Jewgeni Chaldei, Fotograf bei den Nürnbergern Prozessen
Jewgeni Chaldei war nicht nur Fotograf bei den Nürnbergern Prozessen, sondern der einzige sowjetische Fotograf, der den Großen Vaterländischen Krieg vom ersten bis zum letzten Tag mit der Kamera begleitet hatte. Besonders ein Bild von ihm ging um die Welt.
Jewgeni Chaldei begleitete durchgehend den Krieg, die Befreiung Europas, die Kapitulation Deutschlands, die Potsdamer Konferenz, die Nürnberger Prozesse, die ersten Filmfestspiele in Cannes mit seiner Kamera. Sein Bild vom Hissen der sowjetischen Fahne auf dem Reichstagsgebäude schaffte es in die „Times“-Liste der „100 wichtigsten Fotos in der Geschichte“. Wie konnte es angesichts seines Schaffens dazu kommen, dass der Lieblingsfotograf von Marschall Schukow zehn Jahre lang keine feste Anstellung fand, während seiner Lebenszeit keine einzige persönliche Ausstellung in Moskau hatte und erst kurz vor dem Tod 1997 weltweit Anerkennung fand?
Juchim in Jusowka mit Papp-Kamera
Juchim Chaldei wurde im März 1917 in Jusowka (jetzt Donezk) in der Familie eines Gewürzhändlers geboren. Sein Leben begann hart – als Waise und mit einer Kugel in der Lunge. Als er erst ein Jahr alt war, wurde seine Familie Opfer eines Pogroms gegen die Juden. Vater Anani gelang es, sich mit den größeren Kindern zu verstecken. Der Großvater und die Mutter von Juchim wurden getötet. Mutter Anna hielt den Sohn in den Armen, als geschossen wurde. Die Kugel ging durch ihren Körper und traf die Lunge des Säuglings. Juchim blieb am Leben.
Der Junge wurde von der Oma nach strengen religiösen Traditionen erzogen. Er ging in die Synagoge, absolvierte vier Klassen der jüdischen Grundschule. Juchim fand Gefallen an Bildern in Zeitschriften, er war oft in einem Fotoatelier der Kleiman-Brüder. Später wurde er als Lehrling angestellt. Mit 14 Jahren bekam er eine Kamera. Zuvor hatte er eine selbstgebastelte Kamera aus Pappe, mit Gläsern aus Brillen der Oma.
Mit 13 Jahren begann er die Arbeit in einem Dampfbetriebswerk, er fuhr mit einer „Agitationsbrigade“ durch das Donezbecken, fotografierte Bestarbeiter. Seine Aufnahmen gefielen den Redaktionen der Lokalzeitungen, in den 1930er-Jahren wurden einige Fotos bei regionalen Ausstellungen ausgezeichnet.
1936 wurde Chaldei nach Moskau eingeladen. Mit 19 Jahren wurde er Fotokorrespondent der Nachrichtenagentur TASS. In dieser Zeit änderte er seinen Namen in Jewgeni.
Geheimmission Siegesfahne
Vom Beginn des Krieges erfuhr er in der Agentur, als er von einer Dienstreise nach Tarchany zurückkehrte. Damals befand sich das TASS-Büro in der Straße des 25. Oktober (heute Nikolskaja-Straße). Der junge Fotograf schaute aus dem Fenster, draußen versammelten sich Menschen vor einem Lautsprecher und diskutierten. Chaldei lief auf die Straße und machte seine erste Aufnahme vom Krieg – die Moskauer hörten eine Mitteilung des Volkskommissars Molotow über den heimtückischen Angriff Deutschlands auf die Sowjetunion.
Vor der Entsendung an die Front bekam Chaldei nur 100 Meter Film. Wie ihm gesagt wurde, braucht er nicht mehr, weil der Krieg sowieso in ein paar Wochen zu Ende sein würde. Zwischen dieser Aussage und dem letzten Kriegsfoto Chaldeis – das Hissen der Siegesfahne auf dem Reichstag – vergingen 1418 Tage. In dieser Zeit bannte Chaldei die Geschichte des Krieges auf Film. Als Techniker-Intendant 1. Ranges der Kriegsflotte fotografierte er Kämpfe hinter dem Polarkreis, die Kämpfe um Sewastopol und Kertsch, die Befreiung Rumäniens, Bulgariens, Jugoslawiens, Ungarns und die Einnahme Berlins.
