Der Weg des Antihelden

Hermann Göring – Nazi Nummer zwei, Gründer von Luftwaffe, Gestapo und KZ-Lagern, Nachfolger des Führers – war der einzige aus dem engsten Umfeld Adolf Hitlers, der bis zu den Nürnberger Prozessen noch am Leben war (der geflohene Rudolf Heß zählt nicht dazu). Die antifaschistische Propaganda stellte ihn als dicken bärbeißigen Mann dar. Doch selbst auf der Anklagebank beeindruckte Göring durch seine Intelligenz. Das Verhör Görings kostete die Ankläger viele Nerven. Warum er Hitler folgte und sich in einen der größten Nazi-Verbrecher verwandelte, lesen Sie in diesem Artikel.

Hochdekoriert im Höhenflug

Hermann Göring spielte nahezu die wichtigste Rolle beim Anschluss Österreichs und belebte die Luftwaffe wieder, die den entscheidenden Beitrag zu den Siegen Nazi-Deutschlands leistete. Bereits 1933 begann Göring, als er Reichskommissar für Luftfahrt wurde, mit dem geheimen Wiederaufbau der Luftstreitkräfte, die für die Deutschen laut dem Versailler Vertrag verboten waren.

Nach der erfolgreichen Polen-Kampagne, bei der die Luftwaffe eine wichtige Rolle spielte, wurde Göring mit dem Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes ausgezeichnet. Nach der Zerschlagung Frankreichs bekam er das Großkreuz des Eisernen Kreuzes (im Dritten Reich besaß nur er diese Auszeichnung). Eigens für Göring wurde der Dienstgrad „Reichsmarschall des Großdeutschen Reiches“ eingeführt. Am 29. Juni 1941 wurde Göring offiziell zum politischen Nachfolger Hitlers ernannt. In Nazi-Deutschland legte er eine Bilderbuchkarriere hin. Dann folgen Junkers und Messerschmitts am Himmel über der Sowjetunion und brachten dem sowjetischen Volk viel Unheil.

Dennoch sind an dieser Stelle einige neutrale Worte angebracht. Denn wie kann man erklären, dass ein begabter Jagdflieger in das dunkle Loch des Nazismus fiel?

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Der erste „Bulle” des Dritten Reiches

Im Ersten Weltkrieg war Göring ein Held – er schoss 22 Flugzeuge ab. Gegen Kriegsende, als die Alliierten bereits unumstrittene Überlegenheit in der Luft hatten, war er Kommandeur eines Geschwaders, das nach dem legendären „Roten Baron“ Manfred von Richthofen benannt war.

Ein bemerkenswertes Detail dabei: Während der „Rote Baron“ von vielen Deutschen als Mörder betrachtet wurde (er tötete selbst Überlebende nach deren Notlandung), gab es über Göring in der damaligen Zeit andere Erinnerungen.

Er wurde in einer adeligen Familie geboren. Sein Vater war Generalgouverneur und ein Freund von Bismarck. Göring erhielt eine gute militärische Ausbildung und träumte davon, in den Krieg zu ziehen. Während des Ersten Weltkrieges zeigte er einen betont großzügigen Umgang mit dem Gegner –im Gegensatz zum „Roten Baron“ und zu sich selbst in späteren Lebensjahren.

Zusammen mit Hitler in ein schwarzes Loch

Der Sturz in das schwarze Loch des Nationalsozialismus begann bei Göring wie bei vielen anderen deutschen Militärs – es war die Kränkung wegen der aus ihrer Sicht ungerechten Niederlage im Krieg. Sie meinten, der Krieg wurde nicht von Soldaten, sondern von Politikern im Hinterland verloren. Sie waren auch verärgert über die harten Bedingungen des Vertrags von Versailles. Der Revanchismus in Deutschland verschärfte sich. Doch entscheidend war ein Treffen mit Adolf Hitler, der das Gefühl der nationalen Kränkung perfekt ausnutzte. Wie viele andere folgte Göring Hitler, glaubte an ihn als Propheten und unbeugsamen Führer.

Für Hitler war der emotionale und entschlossene Göring ein Glücksfall. Zudem hatte er gute organisatorische Fähigkeiten, obwohl er von Natur aus auch faul war. Sein ganzes Leben verfolgten ihn Stimmungsschwankungen – mal war er energiegeladen, mal lahm – und er versprach lautstark unerfüllbare Dinge.

