Wie der Verteidiger Vater und Sohn Krupp vor der Verurteilung bewahrte.
Der erste Austausch von Anträgen zwischen Klägern und Verteidigern bei den Nürnberger Prozessen endete mit dem Sieg der Anwälte. Zudem drohte im „angelsächsischen“ Segment der Klage eine Spaltung. US-Hauptankläger Robert Jackson überschätzte seinen Einfluss auf den Militärgerichtshof – trotz seiner eindeutigen Verdienste bei der Organisierung des internationalen Gerichtsprozesses. Bei der vorläufigen Anhörung am 14., 15. und 17. November strich das Tribunal Gustav Krupp von der Anklageliste und erlaubte nicht, ihn durch seinen Sohn Alfried Krupp zu ersetzen.
Gehirnerweichung
Der 75-jährige Industrielle und größte Waffenlieferant für das Dritte Reich wurde als einer der ersten in die Anklageliste aufgenommen. Zu Beginn des Prozesses war er bereits in Haft, aber nicht im Nürnberger Gefängnis, sondern in einem „zivilen“ Gebäude, umsorgt von Ärzten und Familienmitgliedern. Krupp war gelähmt, nicht transportabel und vielleicht auch schon geistig verwirrt.
Am 5. November beauftragte das Gericht eine medizinische Kommission, seinen Zustand zu untersuchen. Die Kommission bestand aus sechs Ärzten. Die Hälfte kam aus der Sowjetunion, darunter der Mitgründer der sowjetischen Gerichtspsychiatrie, Jewgeni Krasnuschkin. Im Befund der Kommission hieß es unter anderem:
„Nach der einstimmigen Meinung leidet Gustav Krupp von Bohlen an altersbedingter Gehirnerweichung, sein psychischer Zustand erlaubt es ihm nicht, die gerichtlichen Untersuchungen zu begreifen und an den Befragungen teilzunehmen, sein physischer Zustand lässt es nicht zu, ihn ohne Lebensgefahr zu transportieren.“
Sein Zustand werde sich weiterhin verschlechtern, hieß es.
Krupps Anwalt forderte, seinen Mandanten von der Anklageliste zu streichen. Die Anklage, vertreten durch Robert Jackson und Vertreter der Sowjetunion und Frankreichs, reagierten mit einem Gegengesuch, dessen Sohn Alfried Krupp zur Verantwortung zu ziehen, ohne die Punkte der Anklage zu ändern. Zudem hofften sie, dass Gustav Krupp zumindest in seiner Abwesenheit verurteilt werden könnte.
Vom 14. bis 17. November fand im Saal Nr.600 eine drei Tage dauernde vorläufige Anhörung statt, bei der beschlossen werden sollte, was mit den Krupps geschehen soll. Anwalt Theodor Klefisch war nicht viel jünger als sein Mandant Gustav Krupp. Er begann seine Karriere noch unter Kaiser Wilhelm II. 1933 kam er gleich nach der Machtübernahme durch Hitler zur Gestapo. Allerdings hinderte ihn das später nicht daran, Artikel über Probleme des rechtlichen Schutzes von Angeklagten angesichts der rechtlichen Neuerungen der Nazi-Behörden zu veröffentlichen, welche Experten zufolge viel Kritik enthielten.
Da Krupp am 4. Dezember 1944 einen Autounfall erlitten hatte, sprach er fahrig. In den letzten zwei Monaten erkannte er nicht einmal mehr seine Verwandten und Freunde, sagte Theodor Klefisch vor Gericht. Krupp hätte keine Angaben darüber, dass am 19. Oktober eine Klage gegen ihn erhoben wurde. Ob ein gerechtes Urteil garantiert werde, wenn der Angeklagte, dessen Fall in seiner Abwesenheit nicht bezüglich seiner Schuld erörtert werde, nicht imstande sei, sich selbst zu verteidigen, seinen Anwalt zu informieren und sogar nicht wisse, warum ihm überhaupt etwas vorgeworfen wird? Die Antwort sei „Nein“.
US-Hauptankläger Robert Jackson reagierte kategorisch auf das Gesuch des Opponenten. Er wurde beauftragt, im Namen seines Landes sowie Frankreichs und der Sowjetunion vor Gericht zu treten.
„Ich berücksichtige in vollem Maße die Schwierigkeiten, die dem Tribunal von dem angesehenen Vertreter des deutschen Rechtsberufs, der die Interessen Krupps vertritt, dargelegt wurden“, sagte Jackson.