Lesen Sie auch
Viel später erzählte Chaldei, wie er sein berühmtestes Foto machte – das Hissen der Siegesfahne auf dem Reichstag. Er verheimlichte nicht, dass es ein gestelltes Foto war. Drei Fahnen wurden aus roten Tischdecken bereits in Moskau gefertigt. Chaldei nähte die Fahne mit dem Schneider Israel Kischitzer zusammen, mit Hammer und Sichel, die aus weißen Betttüchern ausgeschnitten wurden. Die roten Tischdecken tauschte er beim damaligen Hausmeister von TASS, Grigori Ljublinski, gegen zwei Flaschen Wodka und versprach, sie bald zurückzubringen. Damit seine Idee nicht aufgedeckt wurde, versteckte er die Tischdecken unter seiner Jacke und kam so nach Berlin.
Mit den Nazis hatte Chaldei noch eine persönliche Rechnung offen. 1941 tötete die Gestapo seinen Vater und drei Schwestern. Sie konnten Donezk vor der Ankunft der Deutschen nicht verlassen. Als die Faschisten die Stadt besetzten, wurde die jüdische Familie von Nachbarn verraten.
So fotografierte er Göring
Bei den Nürnberger Prozessen wurden drei Kriegsfotos Chaldeis als Beweis der durch Nazis verübten Verbrechen den Akten beigelegt. Das waren Fotos des zerstörten Sewastopols, Opfer im Hof eines Rostower Gefängnisses und die Schornsteine der niedergebrannten Häuser von Murmansk. Murmansk war voller Holzhäuser. Nach einem deutschen Luftangriff brannte die ganze Stadt nieder, es blieben nur Öfen übrig.
In Nürnberg war Chaldei ein von der Nachrichtenagentur TASS akkreditierter Fotojournalist.
„Ich fotografiere die Vergeltung“, sagte er.
Von der Reise nach Nürnberg konnte er die üblichen Fotos mitbringen – Aufnahmen von den Trümmern in der Stadt, des Gerichtssaals, die für alle Fotografen zugänglichen Phasen des Prozesses. Doch er wollte etwas Besonderes darstellen.
Im Fokus der Aufmerksamkeit der Zuschauer und der Presse waren die Angeklagten, vor allem Hermann Göring – nach Hitler die Nazi Nummer zwei in der Rangordnung. Chaldei zerbrach sich den Kopf, wie er Göring fotografieren könnte, um einzigartige Fotos zu bekommen. Der Sekretär des Obersten Richters auf sowjetischer Seite, Iona Nikitschenko, erlaubte ihn, dessen Platz im Sekretariat für kurze Zeit einzunehmen, von wo er einen sehr guten Blick hatte. Zwei Flaschen Whiskey erhielt der Sekretär für seine Zustimmung, nach einer Pause zwischen zwei Sitzungen etwas später zurückzukommen. Während der Pause stellte Chaldei die Kamera auf den Boden, damit niemand sie bemerkt, und setzte sich auf den Platz des Sekretärs. Als Göring zum Kreuzverhör aufgerufen wurde und zwei auf beiden Seiten stehenden US-Soldaten ihre Knüppel in die Hand nahmen, machte Chaldei ein Foto, das in vielen Zeitungen weltweit veröffentlicht wurde.
Chaldei riskierte es – es war immerhin ein grober Verstoß gegen die Vorschriften. Die amerikanische Wache, die für Ordnung im Gerichtssaal verantwortlich war, hätte den russischen Fotokorrespondenten einfach rauswerfen und seine Akkreditierung entziehen können.
Seine Kamera Speed Graphic hatte Jewgeni Chaldei vom „Vater“ der Kriegsfotografie, Robert Capa, geschenkt bekommen. Gerade Capa war der Autor des Bildes, auf dem Chaldei mit seiner „Speed Graphic“-Kamera in der Hand vor Göring steht, der sein Gesicht mit den Händen bedeckt hat. Der Grund dieser unfreundlichen Geste war Jewgeni Chaldei. Irgendwann, noch vor dem Zwischenfall beim Kreuzverhör Görings, hatte eine Gruppe von Fotokorrespondenten (Chaldei war unter ihnen) die Gefängniskantine während des Mittagessens besucht, um den Alltag der Häftlinge zu fotografieren. Sobald Chaldei, in sowjetischer Uniform, dort auftauchte, schlug Göring mit der Faust auf den Tisch und begann laut zu reden. Damals musste ein US-Soldat ihm mit einem Gummiknüppel auf den Nacken schlagen. Göring beruhigte sich sofort und behinderte die Aufnahmen nicht mehr. Aber jetzt wollte er sich im Sitzungssaal rächen – und versteckte sein Gesicht hinter den Händen.