Sorbonne-Professor Francois Kersaudy, der sich mit der Biografie Görings befasste, schrieb: „Indem er im Schatten des Führers blieb, übernahm Hermann Göring ganz verschiedene Rollen – Leiter der Sturmabteilungen, ungeschickter Putschist, wandernder Aktivist der Nazi-Partei (…), rundlicher Dandy, lautstarker Redner, korrupter Abgeordneter, Eroberer des Reichstagspräsidenten-Postens (…), abgetaner Geschäftemacher, glänzender Luftwaffenminister, reich gewordener Parvenü, geschickter Diplomat,  guter Jäger, Stratege, Amateur-Ökonom, Ökologe, der seiner Zeit voraus war, leidenschaftlicher Sammler von Kunstwerken, offizieller Nachfolger Hitlers und Komplize bei all dessen Verbrechen. Ein sehr sentimentaler Mann, der ohne Zögern alle beseitigte, die in seinem Weg standen, Antisemit, der die Reichszentrale für jüdische Auswanderung leitete, ein Kämpfer, der friedensstiftende Bemühungen unternahm, ein hyperaktiver Mann, der zugleich absolut willenlos war (…). Görings Charakter war voller widerspruchsvoller Eigenschaften.“

Unterm Strich kann man dieser Beschreibung zustimmen. Obwohl man ihn kaum als Sammler von Kunstwerken bezeichnen kann, denn die raubte er aus den besten Museen der Welt.

Liebling des Führers

Jede Biografie Görings beginnt gewöhnlich mit dem Aufzählen seiner vielen Ämter. In der Tat folgten alle Posten und Auszeichnungen schrittweise. Dass Hitler ihm häufig einen neuen Bereich anvertraute, könnte davon zeugen, dass er seine Aufgaben nicht immer gut meisterte. Angesichts der Rolle, die Göring beim Aufbau des Dritten Reiches spielte, schonte Hitler dessen Eitelkeit und beauftragte ihn mit neuer Arbeit und beließ ihn pro forma im früheren Amt. Der wahre „Antrieb“ waren aber dabei andere Menschen. So entstand diese unglaubliche Abfolge von Ämtern, Dienstgraden und Auszeichnungen.

Hitler hatte nicht vergessen, dass Göring die Sturmabteilung in eine starke militante Kraft verwandelt hatte. Während des Hitlerputsches 1923 in München ging Göring in einer Reihe mit Hitler und wurde schwer verletzt (wodurch unter anderem sein endokrines System gestört wurde – der dadurch sehr dick gewordene Göring wurde zur Karikatur). Er wurde gerettet von dem Juden Robert Ballin. Später holte Göring seinen Retter und dessen Frau aus dem KZ.

Hitler wusste auch, dass Göring mit seiner Verletzung zu kämpfen hatte. Er nahm Morphium, um seine Schmerzen zu lindern, doch dann wurde er davon süchtig und ließ sich von ausländischen Psychiatern behandeln. Nachdem der Führer erneut bestätigt hatte, dass Göring „die Nummer zwei in der Partei“ und sein Nachfolger ist, entspannte sich Göring. In der Phase der Parteigründung und Machteroberung und zu Beginn des Krieges schätzte Hitler Göring enorm.

Göring wurde zum SA-Obergruppenführer, General der Infanterie und General der Landpolizei ernannt, leitete den Reichstag und war für die Erfüllung des vierjährigen Wirtschaftsplans zuständig.

Über seine letzte Aufgabe gehen die Meinungen auseinander. Einerseits wurden im Juli 1937 die Reichswerke Hermann Göring gegründet. Dem riesigen Konzern wurden konfiszierte Betriebe von Juden übereignet und später auch Betriebe in den okkupierten Gebieten. Der Großkonzern, wie auch die ganze deutsche Wirtschaft in der Kriegszeit, wurde jedoch von anderen Personen geführt. In erster Linie war das ein anderer Liebling Hitlers, der Architekt Albert Speer.

Dafür wurde Göring „Reichsjägermeister“. Mit dieser letzten anvertrauten Aufgabe, wie auch zuvor mit der Luftfahrt, beschäftigte er sich als leidenschaftlicher Jäger mit großer Hingabe. Alle anderen Ämter waren für ihn in vielerlei Hinsicht formell: Am meisten unterzeichnete er als zweite Person im deutschen Staat nur Papiere, die ihm auf den Tisch gelegt wurden.

Vom Brand im Reichstag zum Holocaust

Diese Unterschriften sorgten für viel Grauen. Am 30. Juli 1941 segnete Göring beispielsweise das ihm von Reinhard Heydrich vorgelegte Dokument über die „endgültige Regelung“ der Judenfrage ab, das die Vernichtung von nahezu 20 Millionen Juden vorsah. Darüber hinaus beteiligte sich Göring auch an der Beratung, in der das „Unternehmen Barbarossa“, der Krieg gegen die Sowjetunion, verabschiedet wurde.

