Dokumentation über KZ-Lager schockierte die Angeklagten

Dokumentation über KZ-Lager schockierte die Angeklagten – ein Teil war erschrocken, der andere Teil empört

Die US-Ankläger, die im Sitzungssaal des Militärgerichtshofs am 29. November auftraten, machten sich kaum Gedanken über die Dramaturgie dieses Tages. Die Angeklagten erlebten einen emotionalen Schock. Zunächst waren sie einigermaßen gut gelaunt – das Thema Anschluss Österreichs schien bei ihnen für Belustigung zu sorgen. Doch als die Ankläger den Film „Nazi-KZ-Lager“ zeigten, war es mit der guten Laune auf der Anklagebank vorbei.

Nach Hollywood-Gesetzen

Göring, Ribbentrop und Hess lachten laut, als die Ankläger die Stenogramme der Telefongespräche kurz vor dem Anschluss Österreichs vorlasen. Sie sahen nichts Schlechtes in dem Fakt der Zerstörung der österreichischen Staatlichkeit durch bewaffnete Erpressung. Laut Göring waren diese Gespräche einfach dummes Zeug, wie der US-Kriegspsychologe Gustave Gilbert im „Nürnberger Tagebuch“ betonte.

Der Tag näherte sich dem Ende, als auf die Anklagebühne der Vertreter der USA, Oberst Robert Storey, kam. Er schlug dem Gericht vor, sich einen Film anzusehen, der aus Dokumentaraufnahmen zusammengestellt wurde, die von US-Kameraleuten während der Befreiung der KZ-Lager gefilmt wurden. Den Film hatte der Leutnant der US-Kriegsmarine Ray Kellogg gedreht, der vor dem Krieg als Kameramann bei den 20th Century Fox Studios arbeitete und danach Regisseur wurde. Übrigens lernte er während des Krieges den berühmten Regisseur und damaligen Marinekapitän John Ford kennen, der ebenfalls Chroniken aus Frontaufnahmen erstellte und sogar mit zwei Oscar-Preisen ausgezeichnet wurde. Ford ließ Kellogg eidesstattlich versichern, dass die Aufnahmen echt waren.

Die Angeklagten begriffen wohl nicht, wie ernst die Amerikaner es mit ihrer Filmkunst meinen, und erwarteten nichts Besonderes von diesem Film.

„Der Film wurde auf schriftliche Bitte der Anwälte den Verteidigern vorgestern am Abend in diesem Saal gezeigt“, sagte Storey. „Ich bat persönlich Dr. Dix (Rudolf Dix war einer der Anwälte von Hjalmar Schacht – Anm.d.Red.), die Verteidigung zu diesem Film einzuladen. Acht von ihnen sind gekommen. Dr. Dix teilte mir mit, dass er nicht kommt, wenn das nicht obligatorisch ist“.

Die Anwälte hatten die Einladung vergeblich ignoriert. Der Ankläger versprach zu beweisen, dass „jeder Angeklagte von der Existenz der KZ-Lager Kenntnis hat. Angst, Terror und unglaublicher Schrecken der KZ-Lager waren Instrumente, mit denen die Angeklagten die Macht an sich klammerten und die Opposition bei jedem ihrer Pläne unterdrückten“.

„Leichenberge auf dem Bildschirm“

Wie die Angeklagten reagierten, als die Aufnahmen der Untaten, die ihre Unterstellten und Gleichgesinnten begangen hatten, gezeigt wurden, beschrieb Gustave Gilbert in seinem Buch: Fritsche ist blass und gelähmt vor Schrecken, als auf dem Bildschirm Aufnahmen auftauchen, wo Gefangene in einem Stall lebendig verbrannt werden… Keitel wischt sich den Schweiß von der Stirn, nimmt die Kopfhörer ab… Neurath senkt den Kopf, schaut nicht auf die Leinwand… Funk steht mit geschlossenen Augen und schüttelt ab und zu den Kopf…. Ribbentrop schließt die Augen fest und blickt in eine andere Richtung… Frank versucht, die Tränen zurückzuhalten… Göring stützt sich auf die Anklagebank und blickt wie verschlafen nur selten auf die Leinwand…

