Hartley Shawcross und David Maxwell-Fyfe – zwei Gesichter der britischen Anklage bei den Nürnberger Prozessen

Sie schoben sich gegenseitig ihre Ämter zu, waren fast gleichaltrig, hatten eine ähnliche Herkunft und Ausbildung. Doch damit war es auch schon genug mit ihren Gemeinsamkeiten, und es begann „der Kampf der Gegensätze“ – der politischen, beruflichen, stilistischen und sogar epochalen.

Reisender vs. Stubenhocker

Die beiden kamen Anfang des 20. Jahrhunderts zur Welt: Maxwell-Fyfe 1900 und Shawcross 1902. Der Vater von Maxwell-Fyfe war Universitätsprofessor, der von Shawcross war Direktor eines Gymnasiums. Keiner von den beiden war reich, aber dank ihren Familien waren sie intelligent genug und seit ihren jungen Jahren arbeitsorientiert. Aber einer von ihnen verkörperte quasi die britische Vergangenheit und bekleidete Posten, die es seit dem Mittelalter gab, und folgte strikt der viktorianischen Moral. Und der andere war ein echter Sohn des 20. Jahrhunderts – des Jahrhunderts der Mobilität, der Experimente und der Aufgeklärtheit.

David Maxwell-Fyfe entschied sich seit seinen jungen Jahren für den Beruf eines Juristen und blieb ihm sein ganzes Leben treu. Er wurde in Großbritannien geboren, diente Großbritannien und lebte nur auf der Insel.

Hartley Shawcross wurde in Deutschland geboren, ging mit 16 Jahren in die Schweiz, um dort Französisch zu lernen und Arzt zu werden. Arzt wurde er zwar nie, sprach aber bald fließend Französisch und bot schon 1920 seine Dienste als Dolmetscher einer britischen Delegation an, die zu einem Kongress der sozialistischen Internationale nach Genf gekommen war.  Möglicherweise wurde er gerade damals mit sozialistischen Ideen „angesteckt“. Seine älteren Genossen empfahlen dem wortgewandten jungen Mann, den Bereich Medizin aufzugeben und eine politische Karriere zu machen. Und der beste Beruf für einen Politiker ist Jurist.

Shawcross kehrte auf die Insel zurück, studierte Jura und wurde Rechtsanwalt, eröffnete eine Kanzlei in Liverpool, zog aber bald nach London. Ende der 1920er-Jahre wurde er Aktivist der Labour Party, Abgeordneter und ein neuer Star auf dem Gebiet Jura. Zudem war Shawcross sein ganzes Leben lang ein attraktiver Mann.

Gleich sein erster Fall in London machte ihn bekannt in der Branche. Sein Mandant hatte einen sprechenden Papagei verkauft, der bei seinem neuen Herrchen kein einziges Wort sagen wollte. Der Käufer dachte, betrogen worden zu sein, und verlangte sein Geld zurück. Aber der 25-jährige Hartley Shawcross ließ den Vogel gleich im Gerichtssaal sprechen – und gewann den Prozess.

Berichterstatter vs. Vernehmungsrichter

Aber leider konnten die Teilnehmer und Zuschauer bei den Nürnberger Prozessen Shawcross‘ Talent als Vernehmungsrichter nicht bewerten, denn diese Rolle übernahm der pingelige Pedant David Maxwell-Fyfe. Seine Zeitgenossen fanden ihn langweilig, aber er konnte immerhin aus den Zeugen und Angeklagten die meisten Aussagen „herauskitzeln“.

Der raue Schotte mit einem „nahöstlichen Äußeren“ (so bezeichneten ihn seine Zeitgenossen) hatte sich schon seit seinen jungen Jahren für Politik und Jura entschieden. Er reiste nie durch Europa, war aber Militär, und zwar in beiden Weltkriegen. Er zeigte kein Interesse für sozialistische oder labouristische Ideen – Maxwell-Fyfe war ein überzeugter Tory.

Er stieg die „Karriere-Treppe“ hinauf, war dem großen Publikum kaum bekannt, genoss aber eine hohe Wertschätzung der Konservativen. 1942 wurde er von Winston Churchill zum Solicitor General und im Mai 1945 zum Generalstaatsanwalt ernannt.

Übrigens war Maxwell-Fyfe, wie auch sein „Patron“ Churchill, gegen die Idee des internationalen Gerichtshofs für Nazi-Kriegsverbrecher. Die beiden hätten es vorgezogen, sie ohne großes Aufsehen hinzurichten.

