Der Tod eines sowjetischen Chauffeurs ist bis heute ungeklärt

Die Nürnberger Prozesse betrafen nicht nur die Sitzungen des Kriegsgerichtshofs, sondern auch Ereignisse vor dem Justizpalast. Einige davon sind immer noch ungeklärt. So wurde im Dezember 1945 vor dem Grand Hotel der Chauffeur eines Gruppenleiters sowjetischer Geheimdienstoffiziere, der Rotarmist Buben, ermordet. Dieser Mord wurde nie aufgeklärt.

Einziger Ort in Nürnberg, der einigermaßen unbeschädigt war

Am Abend des 8. Dezember versammelte sich im Grand Hotel, wie immer, das Publikum aus verschiedenen Ländern. „Das Hotel war bei amerikanischen Bombenangriffen stark beschädigt worden“, erinnerte sich die sowjetische Dolmetscherin Olga Swidowskaja (laut anderen Quellen war ihr Nachname Swiridowa). „Ein Teil des Gebäudes, der mehr oder weniger wiederaufgebaut wurde und gut beleuchtet war, beinhaltete unter anderem die Vorhalle mit Drehtüren und ein Restaurant, wo hungrige Deutsche ihr Bestes taten, um die Alliierten zu amüsieren. Das war erbärmlich, aber man konnte ja nirgendwo anders hingehen.“

Kurz vor Mitternacht wurde die Unterhaltung durch einen Zwischenfall unterbrochen: Ein Chauffeur, der auf einen der Gäste wartete, war erschossen worden.

Am 12. Dezember erschien in der Zeitung „Prawda“ eine kurze Meldung:

„Nürnberg, 9. Dezember (TASS). Am 8. Dezember wurde gegen 11.00 Uhr abends der Rotarmist Genosse Buben, Chauffeur, ermordet. Am 9. Dezember veröffentlichte der Stab des Befehlshabers der US-Truppen, die den Kriegsgerichtshof bedienen, eine Mitteilung des Militärpolizeichefs des Kreises Nürnberg, laut der Genosse Buben unweit vom Grand Hotel mit einer kleinkalibrigen Kugel verletzt worden und gestorben sei, ohne zu Bewusstsein zu kommen. Der Fall wird ermittelt.“

Der Schuss in der Nacht und die Drehtür

Über den Fall ist kaum etwas bekannt. Buben war der Chauffeur von Michail Lichatschow, Leiter der Sonderermittlungsbrigade der Hauptverwaltung der Spionageabwehr „SMERSch“, der oft ins Grand Hotel zum Abendessen kam. Er wartete auf seinen Vorgesetzten im Auto und betrat das Restaurant nicht.

Die meisten Informationen teilten Lichatschows Dolmetscherin Olga Swidowskaja und ihre Kollegin Jelisaweta Stenina-Schtschemelewa mit. Dabei war keine von den Beiden Augenzeugin des Mordes, und sie gaben im Grunde die Informationen wieder, die sie selbst von anderen Personen erhalten hatten.

„Einmal wollten wir – Lichatschow, (der oberste Untersuchungsrichter von SMERSch, Pawel) Grischajew, (der SMERSch-Ermittlungsbeamte) Boris Solowow und ich – wie immer im Grand Hotel  zu Abend essen. Ich musste aber noch einige Dinge erledigen und bin zu Hause geblieben“, zitierte der Historiker Alexander Swjaginzew Swiridowa in seinem Buch „Die Nürnberger Notglocke“. „Lichatschow & Co. sind nach Nürnberg mit einer sehr auffallenden Limousine gefahren, einem schwarz-weißen Horch mit roten Ledersitzen, von dem man sagte, er wäre aus Hitlers persönlicher Garage gewesen. Lichatschow saß üblicherweise auf dem Beifahrersitz. Unweit vom Grand Hotel baten Grischajew und Solowow, anzuhalten, weil sie den letzten Abschnitt zu Fuß gehen wollten. Nach einigen Sekunden Schwankungen schloss sich auch Lichatschow ihnen an. Eine Minute später riss jemand in US-amerikanischer Soldatenuniform die Wagentür auf und erschoss den Fahrer Buben. Ich persönlich denke, dass Lichatschow hatte erschossen werden sollen, denn der Angreifer dachte wohl, dass Lichatschow wie immer auf dem Beifahrersitz saß. Der tödlich verletzte Buben konnte nur sagen: ‚Ein Amerikaner hat auf mich geschossen.‘“

Swidowskajas Notizen wurden immer noch nicht veröffentlicht, obwohl einige Zitate in verschiedenen Büchern und auch Zeitungen auftauchten. Der Journalist Wladimir Abarinow, der die Handschrift der Erinnerungen der Dolmetscherin gelesen hatte, führte in seinem Artikel „Ein Tod in Nürnberg. Ein weißer Fleck auf dem wichtigsten Gerichtsprozess“ Swidowskajas Worte zu Bubens Tod aber etwas anders an. Ihm zufolge war Lichatschow an jenem Abend überhaupt nicht mit dabei, und Grischajew und Solowow stiegen unmittelbar vor dem Grand Hotel aus. Augenzeugen des Mordes gab es nicht: Swidowskaja präzisierte, dass das Auto „hinter anderen nebenan geparkten Fahrzeugen schlecht zu sehen war“. Von der US-Uniform sagte sie ebenfalls nichts. Bubens letzte Worte waren ihr zufolge etwas expressiver: „Ein Amerikaner hat mich angeschossen!“

 Jelisaweta Stenina-Schtschemelewa soll diese Episode in einem Gespräch mit Abarinow auf ihre Art beschrieben haben. Nach ihren Worten kam der tödlich verletzte Buben durch die Drehtür ins Hotel und rief aus:

„Und das sind noch unsere Verbündeten!“ – und ist auf den Boden gefallen.

