Am 15. Oktober 1946 erfuhr die ganze Welt die sensationelle Nachricht: Der zum Erhängen verurteilte Hermann Göring hat am Vortag seiner Hinrichtung Selbstmord begangen. Damit konnte er dieser Schande entgehen und hat diese Welt quasi unter seinen Bedingungen verlassen. Der Angeklagte, der im Dritten Reich als „Nazi Nummer zwei“ bekannt war, führte eine offene Schlacht gegen den Internationalen Militärgerichtshof, indem er seinen Ansichten treu blieb und seine Verbrechen für keine Sekunde bereute. Göring unterschied sich radikal von seinen Nachbarn auf der Anklagebank, die er als „Weicheier“, „Verräter der Ideale“, „Feigen“ und „Verräter des Vaterlandes“ verachtete. Göring war der wahre Feind, das personifizierte Übel – und die Anklage musste sich ein langes Gefecht gegen ihn liefern. Göring war ein einmaliger Gegner – trotz des ganzen Hasses ihm gegenüber mussten alle Ankläger in Nürnberg einräumen, dass sich der vom Stolz und Eitel besessene „Nazi Nummer zwei“ als mutiger, charakterstarker und kompromissloser Kriegsoffizier und richtiges Fliegerass zeigte. Sein Verhalten während des Prozesses war quasi die Chronik eines stürzenden Bombers.
„Der Märtyrer“
In seinem letzten Wort sagte Hermann Göring: „Der Sieger ist immer der Richter, und der Verlierer ist der Verurteilte. Ich erkenne die Beschlüsse dieser Gerichtsfarce nicht… Ich freue mich, dass ich zum Tode verurteilt wurde… Denn wer im Gefängnis sitzt, der wird nie zum Märtyrer erklärt.“
Am Anfang des Prozesses zeugte sein Verhalten davon, dass er mit einer Haftstrafe davon kommt. Dann begriff Göring, dass die Chancen dafür gleich null waren. Zu seinem Urteil sagte er draufgängerisch: „Das Todesurteil bedeutet mir nichts. Ich habe keine Angst vor Strafen, seitdem ich zwölf bin.“
In seinem Abschiedsbrief an Churchill schrieb Göring:
„Sie glauben ja, alles so clever organisiert zu haben, indem sie die historische Wahrheit dem Handvoll von ambitionierten juristischen Sophisten überlassen haben, die sie in irgendein dialektisches Traktat verwandeln, in dem es von allen möglichen Griffen und Kniffen wimmelt, obwohl Sie als Brite und als Staatsperson bestens wissen, dass man lebenswichtige Probleme der Völker mit solchen Methoden weder in der Vergangenheit lösen oder bewerten konnte noch künftig lösen kann. Ich weiß nur viel zu gut über Ihre Kraft und über die Schlauheit Ihres Kopfes, um zu denken, Sie könnten an die vulgären Parolen glauben, mit denen Sie den Krieg gegen uns unterstützen und versuchen, Ihren Sieg gegen uns groß zu reden, indem Sie dieses billige Spektakel organisiert haben.“
Göring machte sich Sorgen. Aber er glaubte, immer noch in guter Form zu sein.
Die gescheiterte Hoffnung
Wahrscheinlich wurde er dabei von seinem… Ehrgeiz getrieben. Einst durfte nur er und niemand sonst als „Nazi Nummer zwei“ bezeichnet werden. Irgendwann später beanspruchten aber auch Reichsminister Heß oder Reichsführer Himmler, oder auch Reichsleiter Bormann und sogar der Reichspropagandist Goebbels diesen Titel. Jetzt waren drei von ihnen nicht mehr am Leben, und Heß hatte noch vor seiner Ankunft in London das Gesicht verloren. Aber vor allem war Hitler nicht mehr da. Also…
Also war er, Reichsmarschall Göring, bei dem historischen Internationalen Militärgerichtsprozess in Nürnberg nicht mehr „die Nummer zwei“. Er war automatisch zum „Nazi Nummer eins“ gestiegen.
