Weltpresse zieht erstes Fazit

Im Dezember 1945 hatte der Nürnberger Militärgerichtshof Sitzungen an nur 15 Werktagen – am 21. Dezember ging er in die Weihnachtsferien. Richter und Ankläger fuhren nach Hause, der US-Chefankläger Robert Jackson reiste rund um Weihnachten durch Nachkriegseuropa. Es standen noch neun Monate Gerichtsverhandlungen bevor. Die internationale Presse zog derweil ein Fazit zum Auftakt der Nürnberger Prozesse.

15 gierige Fangarme

„Seit Beginn wurde der Nürnberger Gerichtssaal der Hintergrund für das gigantische Drama. Doch in der vergangenen Woche, als die Anfangssitzungen zu Ende gingen, begann die wahre Show. Innerhalb von drei Tagen gipfelte der Prozess in eine Komödie, Intrige und Pompöse“. “The Nuremberg Show”, Zeitschrift “Newsweek” Nr. 50, 10. Dezember

Der Protagonist der „Komödie, Intrige und Pompöse“ war der Hauptangeklagte Hermann Göring. Er suchte ständig nach Anlässen für Lachausbrüche. Einer davon war das Vorführen der Beweise für die Pläne eines Angriffskriegs Deutschlands gegen seine Nachbarn.

„Auf der Leinwand im Gerichtssaal war eine Karte. Eine graue Spinne streckte in alle Richtungen 15 gierige Fangarme aus. Auf diese Fangarme waren die Verträge, die von Deutschland verletzt wurden, gespickt“. „Wölfe in Generalsuniform“, Wsewolod Ionow, „Iswestija“ Nr. 290. 10. Dezember

„Zu dem Zeitpunkt, als der britische Ankläger an das Verbot des Besitzes einer Luftwaffe gegenüber Deutschland erinnerte, nahm der ehemalige Luftwaffenchef Göring die Kopfhörer ab und lachte. Er hatte so einen Gesichtsausdruck, als ob er gerade einen guten Witz gehört hat“, “Le Procès de Nuremberg”, Le Monde, 7. Dezember

„Bösartige Gruppe aus 20 Menschen strebt nach dem Thron“

Bei den Angeklagten hiterließ der Dokumentarfilm „Nazi-Plan“ einen starken Eindruck. In der offiziellen Filmchronik  wurde berichtet, dass „diese bösartige Gruppe aus 20 Menschen nach dem Thron strebte“. Die Angeklagten „plusterten sich auf“ in der Erwartung, ihre „Heldentaten“ zu sehen, schreibt der Korrespondent Leonid Leonow in der Zeitung „Prawda“ vom 20. Dezember.

Das Licht war aus – es wurde der Film gezeigt. Die Erinnerungen an die ersten faschistischen Paraden und Hitlers Machtübernahme erheiterten die Angeklagten.

„… Die Angeklagten benahmen sich wie entzückte Schüler, die auf der Leinwand Aufnahmen von sich sahen. Sie nickten und stießen einander mit den Ellbogen an“. „Nazis Glory Film of Good Old Days”, Tanya Long, New York Times, 12. Dezember

Der Film endet mit Aufnahmen eines Gewaltaktes an Teilnehmern am Attentat auf Hitler 1944. Den Zuschauern fiel der Kontrast zwischen den Nürnberger Prozessen und dem Volksgericht durch die Nazis auf.

„Diese Szene, die zeigte, wie stark sich die Justiz gegen die Angeklagten davon unterscheidet, wie sie sich selbst benahmen, löste bei ihnen Erinnerungen an die vergangene Epoche aus. Rudolf Heß wollte beinahe der Rede Hitlers applaudieren.“   “Nazis Glory Film of Good Old Days”, Tanya Long, New York Times, 12. Dezember 

„Wäre der ganze Film dem US-Chefankläger Robert Jackson gezeigt worden, würde er selbst gerne den Reihen der Nazi-Partei beitreten – hörte ein Beobachter den Kommentar Hermann Görings im Saal 600”. “Nazis Glory Film of Good Old Days”, Tanya Long, New York Times, 12. Dezember 

Die Eindrücke der anderen Zuschauer waren nicht so inspirierend. „Uns scheint auch dieser Film unvollständig zu sein. Für die historische Ganzheit mangelt es an letzten Aufnahmen“, schlussfolgerte der Korrespondent der Zeitung „Prawda“, Leonid Leonow.

„Doch es besteht die Hoffnung, dass die Filmdreher zum Frühjahr das mangelnde Ende noch drehen werden, das zum Gerichtsurteil dieselben Akteure darstellen werden“, „Schatten von Barbarossa“, Leonid Leonow, „Prawda“, 20. Dezember

„Gespenster der Opfer drängten sich im Saal 600“

Die Dokumentar-Beweise der Gräueltaten waren so beeindruckend, dass es schien, dass die Szenen der Hinrichtungen der friedlichen Bevölkerung sich gerade im Gerichtssaal abspielten.

„Je länger sie diese Dokumente hören, desto bitterer wird es. Sie sehen unsere verbrennenden Dörfer, hören die Schreie der Kinder und Eltern während der Erschießungen, die von Hitler-Sklavenbesitzern zu Geiseln erklärt wurden“, „In Hitlers Zwangsarbeit“, Wsewolod

Wischnewski, „Prawda“, 15. Dezember

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„Eklatante Fakten belebten im Gedächtnis der Anwesenden die Gestalten der Opfer wieder, deren Gespenster sich im Saal 600 drängten, um Augenzeugen der Vergeltung gegen ihre Henker zu werden… Ich will jetzt über jene sagen, die jetzt beim Prozess nicht anwesend sind, sich aber unsichtbar im Gerichtssaal befinden, strikt hinter den Richtern stehen und dem Vorlesen der immer neuen schrecklichen Dokumente über die von Faschisten eingeführte Sklavenarbeit, die schreckliche Verschwörung Hitlers gegen die ganze Menschheit zuhören, schweigend zu Rauheit aufrufen und Rache fordern“. „Maria, weinen Sie nicht mehr!“, Boris Polewoi, „Prawda“, 13. Dezember

„Werden sie von nur acht Richtern gerichtet? Nein. Im Nürnberger Saal sind meine Brüder, meine Schwestern, Gefangene, bis zum Hunger Gequälte, die in Todeswaggons erstickten Schatten von Majdanek, Auschwitz, Treblinka, Blut der Geiseln und Asche der russischen Städte und die schwarze Wunde Leningrads. Der Gerichtsprozess wird geführt von der Menschheit, von jedem Menschen“, „Moral der Geschichte“, Ilja Erenburg, „Iswestija“, 1. Dezember