Die zweite Verfassungsgebende Versammlung, die am 2. Juni 1946 gewählt worden war, nahm am 12. Juni ihre Arbeit auf. Ihre Aufgabe war es, eine neue Verfassung zu entwerfen, denn im Mai war ein voriger Verfassungsentwurf abgelehnt worden.
Nach den tragischen Ereignissen von 1940 wurde die französische Verfassung von 1875 formell zwar nicht außer Kraft gesetzt, aber de facto gab es die Republik nicht mehr. Nach Frankreichs Befreiung waren drei politische Parteien besonders populär: die Kommunistische (PCF), die französische Sektion der Arbeiterinternationalen (Sozialisten) und die Volksrepublikanische Bewegung. Diese bildeten eine Übergangsregierung mit Charles de Gaulle an der Spitze. General de Gaulle warb für eine starke präsidiale Regierungsform, aber die Parteien bestanden auf einer parlamentarischen Demokratie und warfen de Gaulle „Bonapartismus“ vor.
Im Januar 1946 trat de Gaulle zurück. Den Führungsposten übernahm der Sozialist Felix Gouin. Der erste Verfassungsentwurf, den die Kommunisten und Sozialisten erarbeitet hatten, wurde von der Nationalversammlung gebilligt. Ihm zufolge sollte die Macht in den Händen des Ein-Haus-Parlaments konzentriert sein, während der Senat abzuschaffen wäre. Die Christdemokraten um de Gaulle stemmten sich neben den Gegnern der Verfassungsänderung dagegen, und bei einem Referendum wurde der „rote“ Verfassungsentwurf abgelehnt. Dann wurde eine neue Verfassungsgebende Versammlung gewählt, und die Regierung Gouins trat zurück. In der neuen Versammlung gehörte die Stimmenmehrheit den Volksrepublikanern; zum neuen Premier wurde der Christdemokrat George Bidault gewählt.
Laut dem von der neuen Gesetzgebenden Versammlung verabschiedeten Verfassungsentwurf sollte Frankreich zu einer „säkularen, demokratischen und sozialen Republik“ ausgerufen werden. Neben den üblichen demokratischen Rechten und Freiheiten sollten die Einwohner des Landes das Recht auf Arbeit, auf Erholung, auf soziale Versorgung und auf Ausbildung haben. Darüber hinaus sollte die Gleichberechtigung der Männer und Frauen, das Recht auf gewerkschaftliche und politische Aktivitäten, auf Streiks „in Übereinstimmung mit Gesetzen“ ausgerufen werden. Das Parlament sollte weiterhin aus zwei Häusern bestehen. Frankreich sollte sich verpflichten, „jegliche Kolonialisierung zu vermeiden, die sich auf Willkür stützen würde“, „keine Eroberungskriege zu beginnen und keine Gewalt gegen die Freiheit irgendeines Volkes anzuwenden“.
Der Verfassungsentwurf wurde bei einem Volksentscheid am 13. Oktober 1946 von 52,3 Prozent der Franzosen gebilligt. Diese Verfassung galt bis zum Ausruf der Fünften Republik 1958.
Quelle: Ernst Weisenfeld. Die Geschichte Frankreichs seit 1945. Von de Gaulle bis zur Gegenwart. Beck, München, 1982.