Punkt Nr. 5
Man könnte denken, dass Jewgeni Chaldeis berufliches Leben nach dem Kriegsende von Erfolg geprägt war. Er fotografierte immerhin Schukow und Stalin und war der einzige sowjetische Korrespondent, der im Sommer 1945 zur Potsdamer Konferenz reisen durfte. Aber 1948 begann in der Sowjetunion der Kampf „gegen den Kosmopolitismus“. Unter anderem bedeutete das, dass Juden alle mehr oder weniger wichtigen Posten räumen mussten. Auch Jewgeni Chaldei war davon betroffen. Er wurde neben vier weiteren Kollegen aus der Nachrichtenagentur TASS entlassen, und zwar wegen angeblich mangelnder „politischer Kenntnisse“ und wegen angeblich mangelnder Professionalität. Aber die vier Kollegen durften irgendwann später zur Arbeit zurückkehren, und er nicht. Chaldei bemerkte, dass es sich dabei um den umstrittenen „Punkt Nr. 5“ im sowjetischen Pass handelte, wo seine Nationalität angegeben war: Jude. Es wurde ihm übelgenommen, dass er acht Jahre lang Kandidat für den Beitritt zur KPdSU gewesen, der Partei aber nie beigetreten war. Seine Tochter Anna erzählte zudem, dass man ihrem Vater vorgeworfen habe, dass er einmal in Paris, wo er die dortige Friedenskonferenz fotografierte, Kodak-Filme gekauft hatte.
1948 begannen im Leben Chaldeis schwere Zeiten, als er keinen festen Job hatte und permanent auf „eine Bestrafung“ warten musste. Aus Angst für seine Familie und sich selbst vernichtete er die Negative von manchen Fotos, auf denen Personen abgebildet waren, die für die Machthaber „ungünstig“ waren. Unter anderem waren das die Negative von Fotos des Schauspielers Solomon Michoels, der 1948 ermordet wurde.
Zeitungen und Zeitschriften wollten Chaldeis Bilder nicht veröffentlichen. Mit Mühe und Not fand er eine Anstellung als freier Mitarbeiter der Gewerkschaftszeitschrift „Klub und chudoschestwennaja samodejatelnost“, für die er, der frühere Kriegsfotograf, nur Bilder von Tanzauftritten machte.
Erst 1959 fand Jewgeni Chaldei einen Job bei der Zeitung „Prawda“ – unter Mitwirkung des Dichters Konstantin Simonow. In der Redaktion der wichtigsten Zeitung des Landes arbeitete er 13 Jahre lang, bis ein neuer Leiter der Personalabteilung ernannt wurde. So erzählte Chaldei diese Geschichte in einem Dokumentarfilm: „Es kam ein neuer Chef der Personalabteilung, und er machte kein Hehl daraus, dass er ein Antisemit war. Es gibt ja latente Antisemiten, und dieser war offen. Und er sagte: ‚Ich werde mich nicht beruhigen, solange nur ein einziger Jude in der Zeitung arbeitet.‘ Und da ist kein einziger geblieben. Irgendwann hat es auch mich erwischt.“ Anschließend musste Chaldei sich eine neue Arbeit suchen. Von 1973 bis 1976 war er Fotograf der Zeitschrift „Sowjetskaja Kultura“, und später ging er in den Ruhestand.
„Woher seid Ihr, Soldaten?“
Das Schicksal von Jewgeni Chaldei war ohnehin interessant genug, um verfilmt zu werden. Aber ein Film über sein Leben wurde erst 1997 gedreht, vom belgischen Regisseur Marc-Henri Wajnberg. Zwei Jahre zuvor war Chaldei in Perpignan mit dem französischen Orden der Künste und der Literatur ausgezeichnet worden.