„Nichts, was von mir als Einspruch zu diesem Gesuch formuliert wird, ist auf Kritik an Krupps Verteidiger gerichtet, der sich bemüht, die Interessen seines Mandanten gemäß seiner Pflicht zu vertreten. Doch die Interessen seines Mandanten sind absolut klar. Wir vertreten drei Nationen der Welt, von denen eine dreimal mit den Waffen Krupps angegriffen wurde (Frankreich – Anm. d. Red.), eine andere Nation war im Osten so stark betroffen wie kein anderes Volk bei dem militärischen Zusammenstoß (die Sowjetunion – Anm. d. Red.), und die dritte Nation überquerte dreimal den Atlantik, um den Kampf, der durch den deutschen Militarismus ausgelöst wurde, möglichst zu beenden (die USA – Anm. d. Red.).“
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Bezüglich der Reaktion des Vorsitzenden britischen Richters Geoffrey Lawrence waren einige US-Forscher schockiert: „Ich habe eine letzte Frage an Sie“, wandte sich Lawrence an Jackson.
„Ist es im Interesse der Justiz, einen Menschen schuldig zu sprechen, der wegen seiner Erkrankung nicht imstande ist, seine Verteidigung angemessen zu führen?“
„Ich würde eindeutig sagen, dass es nicht im Interesse der Justiz ist, einen Menschen für schuldig zu erklären, der sich nicht angemessen verteidigen kann. Doch ich denke nicht, dass dies eine Untersuchung in Abwesenheit nicht angemessen ermöglicht. Das ist eine umstrittene Frage. Die Taten, die wir ihm zur Last legen, sind entweder dokumentiert oder allgemein bekannt (…). Mir scheint einzig wichtig zu sein, dass er nicht imstande ist, selbstständig Aussagen zu seinem Schutz zu geben. Doch ich bin mir nicht sicher, dass er das möchte, auch wenn er da wäre.“
Klefisch machte seinen Opponenten auf eine „Ungenauigkeit“ aufmerksam: „Es wurde betont, dass Gustav Krupp in Abwesenheit gerichtet werden kann, weil alle Beweise seiner Schuld bereits vorgelegt wurden und kein Geheimnis sind. Das widerspricht den Fakten. Wir sahen bislang nur einen Teil der Beweise – was in den Unterlagen enthalten ist. Doch aus dem Büro Krupps und seinen privaten Wohnorten wurden Lastwagen mit Unterlagen beschlagnahmt, und wir haben nichts davon gesehen. Es ist schwer, die Verteidigung zu organisieren, wenn alle Unterlagen beschlagnahmt sind (durch die US-Anklage – Anm. d. Red.). Nur der Angeklagte Gustav Krupp kann zumindest irgendwie die Unterlagen beschreiben, die für die Verteidigung notwendig sind. Damit man sie in der üblichen Form eines Gesuchs dem Hohen Gericht und als Beweise vorlegen könnte.“
Drei gegen einen
Die Anklage schätzte wohl von Anfang an die Aussichten einer Verurteilung des handlungsunfähigen Menschen in seiner Abwesenheit skeptisch ein. Als der Befund der Kommission bekanntgegeben wurde, entstand unter den Anklägern die Idee, Gustav Krupp durch seinen Sohn zu ersetzen, um zumindest jemanden von der Krupp-Familie zu verurteilen. Auch hier kam es zur Spaltung unter den Staatsanwälten. Ein Gesuch, gegen Alfried Krupp zu prozessieren, wurde von den Briten nicht unterzeichnet.
„Zwischen den zwei Weltkriegen war der Angeklagte Krupp von Bohlen und Halbach Verwalter, und sein älterer Sohn Alfried wurde in dieser Zeit über die Geschäfte ausführlich informiert – in der Hoffnung, dass er die Familientradition fortsetzen würde“, begründete Robert Jackson sein Gesuch.
