„Die Leitvorstellung der Sowjetunion war die Durchführung eines offenen, öffentlichen und objektiven Prozesses. Daher gab es im Verhandlungssaal mehr Journalisten als Zeugen und Prozessteilnehmer. Denen, die ihren Opfern nie eine Chance gelassen hatten, wurde die Gelegenheit geboten, sich zu verteidigen. Jeder erhielt einen Rechtsanwalt, und die Anzahl der Zeugen, die sie geladen hatten, war doppelt so groß wie bei der Anklage. Der Nürnberger Prozess gibt Stoff zum Nachdenken darüber, was, wie und warum es geschehen ist. Diese Analyse werden auch wir bei unserem Forum detailliert vornehmen.“
Swjaginzew erinnert sich auch an sein Gespräch mit dem tschechischen Präsidenten Miloš Zeman, der meinte: „Wir dürfen die 150.000 Rotarmisten nimmer vergessen, die für die Befreiung unseres Landes gefallen sind. Wären wir nicht befreit worden, gäbe es uns Tschechen nicht, bestenfalls würden wir in Konzentrationslagern leben und deutsch reden.“ Der russische Jurist zitiert Bertolt Brecht: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem es kroch.“
„Auch haben wir bis heute mit Erscheinungen neonazistischer Art nicht aufgeräumt und müssen uns ihnen aktiv widersetzen.“
„Wir beobachten die Wiederbelebung der braunen Pest im postsowjetischen Raum“, fährt der Staatsanwalt fort. „Seit gut zehn Jahren bringt unser Außenministerium bei der UN-Generalversammlung jährlich ein Dokument ein, mit dem die Verherrlichung des Nationalsozialismus verurteilt werden soll. Am 18. Dezember des vergangenen Jahres haben die Vereinten Nationen dieses Dokument mit 112 Stimmen unterstützt. Zwei Staaten, die USA und die Ukraine, votierten dagegen, gut 50, einschließlich einiger EU-Mitglieder, enthielten sich der Stimme. Dieses Papier beinhaltet aber die Missbilligung des Nationalsozialismus, darunter auch der Waffen-SS und derjenigen, die mit ihr kollaboriert haben, aber auch der Fackelzüge und der gesamten einschlägigen Symbolik.“
Häufig hört man, die fremdländischen Verbände der SS-Truppen (die lettische SS-Ostlegion, die ukrainische Waffen-Grenadier-Division der SS Halytschyna („Galizien“) u. a. m.) wären von dem Tribunal in Nürnberg nicht für verbrecherisch erkannt worden, da sie im Wortlaut des Urteils nicht vorkommen. Das Tribunal brauchte aber alle 38 SS-Divisionen nicht namentlich aufzuzählen. In der Urteilsschrift heißt es deutlich:
„Bei Behandlung der SS schließt der Gerichtshof alle Personen ein, die offiziell als Mitglieder in die SS aufgenommen worden waren, einschließlich der Mitglieder der Allgemeinen SS, der Mitglieder der Waffen-SS, der Mitglieder der SS-Totenkopfverbände und der Mitglieder aller verschiedenen Polizeikräfte, welche Mitglieder der SS waren.“
Somit gelten ausnahmslos alle Angehörigen der Waffen-SS-Verbände ohne Unterschied des Namens und der nationalen Zusammensetzung des entsprechenden Verbands als Mitglieder einer verbrecherischen Organisation.
„Das Nürnberger Tribunal verfolgte den höchst pragmatischen Zweck, festzulegen, wer und wofür (abgesehen von den notorischen Führern des Dritten Reiches) anhand des Kriegsergebnisses zu bestrafen war“, meint Swjaginzew. „Der Internationale Militärgerichtshof hatte, vor allem für die nationalen Gerichte, den Personenkreis abzustecken, die wegen ihrer Mitgliedschaft in einer nationalsozialistischen Organisation gerichtlich belangt werden konnten. Dies war eben der Sinn der Einstufung der einen oder anderen Organisation als ,verbrecherisch‘ aus rechtlicher Sicht. Dabei bedeutete es nicht eine Verurteilung aller ihrer Mitglieder. Der Nürnberger Prozess lieferte eine Grundsatzentscheidung für das Völkerrecht. Seine Hauptlehre war die Gleichheit aller vor dem Gesetz, einschließlich der Generäle und Politiker.“
Nikolaj Jolkin