Reportage aus der Vergangenheit
Boris Polewoi zog schon als bekannter Schriftsteller und Journalist als Frontberichterstatter in den Krieg. Seine Reportagen aus Nürnberg waren alles andere als pathetisch. Er beschrieb ohne Schuldzuweisung nur, was er selbst sah. Furchtbare Dinge, wie beispielsweise in der Reportage „Buch in Leder“, die am 16. Dezember in der „Prawda“ erschien.
Dank seinen Erfahrungen und seiner Arbeit in Nürnberg, wo er als Korrespondent der Zeitung „Prawda“ fungierte, wurde er später Autor des Kriegsromans „Der wahre Mensch“, der in der Sowjetunion einen Kultstatus hatte.
Boris Polewoi, „Buch in Leder“
„Prawda“, 16. Dezember 1945
„Dem Tribunal wurde ein Dokument vorgelegt, zu dem mein Nachbar, ein norwegischer Journalist und Offizier, sagte: ‚Wenn das Blut der Unglücklichen, deren Tod darin geschildert ist, auf einmal aus dem Boden hervorkommen könnte, würde hier ein See entstehen, und darin würden nicht nur die Unmenschen, die auf der Anklagebank sitzen, sondern auch Hunderte Schuldige ertrinken, die für diesen satanischen Fall verantwortlich sind‘.
Das war ein dickes Buch in einer Hülle aus Schweinsleder in guter Qualität mit einer goldenen Kante – ein richtiges Meisterwerk eines deutschen Buchbinders. Doch das war kein Familienalbum, keine Sammlung von Bildern der besten Pferde, die einem alten deutschen Schloss gehörten. Das war ein Bericht des Generalmajors der deutschen Polizei namens Stumpf über die Vernichtung des Warschauer Ghettos.
Als der Ankläger dieses Buch am Lesepult öffnete, schauten alle automatisch auf die Anklagebank, auf den Angeklagten Hans Frank, den Generalgouverneur von Polen, der dort für die Festigung des Hitler-Regimes zuständig gewesen war. Eine Minute zuvor hatte man ein Zitat aus seinem Tagebuch vorgelesen: ‚Dass wir eine Million Juden zum Hungertod verurteilt haben, sollte nur nebenbei behandelt werden.‘ Als Frank dieses Zitat hörte, schmunzelte er nur und zuckte mit den Achseln.
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Bei dem besagten Buch handelte es sich um den liebevoll geschriebenen und ausführlich illustrierten Bericht des SS-Generalobersten Stumpf über die Vernichtung des Warschauer Ghettos. Der Autor beschrieb mit Vergnügen die Leiden seiner Opfer, die verbrannt, erstochen und erschossen wurden. Die Pflichttreue und den Enthusiasmus der SS-Soldaten fand er faszinierend. Besonders ausführlich beschrieb Stumpf, wie sich jüdische Familien in der Kanalisation versteckt hatten, so dass seine Soldaten die Gullydeckel rausrissen und Rauchkörper und Granaten hinein warfen.
In diesen Momenten bewunderte Stumpf seine Mitbürger, an deren Beispiel er Boris Polewoi zufolge quasi das Portrait des „idealen Deutschen“ zeichnete. „Je länger der Widerstand dauerte, desto grausamer und gnadenloser wurden die SS-, Polizei- und Wehrmacht-Männer… Sie erfüllten ihre Pflicht im Sinne der engen Kameradschaft und zeigten dabei ihren hohen Soldatengeist. Sie arbeiteten von früh im Morgen und bis spät in der Nacht… Sie suchten nach Juden und waren gnadenlos zu ihnen… Ich muss die Tapferkeit, Fähigkeit und Geistesstärke hervorheben, die diese Männer zeigten…“
Dem Bericht legte Stumpf reichlich Fotos bei.
„Wir sahen auf der Leinwand Bilder vom Warschauer Massaker. Brennende Häuser, von deren Dächern und aus deren Fenstern in den oberen Geschossen Menschen auf das Straßenpflaster sprangen. Ausräucherung der Unglücklichen aus Kanalisationsschächten. Eine Frau mit einem Baby in den Armen wurde vor einem Kanalisationseinstieg erschossen. Die Explosion eines mit Menschen gefüllten Hauses.“
Die Zuschauer im Sitzungssaal sahen die Opfer in den letzten Sekunden ihres Lebens und auch die SS-Soldaten: „Hitlers riesige Kerle mit großen Mäulern, die lachten und sichtlich Spaß hatten“.
Zitat
„Das Buch in der Lederhülle ist bereits geschlossen. Aber die Anklage legt dem Gericht immer neue und neue Dokumente vor, und die Welt wird noch häufig erschüttert, wenn sie diese furchtbare Geschichte über die Schrecken des Hitlerismus hört.“
„Prawda“, 16. Dezember 1945.