Während des Gerichtsprozesses war Görings Taktik wohl am meisten interessant. Mal verspottete er die Anklage, mal log er unverhohlen, mal provozierte er die anderen Teilnehmer der Sitzung. Er spielte seine Rolle auf dieser großen historischen Bühne – das dachte er jedenfalls selbst. Aber das Ende war ganz einfach und banal. Am Tag der Urteilsverkündung wurde zunächst über die anderen gesprochen, und nach der Mittagspause, um 14.50 Uhr, wurde endlich gesagt: „Der Internationale Militärgerichtshof verurteilt Sie zur Hinrichtung durch Erhängen.“ Der Richter fügte noch hinzu: „Die Schuld dieser Person ist beispiellos, und ihre Verbrechen waren so furchtbar, dass sie durch nichts gerechtfertigt werden können.“
Die letzten Reden wurden schon gehalten, die letzten Briefe wurden geschrieben. Von Churchill kam nie eine Antwort.
Da blieb Göring nur noch, ein Märtyrer zu werden. Eigentlich war er charakterlich stark genug, auch auf den Galgen zu gehen, um Märtyrer zu werden. Aber möglicherweise war er inzwischen tatsächlich moralisch gebrochen – er glaubte inzwischen selbst nicht mehr an sein künftiges Märtyrertum. Aber möglicherweise hat ihm sein Hochmut auf den anderen Weg hingewiesen: die Henker zu überholen und sich auf seine Art zu verabschieden – ohne sich den Siegern zu ergeben.
Im Rahmen des Projekts „Nuremberg. Casus pacis“ wurde bereits die Biografie des „Nazis Nummer zwei“ nacherzählt (LINK). Wir erwähnen einmal mehr die Meilensteine auf dem Weg, den Göring gegangen ist – vom braven Piloten bis zum „abgeschossenen Ass“.
Der junge Veteran
Im Jahr 1914 verlangte der damals 20-jährige Fahnenjunker, Infanterist Hermann Göring, dass man ihn in die Luftwaffe überführte. Dort wurde er Mechaniker und Beobachter, und ein Jahr später durfte er Pilot der Aufklärungs-, Bomber- und schließlich auch Jagdfliegerkräfte werden. Er war damals ein wirklich angstloser junger Mann. Er konnte insgesamt 22 gegnerische Flugzeuge abschießen, wurde mit drei Orden ausgezeichnet und zum Kommandeur einer Jagdstaffel – und zum Hauptmann – ernannt. Nach dem Krieg blieb Göring der Luftwaffe treu, beteiligte sich an Schauflügen, ging an die Universität studieren und heiratete Carin von Kantzow, die bis dahin mit einem Schweden verheiratet gewesen war. Göring war 1,78 Meter groß (damals war das sehr viel), zweifellos hübsch, charmant, mutig und ambitioniert. Eigentlich hätte sich sein Leben auch ganz anders entwickeln können.
Berater
1922 lernte Göring in München Adolf Hitler kennen, dem er auf Anhieb glaubte. Aber es gab da noch einen Umstand – nicht nur er, sondern auch Carin glaubte an Hitler. Und sie wurde nahezu ein noch größerer Nazi als ihr Mann selbst.
Der Führer und seine NSDAP brauchten dringend solche Kriegshelden – und Göring war der beste von allen. Hitler ernannte ihn sofort zum Oberchef der Sturmabteilungen – und damit wurden Göring und Ernst Röhm auf einmal größte Feinde. Am 9. November 1923 beteiligte sich Göring am Hitlerputsch, ging mit dem Führer Schulter an Schulter und erlitt eine schwere Verletzung. Seine Frau führte ihn ins Ausland aus, wo er wieder gesund wurde. Allerdings nahm er in dieser Zeit stark zu. Er wollte unbedingt nach Deutschland zurückkehren, aber der gerührte Führer bat ihn, darauf zunächst zu verzichten, „um sich für den Nationalsozialismus zu bewahren“. Als Hitler im Gefängnis saß, hat Carin Göring ihn besucht – und die Bestätigung bekommen, dass ihr Mann der größte und nächste Mitkämpfer des Führers war.