Jedenfalls haben die beiden Frauen nur das nacherzählt, was sie von Vertretern des  militärischen Nachrichtendienstes SMERSch gehört hatten.

In diesen Erzählungen gibt es viele Widersprüche. War Lichatschow doch an dem Abend im Auto? Stiegen Solowow und Grischajew direkt vor dem Hotel aus dem Auto oder kurz zuvor? Warum gingen sowjetische Offiziere am Abend durch eine zerbombte und zerstörte Stadt spazieren? Ist Buben vor Ort gestorben oder war er ins Hotel gegangen? Wer hatte ein Interesse daran, einen einfachen Fahrer zu töten?

Skandale, Intrigen, Untersuchungen

Der Hintergrund dieses brisanten Mordfalls wird deutlicher, wenn man weiß, dass in Nürnberg zwei sowjetische Rechtsschutzdienste konkurrierten. Mit der Ermittlung, darunter einer vorläufigen Befragung der Angeklagten des Prozesses, befasste sich das Staatsanwaltsteam mit Georgi Alexandrow an der Spitze, die dem sowjetischen Chefankläger Roman Rudenko untergeordnet war. Für die Rechtsordnung war eine spezielle Ermittlungseinheit der Chefverwaltung der Spionageabwehr SMERSCH, die von Michail Lichatschow geleitet wurde, zuständig.

Zwischen ihnen gab es Kontroversen. Laut Alexander Swjaginzew hatten einige Mitarbeiter der Gruppe sich gegenseitig verdächtigt, erhoben gegenseitig Vorwürfe, manchmal ging es noch weiter. So kabelten Mitglieder der Spionageabwehr noch vor Beginn der Nürnberger Prozesse nach Moskau, dass Alexandrow auf die antisowjetischen Äußerungen der Angeklagten „zu schwach reagiert“. Er musste sich schriftlich vor dem Staatsanwalt Konstantin Gorschenin rechtfertigen – er dürfte keine Aussagen seitens der Angeklagten gegen die Sowjetunion und ihn persönlich zulassen, unbegründete Vorwürfe stören nur die Arbeit.

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Doch damit endete diese Geschichte nicht. Laut dem Assistenten des sowjetischen Chefanklägers Lew Scheinin neigte Lichatschow seit den ersten Tagen in Nürnberg zu Arroganz und stieß damit auf große Ablehnung.

„Es kam dazu, dass Lichatschow eine junge Dolmetscherin zum Zusammenleben drängte, die zusammen mit uns in einem Haus wohnte, sie wurde schwanger. Lichatschow zwang sie zur Abtreibung mithilfe eines deutschen Arztes, schrieb Scheinin, der in seinem Buch von Swjaginzew zitiert wird“.

Wie Swjaginzew schreibt, verstärkten sich nach den Todesschüssen vor dem Hotel die Gerüchte um ein Attentat auf Rudenko, doch das wahrscheinlichere Ziel war wohl Lichatschow. Die von ihm geleitete Mission machte eine sehr große und ziemlich nützliche Arbeit. Es gab allen Grund zu der Annahme, dass jemand die Männer der Spionageabwehr einschüchtern wollte, wobei gleichzeitig ihr Chef neutralisiert wird.

Nicht ausgeschlossen ist, dass der Mord auch auf das Konto von deutschen Diversanten ging, um einen Konflikt zwischen den Amerikanern und den Russen zu provozieren. Doch angesichts der Konflikte zwischen der Anwaltsgruppe und SMERSCH sind auch persönliche Motive nicht auszuschließen.

Berichte, Festnahmen, Erschießungen

Laut Schenin berichtete Rudenko Gorschenin, der sich damals in Nürnberg befand, über das Geschehene. Gorschenin übergab die Informationen der Partei und dem SMERSch-Chef Viktor Abakumow. Lichatschow wurde aus Nürnberg abgezogen und für zehn Tage in Haft genommen.

Nach einigen Jahren wurde Lichatschow zum stellvertretenden Chef für besonders wichtige Angelegenheiten des Sicherheitsministeriums der Sowjetunion. 1952 wurde er beauftragt, sich mit dem manipulierten Fall des Jüdischen Antifaschistischen Komitees zu befassen, wo Scheinin einer der Verdächtigen war. Lichatschow erhielt mithilfe von Druck von Scheinin, wie er meinte, kompromittierende Aussagen. Scheinin wird erst im Dezember 1953, nach Stalins Tod, freigelassen.

Ein Jahr später wird Lichatschow selbst Opfer der Repression. Im Dezember 1954 wurde er zusammen mit Abakumow und anderen Leitern des Ministeriums wegen Amtsmissbrauchs verurteilt und erschossen.

Doch die Frage, wer auf den Rotarmisten Buben schoss, blieb ungeklärt. Vielleicht sind die Antworten in geheimen Archiven der Sicherheitsdienste zu finden.

Die Materialien stammen aus dem Buch von Alexander Swjaginzew „Nürnberger Notglocke. Reportage aus der Vergangenheit. Appell an die Zukunft“ und dem Artikel von Wladimir Abarinow „Tod in Nürnberg. Ein weißer Fleck im wichtigsten Gerichtsprozess“