Streicher schaut auf die Leinwand, er sitzt unbeweglich, wie eine Statue… Frick schüttelt den Kopf, als die Aufnahmen eines „gewaltsamen Todes“ gezeigt werden… Rosenberg bewegt sich unruhig auf seinem Platz… wirft manchmal einen schnellen Blick auf die Leinwand, senkt den Kopf und blickt dann wieder nach oben, um die Reaktion der anderen zu sehen… Seyss-Inquart erträgt alles stoisch… Speer sitzt deprimiert… Die Verteidiger sagen zuweilen während des Films: „Gott, so schrecklich“. Raeder blickt erstarrt auf die Leinwand… Papen sitzt mit den Händen am Kopf, blickt auf den Boden, bislang hat er nicht auf die Leiwand geschaut… Hess blickt verwirrt vor sich… auf der Leinwand sind Berge von Leichen in den Arbeitslagern… Schirach sitzt mit traurigem Gesicht da, stützt sich auf den  Ellbogen… Dönitz senkt den Kopf, schaut nicht mehr auf die Leinwand… Sauckel  schaudert, als der Ofen des Krematoriums in Buchenwald… ein Lampenschirm aus Menschenhaut gezeigt wird… Streicher sagt: „Ich glaube das nicht!“… die Anwälte ächzen… Jetzt Dachau… Schacht ignoriert weiter die Leinwand… Dönitz sitzt mit den Händen am Kopf da. Auch Keitel senkt den Kopf… Frick schüttelt misstrauisch den Kopf, als eine Ärztin Experimente an weiblichen Gefangenen im Lager Bergen-Belsen beschreibt… Ribbentrop presst die Lippen zusammen, blickt mit rot geäderten Augen in eine andere Richtung… Funk weint bitterlich, als nackte Frauenleichen, die in einen Graben geworfen werden, gezeigt werden… Keitel und Ribbentrop blicken auf die Leinwand, als ein Bulldozer erwähnt wird, der Leichen zusammenschiebt… Nach diesen Aufnahmen senken sie den Kopf… Streicher zeigt sich erstmals unruhig… Ende.

„Schrecklicher Film hat alles verdorben“

Der Tag, der so „lustig“ begonnen hat, endete mit einer Katastrophe. Der Gerichtspsychologe Gustave Gilbert sprach mit jedem Angeklagten.

Der Propagandist und rechte Hand von Goebbels, Hans Fritzsche, weinte bitterlich über das traurige Schicksal seiner Heimat – „Keine Macht des Himmels oder der Erde wird diese Schande von meinem Land nehmen! – nicht in Generationen, nicht in Jahrhunderten!“. Reichsjugendführer Baldur von Schirach bevorzugte es, die Schuld auf alle Deutschen zu schieben – er verstehe nicht, wie die Deutschen dazu fähig waren! Der Lieblingsarchitekt Hitlers und Reichsminister für Bewaffnung und Munition Albert Speer entschuldigte hingegen seine Landsleute – er sagte, dass an allem die Führer, jedoch nicht das deutsche Volk schuld seien.

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Genozid
Der Chef-Finanzier des Dritten Reichs, Hjalmar Schacht, hatte keine Vorwürfe an das Dritte Reich oder seine Bevölkerung, nur gegen den Militärgerichtshof Nürnberg –  wie konnte man ihn dazu zwingen, auf einer Anklagebank mit diesen Verbrechern zu sitzen und einen Film über die Grausamkeiten der KZ-Lager anzusehen?! Man wisse doch, dass er Gegner Hitlers gewesen sei und selbst im KZ-Lager landete! Das sei unverzeihlich, sagte er. Karl Dönitz, Oberbefehlshaber der Kriegsmarine, der kurz nach Hitlers Tod als Staatsoberhaupt amtierte, sicherte wie Schacht zu, dass er damit gar nichts zu tun habe – er sei durch Zufall in dieses verantwortungsvolle Amt gelangt und hätte nie etwas mit der Partei zu tun gehabt.

Feldmarschall Wilhelm Keitel teilte seine Gedanken während des Essens mit und sprach laut Gilbert mit vollem Mund – Das sei schrecklich. Wenn er solche Dinge sehe, schäme er sich, dass er Deutscher sei. Das seien alles diese SS-Schweine. Minister Joachim von Ribbentrop versuchte, den Führer zu verteidigen – Hitler hätte einen solchen Film nie ertragen können, wenn dies ihm gezeigt worden wäre. Man könne nicht glauben, dass auch Himmler imstande gewesen sei, so etwas zu befehlen.

Der extrem antisemitische Herausgeber Julius Streicher nannte den Film schrecklich und bat, der Wache im Korridor zu sagen, dass sie leiser sein sollten, denn er könne nicht einschlafen. Hermann Göring war mehr über seinen Gesundheitszustand als über das Gesehene besorgt – „Es war so ein angenehmer Tag nach dem Mittagessen, alles war gut, bis dieser Film gezeigt wurde. Es wurde die Aufnahme meines Telefongesprächs über Österreich vorgelesen, alle lachten, ich auch. Und dann dieser schreckliche Film, er verdarb alles.“

Nur der Generalgouverneur des polnischen Staates, Mitverfasser der rechtlichen Grundlage des Nazismus, Hans Frank, befand sich für schuldig – Wir lebten wie Könige, glaubten an dieses Monstrum! Glaubt niemandem von ihnen, wenn sie ihnen erzählen werden, dass sie nichts gewusst haben. Sie wollten nichts wissen! Es war zu verlockend, dieses System abzuschöpfen, damit die eigene Familie in Luxus lebt, und glaubt, dass alles in Ordnung sei… Ihre Gefangenen wie auch andere Landsleute starben an Hunger in unseren Lagern. Herr Doktor, was ich ihnen heute erzählt habe, so ist es.

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