Nazi Nummer zwei
1927 kehrte Göring endlich nach Deutschland zurück. Dann begann der steile Aufstieg seiner Karriere. Er war immerhin ein Held, ein Fliegerass, ein Vorzeigemann in jeder Hinsicht, auch wenn er nicht mehr so attraktiv aussah – wegen der Fettpolster am Bauch. Ausgerechnet Göring wurde zum Reichstagspräsidenten, der die Regierung von Papens entließ und Hitler damit den Weg an die Machtspitze ebnete. Er war derjenige, der die geheime Staatspolizei (Gestapo) ins Leben rief und zu ihrem ersten Chef wurde. Ausgerechnet ihm gehörte die Initiative zur Nacht der langen Messer, dank der Hitler von den Stürmern und er selbst von Röhm befreit wurde. 1935 wurde Görings Position im Dritten Reich einmalig: Hitler ernannte ihn mehrmals zum Helden und zu seinem nächsten Mitstreiter, und er wurde unantastbar – und genoss quasi unbeschränkte Rechte und Möglichkeiten. So wollte Göring Reichsforstmeister werden – und bekam den Posten. Er wollte General werden – und bekam diesen Dienstrang, obwohl er bis dahin nur Hauptmann gewesen war. Er wollte Feldmarschall der Luftwaffe werden – und wurde an ihre Spitze gestellt. Im Juni 1941 wurde er offiziell zu Hitlers Nachfolger ernannt, falls der Führer ums Leben kommen sollte. Am 30. Juli 1941 unterzeichnete Göring das Dokument über die „Endlösung der Judenfrage“, das Vernichtung von etwa 20 Millionen Juden vorsah.
Aber ab irgendwann hatte Hitler seine Zweifel an Göring, der inzwischen immer mehr seine zweite Natur erscheinen ließ.
„Taschengeld“
Hier ein interessanter Auszug aus einem Verhörs Görings:
Woher nahmen Sie das Geld?
Ich war der zweite Mann im Land und hatte immer genug Geld zur Verfügung. Ich habe selbst Bewilligungen unterschrieben.
Und genauso bekamen Sie auch ausländische Zahlungsmittel, ausländische Währungen?
Ja, ich war selbst die letzte Instanz, die das genehmigte.
Gab es da ein „richtiges“ Procedere nötig? Wurde das entsprechend registriert?
Es war nur die Genehmigung nötig, aber in meinem Fall kam das nicht einmal infrage.
Wenn Sie ins Ausland gingen und eine große Summe in eine andere Währung brauchten, wie haben Sie dieses Geld bekommen?
Ich brauchte nie sehr große Summen. Wenn ich eine Auslandsreise plante, berechnete ich, wieviel Geld ich brauchen würde, und beantragte dann die entsprechende Währung.
Und wie hatten Sie Geld vor dem Krieg bekommen?
Wie jede andere Privatperson, die ins Ausland musste. Bargeld, das in den ersten Tagen nötig waren, trug ich in der Tasche. Und für alles andere bekam ich einen Kreditbrief.
Wie haben Sie für Bilder bezahlt?
Immer bar.
Wie war ihr Jahreseinkommen?
Als Reichsmarschall bekam ich 20 000 Mark pro Monat, als Befehlshaber der Luftwaffe 3600 Mark pro Monat nach Steuerabzug. Als Reichstagspräsident bekam ich 1600 Mark. Darüber hinaus bekam ich Honorare für meine Literaturwerke. Das Einkommen für meine Bücher machte etwa eine Million Mark aus.
Kostete Ihr Lebensstil etwa nicht mehr als diese Summen?
Ein Teil meiner Ausgaben wurde mit anderen Mitteln gedeckt, und meine Residenzen in Berlin und Carinhall wurden vom Staat unterhalten.
Der Lebensstil und dessen Kosten
Görings „Dienstwohnung“ wurde etwa 60 Kilometer von Berlin gebaut. Sie wurde gleich von zwei Architekten entwickelt: Werner March, der auch das Berliner Olympiastadion entwickelte, und Friedrich Hetzelt, der die Gestapo-Zentrale in der Prinz-Albrecht-Straße entwarf. Die Hauptresidenz des „Nazis Nummer zwei“ hieß Carinhall – zu Ehren seiner Gattin (nach Carins Tod im Jahr 1931 wurden ihre sterblichen Überreste in einem prachtvollen Mausoleum auf dem Territorium des Guts beerdigt). Das war eine Mischung aus Palast und Schloss. Ganz in der Nähe lag das Waldgebiet Schorfheide, zwei Seen – der Großdöllner See und der Wuckersee. Görings Gut hatte ein prächtiges, sieben Meter hohes Tor aus wertvollen Steinen. Auf dem Gelände gab es eine Sporthalle, einen kleinen Tiergarten und sogar ein russisches Dampfbad. Im Dachstock und im Keller hatte der „Nazi Nummer zwei“ eine Spieleisenbahn. Kurz vor dem Ende der Schlacht von Stalingrad feierte Göring seinen Geburtstag und spielte mit dieser Eisenbahn gemeinsam mit seinen Gästen.