Maxwell-Fyfe nahm den Rittertitel dankbar an – dieser gebührte ihm auf seinem neuen Posten. Allerdings bekleidete er ihn nicht sehr lange: Die Konservativen verloren die nächste Wahl, und unmittelbar vor dem Start der Nürnberger Prozesse wurde zum Generalstaatsanwalt… Hartley Shawcross ernannt. Als wahrer Labourist und Sympathisant der Sozialisten wollte er auf den Titel verzichten, doch seine Parteikollegen ließen ihn das nicht tun.

Bei den Nürnberger Prozessen ist Shawcross vor allem durch zwei Episoden in Erinnerung geblieben. Die erste war mit seinem Auftritt mit der Einführungsrede im Namen der britischen Anklage verbunden. Beobachter verglichen sie mit einem „scharfen Rapier“, während die Reden des US-Anklägers Robert Jackson und des sowjetischen Kollegen Roman Rudenko eher „schweren Keulen“ ähnelten. Und zur zweiten Episode wurde die enorm emotionale Abschlussrede Shawcross‘.

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Die Zeit zwischen den beiden Auftritten (im Grunde die gesamten Nürnberger Prozesse) verbrachte Hartley Shawcross, der formell der britische Chefankläger war, in London – als Generalstaatsanwalt konnte er nicht ständig nach Nürnberg reisen. Die Augenzeugen des Tribunals identifizierten die britische Anklage mit David Maxwell-Fyfe.

Reicher Mann vs. armer Mann

Die Nürnberger Prozesse, die späten 1940er-Jahre – das war die Hochzeit der Karriere von Hartley Shawcross. Aber dann kamen die 1950er, und das war eine Zeit der Niederlagen für die Labour Party. Sir Hartley verlor seinen Posten und wurde offensichtlich von der Politik enttäuscht. 1958 verließ er die Rechtsanwaltschaft und trat aus der Partei aus. Als Peer auf Lebenszeit besuchte er lediglich Sitzungen des House of Lords.

Seit dieser Zeit interessierte er sich für Massenmedien und Geschäfte. Shawcross wurde Aufsichtsrat von mehreren Großunternehmen, kämpfte gegen Zensur. Und 20 Jahre lang, bis 1985, war er Rektor der University of Sussex.

Aber für seinen Kollegen und Konkurrenten David Maxwell-Fyfe wurden die Nürnberger Prozesse nur zu einer neuen Stufe – er ging weiter. Die Konservativen gewannen die Wahl, und Sir David wurde zum Innenminister und 1954 zum Lordkanzler ernannt. Das ist einer der höchsten Staatsposten im Vereinigten Königreich. Heutzutage werden allerdings Versuche unternommen, ihn der neuen Realität anzupassen, und jetzt übt man als Lordkanzler die Funktionen des Justizministers aus.

David Maxwell-Fyfe war ein richtiger Konservativer. Er ließ sich die Abschaffung der Todesstrafe nicht gefallen und kämpfte intensiv gegen Homosexuelle – als er an der Spitze des Innenministeriums stand, landeten schwule Männer massenweise hinter Gittern.

Sir David verstarb im Januar 1967. Er war sein ganzes Leben lang mit nur einer Frau verheiratet, mit der er drei Töchter hatte. Deshalb konnte seinen Titel eines Viscounts niemand erben. Als er starb, betrug sein Vermögen etwas mehr als 20 000 Pfund.

Hartley Shawcross lebte viel länger als sein Stellvertreter bei den Nürnberger Prozessen: Sir David lag schon längst im Grab, und Sir Hartley standen noch die dritte Ehe, ein großer Reichtum und sogar die „Reise“ ins 21. Jahrhundert bevor.

Noch als Jugendlicher heiratete er eine schwerkranke junge Frau – aus großer Liebe. Die Eheleute konnten keine Kinder haben, weil die Gattin permanent krank war. 1943 hatte sie keine Kraft mehr, um den Kampf ums Leben fortzusetzen, und beging am Ende Selbstmord. Einige Jahre später heiratete Shawcross zum zweiten Mal; aus dieser Ehe gingen drei Kinder hervor. Aber 1974 ereignete sich eine neue Tragödie: Die Gattin des Politikers fiel vom Pferd und starb.

Fast ein Vierteljahrhundert später heiratete der inzwischen 95-jährige Shawcross zum dritten Mal – seine langjährige Freundin. Seine schockierten Nachkommen verlangten die Scheidung unter dem Vorwand, dass ihr Vater angeblich handlungsunfähig war. Es begann ein aufsehenerregender Gerichtsprozess, den Shawcross‘ Kinder gewannen. Dann ging das Paar nach Gibraltar, wo ihre Ehe als gültig anerkannt wurde.

Hartley Shawcross starb 2003 im Alter von 101 Jahren.

„Ich fühle, dass ich ein glückliches Leben gelebt habe“, sagte er einmal. „Es war zwar nicht besonders gesund, dafür aber glücklich.“

 

Julia Ignatjewa