Rede des sowjetischen Chefanklägers verärgt die Angeklagten
Im Februar 1946 traten die sowjetischen Ankläger als letzte nach ihren Kollegen aus den USA, Großbritannien und Frankreich beim Nürnberger Prozess am Rednerpult auf.
Am 8. Februar hörten die Menschen im Sitzungssaal Nr. 600 die Einführungsrede des sowjetischen Chefanklägers Roman Rudenko. Die Journalisten und Zuschauer setzten Kopfhörer auf, um die Übersetzung zu hören, die Angeklagten setzten die Kopfhörer dagegen ab. Aber nur für eine kurze Zeit.
Krieg in Fibeln
Rudenko:
„Die Angeklagten wussten, dass die zynische Verhöhnung der Gesetze und Sitten des Krieges ein äußerst schweres Verbrechen ist; sie wussten das, hofften aber, dass ihr totaler Krieg für sie siegreich enden und ihnen Straflosigkeit bringen würde… Ob aber die Schuld der Hitler-Verschwörer geringer wurde, weil sie in ihre Gräueltaten deutsche Menschen massenweise verwickelten, weil sie vor der Hetze von Millionen unschuldigen Menschen mit ihren Hunden und Henkern das Gewissen und den Verstand einer ganzen Generation der Deutschen vergiftet hatten, indem sie ihnen die Protzerei der ‚Auserwählten‘, die Moral von Menschenfressern und Raubgier anerzogen?
(…)
Alle Wissenschaften wurden militarisiert. Alle Kunstarten wurden aggressiven Zielen untergeordnet.
‚Wir gehen zur Wissenschaft frei von der Last der Kenntnisse und der wissenschaftlichen Ausbildung‘, hieß in der faschistischen Zeitschrift ‚Politische Wissenschaft‘(Heft 3 vom Jahr 1934). ‚Ein Student sollte an die Hochschule mit der Forderung gehen, dass die Wissenschaft genauso soldatisch wird, wie seine eigene Aufrechtheit.‘
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‚Wir wollen wieder Waffen‘, sagte Hitler. ‚Deshalb soll alles – von Fibeln und bis zur letzten Zeitung, jedes Theater und jedes Kino, jede Litfasssäule und jede Anzeigetafel – dieser einzigen großen Mission dienen‘.“
„Schon viele Sprachen verschiedener Völker der Welt waren vom Rednerpult des Internationalen Kriegsgerichtshofs zu hören“, schrieb der Schriftsteller Boris Polewoi, der den Nürnberger Prozess für die Zeitung „Prawda“ beleuchtete, in seinem Buch „Am Ende des Tages. Die Nürnberger Tagebücher“. „Es hatten schon die Russen, Amerikaner, Engländer, Franzosen, Tschechen, Belgier, Spanier, Holländer und Norweger gesprochen. Auch Deutsche traten als Augenzeugen auf, um unter dem Druck der unwiderlegbaren Beweislage die Details der furchtbaren Verschwörung gegen die Völker der Welt zu enthüllen, die ein kleiner Haufen von Statthaltern des Teufels auf Erden, die in der Gerichtssprache höflich als Hauptkriegsverbrecher bezeichnet werden, organisiert hatte. Heute erklang im Saal wieder die Stimme des sowjetischen Volkes. Am Rednerpult erschien wieder der sowjetische Chefankläger Roman Rudenko. Als wir in unseren Kopfhörern die vom Rundfunk übertragenen Worte in unserer Muttersprache hörten, dachten wir von selbst, dass am Rednerpult über der Anklagebank das sowjetische Volk selbst stand.“
Pathologische Anatomie
Rudenko:
„In der Tschechoslowakei hatten junge Menschen keine Möglichkeit, eine Ausbildung zu bekommen. Als sich 1942 eine tschechische Delegation an Frank mit der Bitte wandte, die Eröffnung von tschechoslowakischen Universitäten zu genehmigen, erwiderte er zynisch: ‚Falls England den Krieg gewinnt, werdet Ihr eure Schulen eröffnen; wenn Deutschland gewinnt, dann werden euch fünfjährige Grundschulen genügen.“
Der sowjetische Schriftsteller Boris Polewoi konzentrierte sich natürlich auf den sowjetischen Staatsanwalt. Und der amerikanische Kriegspsychologe Gustave Gilbert fokussierte sich auf die Verbrecher.