Er konnte und durfte jederzeit nach Paris fliegen – wann immer er wollte und oft sogar am Steuer. Dabei wurde er selbstverständlich von einer Jagdstaffel begleitet.
Außerdem hatte Göring sein eigenes Museum. Die Gemälde dafür kaufte er nie – die Meisterwerke wurden als „Trophäen“ aus verschiedenen eroberten Städten Europas zu ihm gebracht. Aber am meisten mochte Göring Statuen, und zwar vor allem Löwenstatuen. 1945 versuchte er, seine Sammlung in einem Schacht oder in einem Tunnel unweit von Hitlers Residenz zu verstecken, wo auch er selbst ein weiteres „Häuslein“ hatte, allerdings vergebens. Die Personen, die für die Beförderung der wertvollen Güter zuständig waren, haben sie gestohlen, und einzelne Gegenstände tauchten noch Jahrzehnte später plötzlich auf.
Und haben die Gemälde etwa nicht Ihr Einkommen übertroffen?
Ich hatte auch andere Einkommen…
Löwen hatten die Görings nicht nur als Statuen bewundert – sie besaßen auch sieben zu Haustieren gemachte Riesenkatzen, die sich manchmal auf dem Gelände frei bewegen durften. Die Löwin Bubi ist im Mai 1945 geflüchtet und lebte noch einige Zeit im Wald. Die Einwohner von naheliegenden Dörfern hatten furchtbare Angst vor ihr.
Über Carinhall hat sich übrigens Hitler am besten geäußert: „Mein Berghof (Führers große Residenz in den Bayerischen Alpen) lässt sich damit natürlich nicht vergleichen. Vielleicht könnte es hier ein Gartenhaus werden?“
In Anbetracht dieses ganzen Luxus hatte der Führer seine Bedenken.
Andere Einkommen
Wenn man in den Kriegsjahren jeden Deutschen gefragt hätte, welches Unternehmen im Dritten Reich das größte, reichste und mächtigste war, hätte man bestimmt die Antwort bekommen: die Reichswerke Hermann Göring. Diese gigantische Finanz- und Industrie-Körperschaft wurde auf Görings Initiative gegründet, und zwar für staatliche Mittel. Das Ziel war, den ganzen Zyklus der Stahlproduktion zu organisieren: von der Eisenerzförderung bis zur Produktion von Militärgütern. Deutsche Banken- und Betriebsbesitzer versuchten am Anfang, Göring zu widerstehen, doch dieser hatte ja die Gestapo zur Verfügung. Nach einem wochenlangen Abhören seiner Telefonate musste der „Vater“ des „deutschen Finanzwunders“, Hjalmar Schacht, zurücktreten, und die Stahlmagnaten wurden in die Schranken gewiesen. Und übrigens hieß die Organisation, die für technische Kontrolle über Rundfunkwesen und Telefonnetze im Dritten Reich zuständig war, hieß die „Luftfahrtforschungsanstalt Hermann Göring“.
Einst hatten deutsche Industriellen und Finanziers den Beteuerungen Schachts, den Reden Hitlers und dem Charisma Görings geglaubt und etliche Gelder in den Nazismus „investiert“ – in der Hoffnung, die Positionen ihrer Betriebe und Finanzbeteiligungen zu festigen. Bald wurden sie jedoch einer Planwirtschaft untergeordnet, wobei ihre eigenen Gewinne auf sechs Prozent beschränkt wurden, und der Anschluss Österreichs fügte noch ein interessantes Detail hinzu: Viele österreichische Betriebe gehörten deutschen Banken und privaten Investoren. Jetzt aber gehörte das alles den Reichswerken Hermann Göring. Dasselbe passierte auch Industriebetrieben in anderen besetzten Ländern: Skoda in der Tschechoslowakei, Renault in Frankreich usw. Ende 1941 belief sich das Kapital der Reichswerke Hermann Göring auf 2,4 Milliarden Mark, und das war damit die größte Korporation in ganz Europa.