„Seine Dienste waren dermaßen herausragend, dass diese Betriebe vom Nationalisierungsprogramm ausgeschlossen wurden, und auf Verfügung der Nazis blieben sie Familienunternehmen in den Händen des älteren Sohnes Alfried. (…) Es wäre unglaublich, dass der Betrieb, den ich eben geschildert habe, aus der Betrachtung ausgeschlossen werden sollte. Die drei anklagenden Nationen bitten das Tribunal um Erlaubnis, die Anklage zu präzisieren, nämlich den Namen von Alfried Krupp von Bohlen und Halbach in jedem Punkt der Anklageschrift nach dem Namen Gustav Krupp von Bohlen zu erwähnen. Zudem sollte das Tribunal unverzüglich die Anklage gegen Alfried verabschieden, der sich in den Händen der britischen Truppen am Rhein befand. Die französische Delegation überreichte dem Sekretär des Gerichtshofs eine Erklärung, in der sie sich der Position der Vereinigten Staaten anschloss. Mich hat eben General Rudenko angerufen, der sich jetzt in Moskau befindet, und er versicherte mir im Namen der sowjetischen Anklage, dass die sowjetische Delegation sich ebenfalls anschließt, und ich bin bevollmächtigt, heute Vormittag in ihrem Namen aufzutreten. Beide Delegationen wollen natürlich jede Verzögerung minimieren.“
Es entstand die Situation „drei gegen einen“. Sir Hartley Shawcross, ausgebildeter Rechtsanwalt und Hauptankläger im Namen Großbritanniens, sagte in Nürnberg:
„Das ist ein faires Gericht und kein Spiel, in dem man Wechsel machen kann, falls jemand von den Mannschaftskameraden krank geworden ist. Das (…) bedeutet nicht, dass Alfried Krupp nicht vor Gericht muss. Es gibt die Bestimmung der Satzung über weitere Prozesse, und möglicherweise werden aus der aktuellen Verhandlung noch weitere resultieren, unter anderem gegen Alfried Krupp und andere Personen.“
Und dann stellte sich heraus, dass die Franzosen derselben Meinung wie die Briten waren. Aber das Gesuch bezüglich des „Ersatzes“ Gustavs durch Alfried unterzeichneten sie trotzdem. Der Sprecher der französischen Anklage, der einstige Aufklärer der Widerstandsbewegung, Charles Dubost, versuchte, die Flexibilität der Position seiner Seite zu erläutern: „Es wäre leicht, die Position, die die französische Delegation jetzt eingenommen hat, zu rechtfertigen, indem man einfach daran erinnern würde, dass die französische Delegation in vielerlei Hinsicht für die unverzügliche Vorbereitung eines zweiten Prozesses eintrat. (…) Damit könnten wir die strafrechtliche Verfolgung der deutschen Industriellen ohne jede Verzögerung realisieren. Aber unser Standpunkt wurde nie angenommen. Deshalb schlossen wir uns der Position der USA an, weil sie für die Befriedigung der Interessen Frankreichs am besten passt und am meisten akzeptabel ist. Wir bemühen uns darum, dass Krupps Sohn vor Gericht gestellt wird. Die Anklage gegen ihn ist sehr ernst. Niemand würde es akzeptieren, wenn von diesem Prozess kein Vertreter des größten deutschen Rüstungsbetriebs betroffen wäre, einer der Hauptschuldigen dieses Krieges. Wir sind an einem zweiten Prozess gegen Industrielle interessiert. Da es ihn aber nicht gibt, halten wir die Anwesenheit Alfried Krupps für absolut notwendig.“
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Der sowjetische Ankläger, Staatsanwalt Juri Pokrowski, antwortete auf die Frage des Vorsitzenden Richters, ob er sich an das Tribunal wenden wollte, mit einem einzigen Wort: „Nein.“