„Während der Ansprache hatten Göring und Heß die Kopfhörer abgenommen, um zu demonstrieren, dass es sich nicht lohne, dieser Rede zuzuhören“, schrieb Gilbert in seinem Buch „Nürnberger Tagebuch“. „Als ich Göring fragte, warum er nicht zugehört habe, antwortete er, er habe im Voraus gewusst, was die Russen sagen würden; Heß meinte, er habe es nicht nötig, sich anzuhören, wie Ausländer sein Land verleumdeten. (Eine für seine Amnesie aufschlussreiche Wiederholung einer Behauptung vom zweiten Verhandlungstag).“
Rudenko:
„Jugoslawien wurde, genauso wie Polen, Opfer der deutschen faschistischen ‚Raubtiere‘, die dieses gedeihende Land in Ruinen verwandelten und seine Felder und Gärten mit Leichen von Tausenden jugoslawischen Patrioten bedeckten, die im heldenhaften Kampf gegen die ausländischen Eroberer und Unterdrücker, im Kampf für die Freiheit und Unabhängigkeit ihres Landes gefallen waren.“
„Der sowjetische Ankläger anatomierte in seiner ruhigen und langsamen Rede dieses vielköpfige Ungeheuer“, schrieb Polewoi. „Er zeigte nicht nur dessen Zähne und Krallen, deren Wirkung die europäischen Völker selbst zu spüren bekommen hatten, sondern auch dessen versteckte Giftdrüsen, dessen furchtbaren Magen, der sich schon auf die Verspeisung aller nichtarischen Völker vorbereitet hatte; er zeigte die heimlichen Windungen seines schrecklichen Gehirns, in denen die Pläne zu neuen Verschwörungen gegen die Menschheit gereift waren; er zeigte die tief verborgenen Nerven, die diesen ganzen schrecklichen Organismus in Gang gebracht hatten.“
Minus 30 Millionen Slawen
Rudenko:
„Alle Angeklagten haben unbeschreibliche, in der Geschichte nie dagewesene blasphemische Verbrechen gegen die Menschheit, gegen die Grundlagen der menschlichen Moral und das Völkerrecht vorbereitet, organisiert und begangen.
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Ein besonderer Platz unter den unerhörten Gräueltaten der Hitler-Verbrecher gehört der blutigen Vernichtung der slawischen Völker und des jüdischen Volkes.
Hitler sagte zu Rauschning: ‚Nach dem jahrhundertelangen Gejammer über den Schutz von Armen und Erniedrigten ist für uns die Zeit gekommen, die Starken vor den Niedrigsten zu schützen. Das wird eine der Hauptaufgaben für die deutschen Staatsaktivitäten für die ganze Zeit sein: Mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln das weitere Wachstum der slawischen Rasse zu verhindern.‘
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Auf die Frage eines Vertreters der sowjetischen Anklage erklärte ein Augenzeuge (Erich von dem Bach-Selewski – Anm. d. Red.): ‚In Himmlers Rede wurde erwähnt, dass die Zahl der Slawen um 30 Millionen gekürzt werden sollte.‘
In ihren Plänen wollten die faschistischen Verschwörer die jüdische Bevölkerung der Welt vernichten, und das taten sie auch im Laufe ihrer ganzen verschwörerischen Tätigkeit seit 1933.
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In der Rede des Angeklagten Frank, die in der ‚Krakauer Zeitung‘ am 18. August 1942 erschien, hieß es: ‚Wer heute durch Krakau, Lemberg, Warschau, Radom oder Lublin geht, sollte ehrlich zugeben, dass die Bemühungen der deutschen Verwaltung mit realen Erfolgen gekrönt wurden: Dort sind kaum noch Juden zu sehen.‘
Die tierische Vernichtung der jüdischen Bevölkerung gab es in der Ukraine, Weißrussland, im Baltikum. In Riga hatten vor der deutschen Besatzung etwa 80 000 Juden gelebt. Als die Rote Armee Riga befreite, waren dort nur noch 140 Juden geblieben.“
Der Vorsitzende des Tribunals, Richter Geoffrey Lawrence, legte eine Pause ein. Gustave Gilbert nutzte diese, um mit den Angeklagten zu sprechen.
„Als ich mich an der Unterhaltung beteiligte, erwähnte Fritzsche, dass die Russen eine Tatsache vorgebracht hätten, von der er nichts gewusst hätte“, schrieb Gilbert in seinem Buch. „Die Vernichtungslager hinter den deutschen Linien, in denen russische Frauen und Kinder in einfachen Gruben umgebracht wurden. Göring entgegnete heftig, dass alle Grausamkeiten, die die Russen anführten, russische Verbrechen seien, die sie jetzt den Deutschen in die Schuhe schieben wollten.
