Am 27. März 1946 wurde Gustav Adolf Steengracht, der ehemalige Hauptadjutant des Reichsaußenministers Joachim von Ribbentrop, vom Nürnberger Tribunal zu einem Kreuzverhör vorgeladen.
Am Anfang versuchte Steengracht, sich selbst und seinen früheren Chef zu rechtfertigen. Seine Aussagen waren durchzogen von den üblichen Bemerkungen wie „damit wurde ich nicht beauftragt“ oder „ich sehe dieses Dokument zum ersten Mal“. Als erfahrener Diplomat griff er zu unglaublichen Phrasendreschereien wie zum Beispiel: „Die Organisation des antijüdischen Kongresses war im Grunde nicht gegen die Juden gerichtet.“ Über seinen ehemaligen Chef Ribbentrop sagte Steengracht: „Ich kann ihn nicht als einen üblichen Nazi bezeichnen.“ Er bestand darauf, dass Ribbentrop über dem Nazismus gestanden hätte, dass er sich mit der Diplomatie befasst und seine Pflichten erfüllt hätte, während andere Personen die Verbrechen begangen hätten, von denen man im Außenministerium nicht einmal Kenntnis gehabt hätte.
Aber die Ankläger kannten bereits solche Manöver vor Gericht. Als sie Dokumente präsentierten, die entweder dem Zeugen oder seinem Vorgesetzten schaden könnten, schwand plötzlich seine Loyalität. Steengracht spürte auf einmal Gefahr und beging quasi Verrat an Ribbentrop, als er sagte: „Er war von Hitler völlig hypnotisiert und wurde zu seiner Waffe.“
Später wurde Steengracht neben anderen hochrangigen Nazis und Diplomaten im Rahmen des sogenannten „Wilhelmstraßen-Prozesses“ angeklagt und am 11. April 1949 zu sieben Jahren Haft verurteilt. Allerdings wurde er bereits am 28. Januar 1950 amnestiert und freigelassen.
Quelle:
Zeitung „Prawda“, Nr. 75 (10157), 29. März 1946