Für die Veröffentlichung eines kleinen Fotos im „Time“-Magazin bekam Jewgeni Chaldei einmal ein Honorar in Höhe von 200 Dollar. Zum Vergleich: Seine Rente in der Sowjetunion betrug nur ein Sechstel davon.
„Für Wurst. Ich gebe alles für Wurst aus. Manchmal für Würstchen“, zeigte Chaldei in dem Film den Umschlag, in das sein Honorar gesteckt worden war. Doch er verlor trotz aller Widrigkeiten nie seinen Lebensmut.
Wie es sich für einen Dokumentaristen gehört, hatte Jewgeni Chaldei ein sehr gutes Gedächtnis und kannte jeden, der ins Objektiv seiner Kamera geraten war. Er kannte die Namen und die Schicksale dieser Menschen – und konnte die Geschichte praktisch jedes Fotos erzählen. Er suchte intensiv nach seinen „Helden“, indem er sich an die Leser der Zeitungen wandte, in denen seine Bilder veröffentlicht wurden. In seinem Album „Von Murmansk bis Berlin“ erinnerte sich Chaldei: „Meine Erzählung darüber, wie dieses oder jenes Foto gemacht wurde, endete mit der Frage: ‚Woher seid Ihr, Soldaten?‘ Und sie antworteten: ‚Wir sind aus Stalingrad hierhergekommen. Und wir aus Sewastopol. Und wir aus Kursk oder Brjansk.‘“ Chaldei erhielt Briefe mit seinen Fotos, auf denen manche Gesichter eingekreist waren – Menschen erkannten darauf ihre Nächsten. Oder sie fragten den Fotografen, ob das ihre Verwandten sein könnten, und fragten nach irgendwelchen Informationen über sie.
30 Jahre nach dem Sieg traf sich Jewgeni Chaldei mit vielen seiner „Helden“, um sie wieder zu fotografieren – diesmal mit ihren Enkelkindern. Er spürte quasi seine Verantwortung für ihre Schicksale. Im Rentenalter veröffentlichte Chaldei ein Album mit diesen Bildern.
Und noch hatte er immer großes Vertrauen zu den Menschen. Aber leider fanden sich solche, die das ausnutzten. 1996 schlug ihm beispielsweise ein US-amerikanischer Galerist vor, seine „Leica“-Kamera, die ihn auf dem Weg von Murmansk bis Berlin begleitet hatte, gegen eine ähnliche Kamera einzutauschen, unter der Bedingung, dass seine legendäre „Leica“ in einem Fotomuseum in Los Angeles ausgestellt werden sollte. Chaldei stimmte zu. Laut seiner Tochter Anna versteigerte diese Person seine „Leica“ für 200 000 Dollar, und das Museum wartete vergeblich auf die Kamera. Jewgeni Chaldei erfuhr das nicht mehr: Er verstarb im Oktober 1997.
„Dieses Objektiv hat alle (sowjetischen) Staatsoberhäupter gesehen: Stalin, Chruschtschow, Breschnew, Andropow, Tschernenko, Gorbatschow, Jelzin… Und wer wird der nächste sein? Ich weiß nicht, ob ich den nächsten noch fotografieren kann“, sagte Chaldei in dem belgischen Dokumentarfilm. Ein Jahr nach seinem Tod wurde in Moskau seine erste persönliche Ausstellung eröffnet.
Quellen:
- Jewgeni Chaldei. „Von Murmansk bis Berlin“.
- Jewgeni Chaldei. Rubrik „Personen TASS“ in der digitalen Enzyklopädie der Nachrichtenagentur TASS.
- Anna Chaldei: „Mein Vater spürte immer die Verantwortung für die Menschen, die er fotografierte“/Interview für die Sendung „Eurasien buchstäblich“ des TV-Senders „M24“, 24. Februar 2020.
- Anna Chaldei: „Er hockte zu Hause und zerschlug die Gläser mit den Michoels-Negativen“/Interview Anna Chaldeis für die Website „Lechaim“, 24. Mai 2017.
- „Kilometer von Filmen und Tausende Tage. Das Leben und das Werk des Fotografen Jewgeni Chaldei/TASS.
- „Evgueni Khaldei, photographer under Stalin“, Dokumentarfilm. Regisseur Marc-Henri Wajnberg, 1997.