Die Abendsitzung am 30. Januar 1946 begann mit einer Erklärung des Gerichtsvorsitzenden Jeffrey Lawrence zu einem Schreiben, das der Gerichtshof vom Angeklagten Rudolf Heß am selben Tag erhalten hatte. In dem Brief bittet der Angeklagte, zu erlauben, seine Interessen selbst zu vertreten, weil er mit seinem Verteidiger nicht zufrieden war.

Das Gericht traf den folgenden Beschluss, den Lawrence bekannt gab: „Mit der Wahl eines Verteidigers zur Vertretung der Interessen gemäß Artikel 16 der Charta ist der Angeklagte Heß in dieser Etappe des Prozesses nicht imstande, auf die Dienstleistungen des Vertreters zu verzichten und sich selbstständig zu verteidigen. Diese Frage ist von Bedeutung sowohl für das Tribunal als auch für den Angeklagten. Laut dem Tribunal entspricht es nicht den Interessen des Angeklagten, dass er von niemandem vertreten wird. Der Gerichtshof ernennt Dr. Stahmer zum Vertreter des Angeklagten Heß“. Otto Stahmer hatte bereits einen Mandanten, den Hauptangeklagten der Nürnberger Prozesse: Hermann Göring.

Heß wurde zuvor von Anwalt Günther von Rohrscheidt verteidigt.  Am 23. Januar 1946 erfuhr der Gerichtshof, dass sich von Rohrscheidt bei einem Autounfall ein Knie brach. Doch der Gesundheitszustand des Anwalts war nicht der einzige Grund, weshalb Heß auf seinen Verteidiger verzichten wollte. Von Rohrscheidt hatte es nicht geschafft, den Gerichtshof von der Unzurechnungsfähigkeit seines Mandanten zu überzeugen und die Schließung bzw. Aussetzung des Falls zu erreichen. Ende November 1945 wurde der Zustand von Heß von vier Kommissionen analysiert. Auf der Grundlage ihrer Befunde wurde entschieden, dass Heß handlungsfähig ist und keine Gründe für eine Aussetzung bestehen. Danach reichte der Anwalt noch einige Anträge auf eine erneute medizinische Untersuchung ein, doch alle wurden vom Gerichtshof abgelehnt. Dabei behauptete Heß, dass er gegen die Versuche seines Anwalts gewesen sei, ihn für handlungsunfähig zu erklären.

Aufgrund der hohen Arbeitsbelastung von Dr. Stahmer bekam Heß am 5. Februar 1946 einen neuen Anwalt: Alfred Seidl, der mit dem Angeklagten Hans Frank befasst war. Dank der Anstrengungen des neuen Anwalts entging Rudolf Heß der Todestrafe und wurde zu lebenslanger Haft verurteilt.

Quelle:

Sergej Miroschnitschenko „Stenogramm der Nürnberger Prozesse“, Band V

 

In einer Pause zwischen Gerichtssitzungen. Die Angeklagten Hermann Göring, Rudolf Heß und Joachim von Ribbentrop. Januar 1946. Foto von Jewgeni Haldei. Russisches Staatsarchiv für Kino- und Fotodokumente, Arch-Nr, A-9232

 

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Anwalt Alfred Seidl beim Nürnberger Prozess. National Archives and Records Administration, College Park. Public Domain