Als Theodor Klefisch dieses Durcheinander unter den Anklägern beobachtete, die altersbedingt hätten seine Söhne sein können, jubelte er wohl innerlich. Es gelang ihm auch, ein paar Worte zur Causa Alfried zu sagen, obwohl er formell keine Vollmachten dazu hatte. Aber das Gericht erlaubte es ihm. „Offiziell habe ich nicht die Aufgabe, diesen Angeklagten zu verteidigen. Aber ich denke, ich werde damit beauftragt, und deshalb möchte ich mit der Erlaubnis des Gerichts ein paar Worte zu diesem Gesuch sagen – als Vertreter ohne Vollmacht. Ich weiß nicht, ob Herr Alfried Krupp auf die Liste der größten Kriegsverbrecher gesetzt werden kann. Aber wenn ich eine entsprechende Diskussion beginnen dürfte, würde ich auf folgendes verweisen: Da sich die Situation verändert hat, finde ich es etwas merkwürdig, um es nicht noch härter zu sagen, Alfried Krupp auf die Liste der größten Kriegsverbrecher zu setzen, und zwar nicht, weil er ursprünglich als solcher betrachtet wurde, sondern weil sein Vater nicht vor Gericht gestellt werden kann. Ich sehe darin ein gewisses Spiel des Vertreters der Vereinigten Staaten, das aus meiner Sicht vom Gericht nicht genehmigt werden darf. Wenn (…) die Anklageschrift durch den Namen Alfried Krupps vervollkommnet wird und ich mit seiner Verteidigung beauftragt werde, dann wird mein Gewissen mich dazu verpflichten, eine 30-tägige Pause zwischen der Überreichung der Anklageschrift und dem Prozess selbst zu beantragen, was die Regel 2(a) vorsieht, die unter allen möglichen Bedingungen eingehalten werden muss. Zum Schluss muss ich betonen, dass die Umstände und Fakten zur Person Alfried Krupps meines Wissens sich größtenteils von den Umständen und Fakten zum Angeklagten Krupp Sr. unterscheiden. In den uns zur Verfügung gestellten Unterlagen, die ja ein ganzes Buch ausmachen, werde ich wohl keine ganze Seite finden, die Informationen zur Schuld bzw. Mitbeteiligung Alfried Krupps enthalten würde, der meines Wissens erst im November 1943 Besitzer der Firma Krupp wurde. Und dazu, dass er zuvor, von 1937 bis 1943, nur Direktor einer Abteilung des Konzerns gewesen war, und in dieser Eigenschaft hatte er nicht den geringsten Einfluss auf die Formenverwaltung, und hatte nichts mit den Aufträgen zur Produktion und Lieferung von Kriegsmaterialien zu tun.“
***
Am 15. November fällte das Tribunal seinen Beschluss zu Gustav Krupp. „Die Satzung des Gerichtshofs sieht einen gerechten Prozess vor, in dessen Laufe die Hauptankläger Beweise für die Anklage präsentieren, während die Angeklagten sich verteidigen, wie sie wollen“, hieß in dem Dokument. „Wenn im Unterschied zur Gefahr einer Flucht oder des Ungehorsams gegenüber dem Gericht die Natur selbst einen solchen Prozess unmöglich macht, würde ein Säumnisverfahren der Justiz nicht entsprechen. Aus den erwähnten Gründen hat das Tribunal folgendes beschlossen: Erstens wird dem Gesuch um Unterbrechung der Gerichtsverhandlung hinsichtlich Gustav Krupps von Bohlen stattgegeben. Zweitens gehört die Anklage gegen Gustav Krupp von Bohlen weiterhin zu den Unterlagen des Tribunals für weitere Behandlung, falls der physische und psychische Zustand des Angeklagten dies ermöglicht.“
Der Beschluss zu Alfried Krupp (vom 17. November) war nicht so wortreich. Hier ist er:
„Das Gesuch um eine Präzisierung der Anklageschrift durch Hinzufügung des Namens Alfried Krupps wurde vom Tribunal ausführlich behandelt und abgelehnt.“
Der Optimismus des deutschen Rechtsanwalts hinsichtlich der Perspektiven Alfried Krupps erwies sich jedoch als vorzeitig. 1948 verurteilte das Amerikanische Tribunal, das im Rahmen der so genannten „kleinen Nürnberger Prozesse“ stattfand, Alfried Krupp als Kriegsverbrecher. Krupp Jr. wurde 1951 wieder freigelassen, und im selben Jahr starb der alte Rechtsanwalt seines Vaters.
Der sowjetische Ankläger Juri Pokrowski sagte etwas mehr als nur „Nein“. Er rief das Gericht auf, den Umstand zu nutzen, dass die Mitglieder der Ärztekommission immer noch in Nürnberg blieben, und sie mit einer Untersuchung Julius Streichers zu beauftragen. Der überzeugte Antisemit und Pornograf, neben dem nicht einmal die anderen Angeklagten sitzen wollten, verhielt sich im Gefängnis auf einmal merkwürdig. Die sowjetischen Untersuchungsrichter und Staatsanwälte vermuteten, dass er eine psychische Krankheit simulieren wollte. Diesem Gesuch wurde stattgegeben, und Streicher wurde untersucht. Es stellte sich heraus, dass er völlig gesund war.
Julia Ignatjewa