Übrigens war Göring kein Besitzer dieses Großunternehmens, sondern „nur“ der „Betreuer im Namen des deutschen Staates“, wofür er große Dividenden erhielt. Natürlich wurde dabei die Sklavenarbeit zahlreicher KZ-Häftlinge und Zwangsarbeite aus ganz Europa eingesetzt. In den Stahlwerken Braunschweig arbeiteten beispielsweise etwa 10 000 Sklaven, in den Erzwerken ganze 47 000. Dabei wurde Görings Körperschaft immer größer und schluckte immer neue Schiffbau- und Baubetriebe, Stahlwerke und Verkehrsbetriebe.
Die wohl stimmigste Bezeichnung der Position Hermann Görings im Dritten Reich wäre „der Haupt-Benefiziar“. Und auch der größte Korrumpierte reichsweit.
Der Unantastbare
Hitlers Abkühlung gegenüber seinem Mitstreiter fiel zeitlich mit dem Überfall auf die Sowjetunion überein. 1941 hatten viele Strategen und Ökonomen düstere Vorgefühle hinsichtlich der möglichen Ergebnisse dieser Kampagne. Seit 1942 bemühte sich der Führer darum, Göring die reale Macht wegzunehmen. Der Einfluss und die Vollmachten des „Nazis Nummer zwei“ wurden wesentlich geringer, als zum Reichsminister für Bewaffnung und Munition der Architekt Albert Speer ernannt wurde. Göring mochte diesen nicht und widerstand ihm mit aller Kraft. Aber gerade seinem gehassten Konkurrenten soll er Ende 1942 gesagt haben: „Wir werden uns noch freuen, wenn Deutschland nach diesem Krieg noch in den Grenzen von 1933 bleiben wird.“
Am Ende der Schlacht von Stalingrad musste Göring Hitler versprechen, dass er die eingekesselten Einheiten via Luftbrücke mit Nachschub, Munition und Medikamenten versorgen wird. Doch das war nicht mehr möglich. Den Krieg auf dem Schlachtfeld gewannen sowjetische Soldaten, den Krieg im Hinterland verlor die deutsche Wirtschaft. In der Luft dominierten die sowjetischen Flieger.
Es war immer noch unmöglich, Göring anzutasten, obwohl er bereits ins Hintertreffen geriet und nicht mehr in Berlin auftauchte. Auf seinem Landgut befasste er sich mit der Jagd, Spielzeugen und seinem Weinkeller. Außerdem nahm er in großen Mengen Morphium. Um Göring vor Gericht des Internationalen Militärgerichtshofs zu stellen, mussten die Alliierten ihn gegen seine Drogensucht behandeln. Er litt an starken Stimmungsschwankungen, Wutausbrüchen und langanhaltender Apathie. Er war stark morphiumsüchtig nach dem Bierputsch, bei dem er stark verletzt wurde und eine Entzündung in der Leistengegend begann. Seit dieser Zeit hatte er ständig Tabletten und Ampullen bei sich.
Bei ihm kam es beinahe zu einem vollständigen Zerfall der Persönlichkeit, der von exzentrischen Aktionen begleitet wurde. Er ließ sich Fingernägel und Lippen färben, bestellte beim Schneider regelmäßig extravagante Kleidung – zum Beispiel hohe Stiefel mit goldenen Sporen, blaue Hose mit Lampassen, Mäntel mit Kragen aus Fuchs- und Biberfell, weiße Anzüge mit blauer und roter Fasson… Albert Speer erinnerte sich, wie er von seinen roten Nägeln und gepuderten Gesicht beeindruckt war. Zu der Zeit habe er sich schon daran gewöhnt, dass sein Hausrock aus grünem Brokat immer mit einer riesigen Brosche verziert war. Der Anspruch des Dritten Reichs auf das Erbe des antiken Roms mutierte fast schon zu einer Karikatur: Göring verkörperte die Gestalt eines in Morast steckenden römischen Patriziers aus der Epoche des Verfalls des Imperiums.
Ein interessantes Detail: der rücksichtslose und gegenüber der Außenwelt gleichgültige Nazi Nummer zwei war ein fürsorglicher Familienvater, seine zweite Ehe war glücklich – 1935 heiratete er die Schauspielerin Emmy Sonnemann, die quasi als First Lady des Dritten Reichs galt. Tochter Edda vergötterte ihren Vater. Hermann Göring bewahrte mehrmals seinen Bruder Albert vor dem Arrest, während dieser einige Dutzend Juden vor dem Tod rettete, was auch kein Geheimnis für Hermann Göring war.