‚Sie werden einen schweren Stand haben, wenn Sie beweisen wollen, dass die Russen ihre eigenen Landsleute umbrachten, um Sie für diese Verbrechen anklagen zu können‘, gab ich zu bedenken. ‚Woher wissen Sie, was ich beweisen kann?‘, gab Göring bissig zurück. Fritzsche fragte ihn ebenfalls, was er damit meine. ‚Ich sah selbst die offiziellen Berichte und Fotos!‘, polterte er. ‚Wo sind sie?‘, erkundigte sich Fritzsche. ‚In Genf!‘, brüllte Göring, der, in die Enge getrieben, immer wütender wurde. ‚Oh, aber dieser Genfer Bericht ist doch eine vollkommen andere Angelegenheit‘, erklärte Fritzsche, als wüsste Göring das nicht.“
Raube – Görings Stolz
Nach einer Pause nahm Roman Rudenko wieder Platz am Rednerpult.
Rudenko:
„‚Wir‘, sagte Hitler zu Rauschning, ‚müssen eine Entvölkerungstechnik entwickeln. Wenn Sie mich fragen, was ich mit ‚Entvölkerung‘ meine, sage ich, dass ich damit Vernichtung von ganzen Rassengruppen meine. Und das ist, was ich vorhabe – das ist im Grunde meine Aufgabe. Die Natur ist grausam, und deshalb dürfen auch wir grausam sein. Wenn ich die Elite der deutschen Nation in den Krieg schicke, ohne zu bedauern, dass dabei wertvolles deutsches Blut vergossen wird, dann darf ich natürlich Millionen Menschen der niedrigeren Rasse vernichten, die sich wie Würmer vermehren!‘“
Boris Polewoi beschrieb die Atmosphäre im Sitzungssaal während Roman Rudenkos Auftritts: „Das Gericht, die Staatsanwälte, die Verteidiger, die Gäste hörten aufgeregt dem sowjetischen Chefankläger zu, und selbst die Korrespondenten, die in ihrem Leben schon alles gesehen hatten und sich kaum noch über etwas wundern könnten, saßen ganz still auf ihren Bänken und schrieben seine Rede auf, als wären sie einfache Schüler. Hier und dort wurden in der Presseloge die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. Man rief immer wieder Kuriere, damit diese dringend Telegramme abschickten. In der Pause blieb die Bar leer, aber aus dem Presseraum war das Knallen der Schreibmaschinen so laut, dass man kaum ein Wort verstehen konnte.“
Rudenko:
“Der Angeklagte Göring führte seine Leitung der räuberischen Handlungen der deutschen Militär- und Wirtschaftseinheiten mit viel Elan durch.
In der Sitzung am 6. August 1942 mit Reichskommissaren und Vertretern des Kriegskommandos forderte Göring ein schnelleres Ausrauben der besetzten Gebiete. Sie seien nicht dorthin geschickt worden, um zum Wohle der ihnen zugeteilten Völker zu arbeiten, sondern um alles Mögliche abzugreifen, so Göring. Und weiter – er habe vor, zu rauben, und zwar effektiv.
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Alle bemerkten Bewegungen auf der Anklagebank. Boris Polewoi schrieb: „Rosenberg, der Russisch verstand, nahm die Kopfhörer ab, hörte die Rede, indem er die Hand ans Ohr legte. Göring nahm zu Beginn der Rede verärgert die Kopfhörer ab, als zitiert wurde, dass er ausrauben wolle, und zwar effektiv, danach setzte er sie krampfhaft wieder auf und nahm sie bis zum Ende nicht wieder ab. Keitel legte einen Finger um den Kragen und zog ihn reflexartig weg, als ob sich die Schlinge um seinen Hals bereits zusammenzog“.
„Drang nach Osten“
Rudenko:
„Alle aggressiven Handlungen Deutschlands gegen eine Reihe von europäischen Staaten, die 1938 bis 1941 durchgeführt wurden, waren de facto die Vorbereitung auf den wichtigsten Schlag gegen den Osten. Das faschistische Deutschland hatte das verbrecherische Ziel, das Territorium der Sowjetunion zum Ausrauben und zur Ausbeutung der Völker der Sowjetunion zu beherrschen… Dieses Streben des deutschen Raub-Kapitalismus ist in der bekannten Formel ‚Drang nach Osten‘ ausgedrückt.
Ich greife als Beweise nach offiziellen Dokumenten der Hitler-Regierung, die die Angeklagten wegen der verbrecherischen Handlungen vollständig belasten, die ihnen durch die Anklageschrift zum vorliegenden Verfahren inkriminiert werden.
