Reportage aus der Vergangenheit

Leonid Leonow kam ins zerstörte Nürnberg im Herbst 1945, auf dem Höhepunkt seines Ruhms. Seine Reportage „Faschistische Schlange“ in der Zeitung „Prawda“ wurde eine der markantesten Publikationen über die Nürnberger Prozesse.

Der Ausgangspunkt für den Text, seine wichtigste Metapher war die Bibel-Erzählung über die Schlange und Eva. Leonow erkannte sie auf dem Basrelief im Gerichtssaal des Justizpalastes in Nürnberg. In seinem Essay projizierte er die Figur der biblischen Eva auf Europa. Zwölf Länder des europäischen Kontinents gerieten wie Eva in ein Netz, das von der faschistischen Schlange gekonnt gestellt wurde.

Leonid Leonow „Faschistische Schlange“

„Prawda“ vom 2. Dezember 1945

„Als ich mich nach Nürnberg begab, nahm ich mir fest vor, nicht wie früher gegen die Kriegsverbrecher zu wettern. Die Wahrheit selbst wird nicht durch starkes Fluchen ausgeschmückt, Missachtung mildert unbewusst die Wut. Jeder Staatsbürger meines Landes hat gegenüber diesen Menschen dasselbe Gefühl in demselben Maße wie ich, ich habe nicht genug Begabung, dieses um das 200 Millionen-Fache zu erhöhen“.

Sowjetische Wache am Eingang zum Justizpalast am 7. Dezember 1945
Sowjetische Wache am Eingang zum Justizpalast am 7. Dezember 1945
© Evgeny Khaldei / RGAKFD Archiv Nr. A-6084

„Folgen Sie mir, ich werde Sie ins Gebäude des Nürnberger Gerichts führen. Wir gehen vom Grand Hotel direkt in den Nordwesten, entlang einer endlosen Reihe von fantastischen Ruinen. Man kann kaum glauben, dass noch vor kurzem Pilger hier entlang gingen, um das Haus von Dürer und die Glasfenster von Hirschvogel zu bewundern. Wir haben keine wertvollen Erinnerungen in Nürnberg; weder Dürer noch Melanchthon können die letzten Sünden Nürnbergs reinwaschen; deshalb machen die Scherben und die gezackten Teile der Armaturen keinen rührenden Eindruck auf uns.

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Wir müssen lange gehen, es war wegen Verwüstung und Schatten der Tausende Jahre alten Augen (…) ekelhaft, bis wir nicht von einem Wachmann gestoppt werden. Vor einem großen grauen Haus mit Türen wie Grabplatten. Der US-Soldat wird aus den Augenwinkeln auf unseren Ausweis blicken und durch die Zähne sagen: okay. Danach tauchen wir ein in Labyrinthe aus Korridoren und Treppen, voller Zugluft und Menschen, die aus allen Ecken der Welt Unmengen von Protokollen und Indizien hierher mitgebracht haben. Um 10 Uhr werden alle ihre Plätze einnehmen, dann beginnt der komplizierte Mechanismus des Internationalen Militärgerichtshofs seine Arbeit“.

„Wir sind keine Gäste in Deutschland, keine Pilger in Nürnberg. Aus dieser unseligen Stadt wollen wir uns an die Frauen der Erde wenden, damit sie die schädliche und verderbende Lüge nicht wahrnehmen, an die Frauen, die die künftigen Generationen von Dichtern, Wissenschaftlern und Soldaten zur Welt bringen. Die Zeit läuft, die Geschichte lacht, die Kinder erreichen ihr Wehrpflichtalter. Heute würde bei euch die eigene Erfahrung ausreichen, um diesen Gedanken fortzusetzen. Während im Ersten Weltkrieg, abgefunden mit den drohenden Schrecken, sie den Himmel nicht mehr um Glück für ihre Kinder baten, sondern darum, satt zu sein, ging es noch vor kurzem nicht mehr um Sattheit, sondern darum, unversehrt zu bleiben, wenn auch in einer Höhle, eine für fünf Menschen! Dieses Unheil richtete die Schlange in Europa an“.

Acht der Angeklagten in Nürnberg, circa 1945-1946. (Vordere Reihe, v.l.n.r.): Hermann Göring, Rudolf Heß, Joachim von Ribbentrop, Wilhelm Keitel; (Dahinter, v.l.n.r.): Karl Dönitz, Erich Raeder, Baldur von Schirach, Fritz Sauckel
Acht der Angeklagten in Nürnberg. (Vordere Reihe, v.l.n.r.): Hermann Göring, Rudolf Heß, Joachim von Ribbentrop, Wilhelm Keitel; (Dahinter, v.l.n.r.): Karl Dönitz, Erich Raeder, Baldur von Schirach, Fritz Sauckel
© National Archives and Records Administration

„Sie setzen sich 15 Schritte vor mir, gelblich, verwittert, grau. Lustige Lebensfreude war ihr Markenzeichen, als sie Anweisungen zur Germanisierung Europas und für das Unternehmen Barbarossa gaben; sie begannen erst zu verblassen, als sie das eigene Ende sahen. Sie sind nicht wie die Proleten von Auschwitz, keine einfachen Randalierer, Piraten und Ripper, sondern Meister und Aristokraten ihrer Sache. Animalische Schlauheit, diese Vernunft des Bösen leuchtet in den Augen eines jeden von ihnen. Der Teufel würde jeden von ihnen als Minister zu sich nehmen.

Es ist merkwürdig, beinahe hypnotisch faszinierend, das Monster zu beobachten, wenn man den Blick abwenden will, aber nicht kann. Wir schauen seit Stunden auf diese Amphibien, wobei man versucht ihre jetzigen Gedanken zu lesen. Doch das Scheusal lebt unter der Erde und will dem menschlichen Blick ausweichen, als ob man sich der Nacktheit und Hässlichkeit schämt“.

„Ich weiß nicht, wie mit ihnen umgegangen wird – werden sie öffentlich vor dem Reichstag erhängt oder wird Gnade durch Erschießen gezeigt oder wird mit ihnen so umgegangen, wie es einst Göring tat  – auf den Rücken gelegt und auf den Hals gehackt, so dass sie bis zum letzten Moment die Axt der Vergeltung sehen werden“.

Ich weiß nur, dass sie für alles Lebendige auf der Erde bereits Tote sind.

 

Natalja Sawjalowa