Er wurde schon beinahe abgeschrieben. Doch am 23. April 1945 bekam Hitler, der seine Entourage als Feiglinge und Verräter beschimpfte und in Berlin bis zum bitteren Ende bleiben wollte, ein Telegramm: „Mein Führer, sind Sie einverstanden, dass ich nach Ihrem Entschluss, in Berlin zu bleiben und Berlin zu verteidigen, auf Grundlage des Gesetzes vom 29. Juni 1941 nunmehr die Gesamtführung des Reiches übernehme? Wenn ich bis 22 Uhr keine Antwort erhalte, nehme ich an, dass Sie Ihrer Handlungsfreiheit beraubt sind und werde ich nach eigenem Ermessen handeln. Ich werde dann die Voraussetzungen ihres Erlasses als gegeben ansehen und zum Wohle von Volk und Vaterland handeln. Was ich in diesen schweren Stunden meines Lebens für Sie empfinde, das wissen Sie und kann ich durch Worte nicht ausdrücken. Gott schütze Sie und lasse Sie trotz alledem baldmöglichst hierherkommen. Ihr getreuer Hermann Göring“.
Hitler bezeichnete dieses Ultimatum als Beweis eines verräterischen Versuchs der Machtergreifung. Am selben Tag wurde Göring wegen Staatsverrat festgenommen, am 29. April entließ er ihn aus allen Staats- und Parteifunktionen. Alles lief auf eine Erschießung Görings hinaus…
Göring wurde später aus der SS-Haft entlassen. Nach einer Woche war er bereits bei den Alliierten, die sich um seinen Gesundheitszustand kümmern mussten. Allerdings schaffte Göring es noch, Carinhall sprengen zu lassen. Am 8. Mai traf er sich mit einem US-Vertreter, der sich als „Leutnant Shapiro“ vorstellte. Natürlich, ein Jude, atmete Göring schwer auf.
Letzte Schlacht
Das Verhalten Görings auf dem Nürnberger Prozess, seine Reaktionen, insbesondere Gespräche mit anderen Angeklagten wurden vom Gefängnispsychologen Gustave Gilbert und Psychiater Douglas Kelly detailliert festgehalten. Letzterer konnte, wie sich herausstellte, Görings Charisma nicht widerstehen. Er wurde ein Bote zwischen Göring und seiner Frau und Tochter, übergab ihre Briefe und war vom Kontrast tief beeindruckt – der tiefen Zärtlichkeit des Familienvaters Görings und der absoluten Herzlosigkeit des Reichsmarschalls Göring. Später beging Kelly, der sich dem Charme seines Hauptpatienten erlegen war, Selbstmord.
Gustave Gilbert zitierte in seinem „Nürnberger Tagebuch“ seine regelmäßigen Gespräche mit Göring und notierte Beobachtungen. Ihm zufolge unterschied sich Göring stark von anderen Angeklagten: für ihn waren Kontinuierlichkeit und Vollkommenheit seiner Ansichten typisch, die er nicht ändern wollte. Sein IQ war beeindruckend: 138.