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Laut den Aussagen des Angeklagten Keitel, wollte Hitler die Sowjetunion Ende 1940 angreifen. Bereits früher, im Frühjahr 1940 wurde ein Angriffsplan auf die Sowjetunion ausgearbeitet. Die Sitzungen zu diesem Thema fanden den ganzen Sommer statt… Das wird auch durch die Aussagen Jodls bestätigt, der während des Verhörs sagte, dass die Angriffspläne für die Sowjetunion konkret im November bzw. Dezember 1940 ausgearbeitet wurden, in dieser Zeit wurden von ihm die ersten Weisungen an die Armee, Kriegsflotte und Luftwaffe gegeben. Unter Weisungen meint Jodel ein Dokument, das als Weisung im Fall Barbarossa bekannt wurde. Dieses Dokument wurde von Hitler, Jodl und Keitel unterzeichnet.
Diese Weisung, die nur für die höchste Führung der deutschen Armee bestimmt war, enthält das sorgfältig ausgearbeitete Programm eines Überraschungsangriffs auf die Sowjetunion.
Weniger als einen Monat nach diesem heimtückischen Akt organisierte Hitler eine Sitzung unter Teilnahme Rosenbergs, Görings, Bormanns, Lammers und Keitels. In dieser Sitzung sagte er den Anwesenden, der Außenwelt sollten die wahren Ziele des begonnenen Krieges nicht bekannt gegeben werden.
(…)
Hitler sagte, dass man wieder betonen werde, dass man gezwungen gewesen sei, das Gebiet einzunehmen sowie dort für Ordnung und Sicherheit zu sorgen… Daraus ergebe sich die Regelung. Damit sollte nicht erkannt werden, dass es um die endgültige Regelung gehe. Allerdings werde man hier wieder alle notwendigen Maßnahmen treffen – Erschießungen, Aussiedlungen u.a.
Diese Erschießungen, die Verschleppung der friedlichen Bevölkerung in die deutsche Sklaverei, Ausplünderungen und Gewalt gegen die friedliche Bevölkerung hießen in der Sprache Hitlers und seiner Mitstreiter „Regelung“.
„Allein Heß wirkte an diesem Tag des Triumphes der sowjetischen Anklage ruhig und gleichgültig“, schrieb Boris Polewoi. „Damit betonte er quasi, dass er weder an der Ausarbeitung des Falls Barbarossa noch am Unternehmen Taifun teilgenommen hätte und weder für die Erfolge noch für die Niederlagen der deutschen Armee die Verantwortung tragen wolle“.
Rudenko:
„Nun, wo angesichts des heldenhaften Kampfes der Roten Armee und der Truppen der Alliierten Hitler-Deutschland gebrochen und unterworfen worden ist, haben wir kein Recht, die erlittenen Opfer zu vergessen, die Verantwortlichen und Organisatoren der grausamen Verbrechen ohne Strafe zu lassen.
Im Namen des heiligen Gedenkens an die Millionen unschuldigen Opfer des faschistischen Terrors, im Namen der Festigung des Friedens in der ganzen Welt, im Namen des Schutzes der Völker in der Zukunft – präsentieren wir den Angeklagten die volle und gerechte Abrechnung. Das ist die Abrechnung der ganzen Menschheit, die Abrechnung des Willens und Gewissens der freiheitsliebenden Völker. Möge die Justiz geschehen!“
Der sowjetische Staatsanwalt trat am 8. Februar den ganzen Tag vor Gericht auf – in der Morgen- und in der Abendsitzung. Einige Medien brachten bereits am selben Tag „heiße“ Reportagen aus dem Gerichtssaal. Zeitungen zeichneten die markantesten Passagen der Rede des sowjetischen Anklägers nach. Manchmal gingen sie auch auf Details ein. So beschrieb ein Korrespondent der Pariser Zeitung „Le Monde“ das Äußere und die Uniform Rudenkos: „Der mittelgroße und stämmige General war in dunkelbrauner Uniform mit breiten Schulterklappen mit silbernen Sternen“ – das war sehr auf französische Weise. Ein „New York Times“-Journalist warf dem sowjetischen Ankläger vor, dass er Griechenland unverhältnismäßig wenig Aufmerksamkeit widmete – sehr auf amerikanische Art.
Quelle:
Einführungsrede des sowjetischen Hauptanklägers des Internationalen Militärgerichtshofs, Roman Rudenko. Stenogramm der Sitzung vom 8. Februar 1946.
Staatsarchiv der Russischen Föderation
F. R-7445. Op. 1. D. 1890. L. 1–80.