„Er stellte sich mit lebhaftem Interesse auf die Anforderungen eines Intelligenztestes ein und, nach dem ersten Vortest (Gedächtnisspanne), benahm er sich wie ein aufgeweckter, selbstgefälliger Schuljunge, eifrig bemüht, vor dem Lehrer zu glänzen. Er schmunzelte vor Vergnügen, als ich mein Erstaunen über seine Erfolge bei den zunehmend schwieriger werdenden Zahlenreihen zeigte. Er schlug sich auf die Oberschenkel und trommelte ungeduldig auf dem Bett herum, als er bei neun vorwärts und sieben rückwärts versagte, und bat um einen dritten und vierten Versuch. «Ach, bitte, lassen Sie mich's nochmal versuchen; ich kann's bestimmt!» Als er es schließlich zu meiner deutlich gezeigten Verwunderung erreichte, konnte er sich kaum vor Freude halten und schwoll vor Stolz. Während des gesamten Tests blieb diese Art der Beziehung bestehen; der Prüfer feuerte ihn mit Bemerkungen an, wie wenig Personen das nächste Problem lösen könnten, und Göring reagierte darauf wie ein eitler Pennäler. Ihm wurde zu verstehen gegeben, dass er die bisher höchste Bewertung hatte. Er entschied, dass die amerikanischen Psychologen doch wirklich etwas für sich hätten.“
Die auf dem Prozess gezeigten Filme über die Gräueltaten der Nazis hielt er für Propagandafälschung. Er nahm die Kopfhörer demonstrativ ab, um die Zeugenaussagen nicht zu hören. Im Gefängnis versuchte er, die Rolle eines Anführers zu spielen und andere Angeklagten anzuleiten, er spinnte Intrigen bei Spaziergängen und beim Mittagessen, schmiedete kleine situationsbedingte Koalitionen und ließ letzten Endes selbst die Getreuesten gegen sich aufbegehren – es kam zu einem Boykott. Er nutzte die Reste seines Einflusses bis zu Einschüchterungen, um eine gemeinsame Position des Widerstands gegen das Gericht zu schaffen. Er provozierte die Richter mit zynischem Humor und dreisten Aussagen. Er geriet in Wut bei Sitzungen und warf den Angeklagten, die Verbrechen eingestanden, Verrat vor. Er hielt paradoxerweise immer noch zu Hitler und behauptete, dass dessen Selbstmord kein Zeichen der Feigheit und Schwäche, sondern Stärke seines Geistes und Heldentums sei. Er sei doch der Führer des Deutschen Reichs gewesen, und es sei absolut unmöglich, sich Hitler in so einer Zelle in Erwartung eines Gerichtsverfahrens als Kriegsverbrecher, der von ausländischen Richtern geführt wird, vorzustellen. Er sei ein Symbol Deutschlands gewesen. Es sei nicht wichtig, er sei bereit, alles auf sich zu nehmen, um den lebendigen Hitler vor Gericht nicht zu sehen, was absolut unvorstellbar sei, so Göring.
Er kommentierte so das Verhalten seiner „Kollegen“: „Wie konnte er sich so erniedrigen, so etwas Erbärmliches zu tun, nur um seinen dreckigen Hals zu retten! Ich bin fast vor Scham gestorben! Zu denken, dass ein Deutscher so niederträchtig werden kann, um sein lausiges Leben zu verlängern – um es offen zu sagen –, etwas länger vorne zu pissen und hinten zu scheissen! Herrgott, Donnerwetter! –Denken Sie, ich gebe auch nur soviel für dies lausige Leben?». Er sah mich eindringlich mit funkelnden Augen an. «Nicht die Bohne mache ich mir daraus, ob ich hingerichtet werde, ertrinke, in einem Flugzeug abstürze oder mich zu Tode saufe! Aber es gibt noch einen Ehrbegriff in diesem verfluchten Leben!“. Göring hielt bis zum letzten Moment an seiner Linie fest und wollte selbst unwiderlegbare Fakten nicht zugeben.
Gustave Gilbert: „In unseren Unterhaltungen in seiner Zelle versuchte Göring den Eindruck eines jovialen Realisten zu machen, der mit hohen Einsätzen gespielt und verloren hatte und es alles wie ein guter Sportsmann hinnahm. Jede Schuldfrage tat er mit seiner zynischen Ansicht über die «Gerechtigkeit der Sieger» ab. Er hatte genügend plausible Erklärungen, wusste angeblich nichts von den Gräueltaten und wies auf die «Schuld» der Alliierten hin. Sein gewandter Humor wollte immer den Anschein erwecken, ein derartig liebenswürdiger Mensch könne nichts böse gemeint haben. Trotzdem konnte er nicht sein pathologisches Geltungsbedürfnis verbergen, und er brachte ungehemmt seine Verachtung für andere Nazi-Anführer zum Ausdruck“.
„Am Abend vor der Hinrichtung bat Göring den Kaplan um Erteilung des letzten Abendmahls und den Segen der lutherischen Kirche. Kaplan Gerecke, der jedoch eine neue theatralische Geste ahnte, weigerte sich, ihm den letzten Segen zu erteilen. Er sagte ihm, er werde keine Show für jemand, der es nicht ernst meine, veranstalten. Göring habe nie das geringste Anzeichen von Reue gezeigt. Am nächsten Abend – nachdem Göring bewiesen hatte, dass er das Abendmahl zum Gespött hatte machen wollen, weil er unmittelbar darauf Selbstmord beging – erkannte Kaplan Gerecke, wie recht er mit seiner Meinung über Göring gehabt hatte. Und ich auch. Denn Göring starb so, wie er gelebt hatte, als ein Psychopath, der versuchte, alle humanen Werte zu verspotten und seine Schuld durch dramatische Gesten zu vertuschen“. So Gilbert.
Die letzte Nacht
Das Datum und die Uhrzeit der Hinrichtung wurden streng geheim gehalten. Allerdings sickerten die Informationen trotzdem durch.
Die Hinrichtung wurde um zwei Uhr nachts am 16. Oktober 1946 angesetzt.
Am 15. Oktober teilte der Gefängnisleiter, Oberst Burton Andrews, den Verurteilten mit, dass ihre Begnadigungsersuche abgelehnt wurden. Um 21:30 Uhr kam der Gefängnisarzt Ludwig Pflücker zusammen mit dem Wächter Leutnant McLinden in die Zelle Görings. McLinden verstand nicht, worüber Pflücker und Göring sprachen, denn er sprach nicht Deutsch. Pflücker gab ihm eine Schlaftablette, die er im Beisein McLindens und des Arztes einnahm.
Nach der Bekanntgabe des Urteils wurden alle Gefangenen streng überwacht. Beobachter bemerkten, dass Göring regungslos auf dem Rücken lag, mit den Armen über der Decke. In Protokollen der militärischen Untersuchung gab der Wächter Bingham an: „Als ich in die Zelle blickte, sah ich, dass Göring im Bett auf dem Rücken, in Stiefeln, Hosen und Jacke mit einem Buch in den Händen lag. Er lag regungslos rund 15 Minuten, dann begann er, unruhig die Arme zu bewegen, er bewegte seine rechte Hand zur Stirn und rubbelte an der Stirn“. Er wurde vom Wächter Johnson abgelöst: „Es waren genau 22:44 Uhr, weil ich zu diesem Zeitpunkt auf die Uhr blickte. Nach ungefähr zwei bzw. drei Minuten erstarrte er und atmete erstickt auf“.
Als Arzt und Offizier kamen, war Göring schon tot. In seinem Mund wurden Glassplitter und an seinem Bett ein Briefumschlag entdeckt. Darin steckten ein Brief an seine Frau Emma, eine Botschaft an das deutsche Volk und ein Brief an den Gefängniskommandant Andrews.
Nürnberg, 11. Oktober 1946
AN DEN KOMMANDANTEN
Ich hatte die Giftampullen immer bei mir seit meiner Verhaftung. Seit der Einlieferung in Mondorf hatte ich drei Ampullen mit. Die erste Kapsel ließ ich in der Kleidung, damit sie bei der Durchsuchung gefunden wird. Die zweite Kapsel ließ ich unter dem Ständer, als ich mich auszog und nahm sie beim Anziehen wieder mit. Ich machte das in Mondorf, auch hier in der Zelle, so gut, dass sie trotz öfter und genauer Durchsuchungen nicht gefunden wurde. Während der Gerichtssitzungen versteckte ich sie in meinen Stiefeln. Die dritte Ampulle ist immer noch in meinem Koffer, versteckt in einer runden Hautcremedose… Man darf nicht jene verantwortlich machen, die mich durchsuchten, weil es fast unmöglich war, die Ampulle zu finden. So war es.
Hermann Göring
Ob Göring die Wahrheit schrieb oder nicht, ist bis heute nicht geklärt. Immer wieder gab es angeblich sensationelle Enthüllungen – zum Beispiel: Dass Leutnant Jack Wheelis, der Schlüssel zum Gefängnis hatte, Göring erlaubte, dorthin zu gehen und dort gelagertes Gift mitzunehmen. Im Gegenzug gab Göring ihm seine Uhr und andere Dinge.
Im Februar 2005 teilte der 78-jährige ehemalige US-Wächter Herbert Lee Stevens mit, dass er während seiner Arbeit im Nürnberger Gefängnis eine deutsche Frau namens Mona kennenlernte und zweimal von ihr Briefe an Göring übergab, und beim dritten Mal ein Medikament. Sie soll alles in einen Kugelschreiber versteckt haben.
Die Leiche Görings wurde zusammen mit den Leichen der anderen Hingerichteten eingeäschert, die Asche wurde in den Wind gestreut. Der Brief wurde an seine Frau übergeben. Die Botschaft an das deutsche Volk wird in US-Archiven aufbewahrt. Das deutsche Volk nimmt das wohl nicht übel.