Allerdings hielt er manchen Erinnerungen zufolge sowohl den Überfall auf die Sowjetunion als auch die „Regelung der Judenfrage“ für Fehler. Wie sich Speer erinnerte, soll Göring ihm noch 1942 gesagt haben:

„Wir werden uns noch freuen, wenn Deutschland nach diesem Krieg seine Grenzen von 1933 behalten kann.“

Hinsichtlich des Heydrich-Dokuments sagte ein Augenzeuge in Nürnberg, die Übersetzung sei falsch, es wäre lediglich die „vollständige Lösung“ gemeint gewesen, also die Emigration. Aber in den Beratungen bei Hitler wäre Göring sehr vorsichtig gewesen, als er seine Zweifel äußerte. Er hätte nicht nur Angst gehabt, dem Führer zu widersprechen, sondern auch geglaubt, dieser hätte ein Recht gehabt, das ihm vom Allmächtigen überlassen worden wäre. Am Ende wurden die Beschlüsse des Führers erfüllt.

Es gab aber auch viele verbrecherische Befehle, für die Göring unmittelbar verantwortlich war. Er war derjenige, der als General der Polizei und der Infanterie der Polizei Waffengewalt zur Unterdrückung der Opposition erlaubte und der Polizei später 30.000 SA-Leute zur Seite stellte, die damit quasi offiziellen Status bekamen. Diesen Befehl mussten Tausende Menschen mit ihrem Leben bezahlen. Zudem wurde Göring 1933 Gründungsvater der Gestapo. Was das für ein Apparat war, muss wohl nicht gesondert erläutert werden.

Es ist immer noch unklar, welche Rolle Göring bei der Brandstiftung im Reichstagsgebäude spielte. In Nürnberg beteuerte er stets seine Unschuld, und die Ankläger konnten seine Verbindung zu den damaligen Ereignissen nicht vollständig beweisen. Das war aber nicht verwunderlich: Die Wahrheit über diesen seltsamen Vorgang konnten die Nazis geheim halten. Aber Beweise für Görings Schuld gab es ohnehin reichlich. Also landete er logischerweise auf der Anklagebank.

Der treue „Verräter“

Hitlers Unzufriedenheit mit Göring wurde nach ständig neuen Misserfolgen im Laufe des Kriegs immer größer. Viele Versprechen des Reichsmarschalls waren von Anfang an unerfüllbar. Aber Hitler glaubte wohl tatsächlich an sein Glück, denn zuvor hatte er Göring zugestimmt, dass die Luftwaffe die bei Stalingrad eingekesselte Armee von Feldmarschall Paulus mit allen nötigen Gütern versorgen könnte. Später versprach Göring dem Führer, die Luftwaffe würde die Russen daran hindern, deutschen Boden zu betreten. Allerdings hatte Hitler immer größere Zweifel, bekam immer häufiger Wutanfälle, wenn er über neue Luftangriffe des Gegners erfuhr. Göring verlor allmählich Einfluss an der Machtspitze. Seinen Status des „Nazis Nummer zwei“ beanspruchten gegen Kriegsende auch Bormann, Himmler und teilweise auch Goebbels.

Dennoch galt Göring auch im Schattendasein formell als „Nachfolger“ des Führers. Erst am 23. April 1945 entließ Hitler ihn wütend aus allen seinen Ämtern. Anlass war, dass Göring vorgeschlagen hatte, die Funktionen des Regierungschefs zu übernehmen (als Reichsführer war Hitler sowohl Ministerpräsident als auch Staatsoberhaupt). Laut einigen Studien war das der letzte verzweifelte Versuch, mit den Amerikanern und Briten Friedensverhandlungen aufzunehmen. Hitlers Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Göring wurde nicht nur aus seinen Ämtern entlassen, sondern auch aus der NSDAP ausgeschlossen, die er einst gemeinsam mit dem Führer gegründet hatte. Mehr noch: Göring wurde sofort von der SS in Gewahrsam genommen. Es wurde sofort das Gerücht in Umlauf gesetzt, Hitler hätte verfügt, Görings Familie, unter anderem seine kleine Tochter, zu töten. Aber bald wurden die SS-Leute, die Göring bewachten, durch Vertreter der Luftwaffe ersetzt, die ihren früheren Chef freiließen. Unmittelbar danach stellte sich Göring samt seiner Familie den Amerikanern.

Hermann Göring mochte das Nürnberger „Gericht der Sieger gegen die Verlierer“ nicht anerkennen und seine Schuld an Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zurückweisen – das spielte keine Rolle. Denn noch lange vor dem Tribunal hatte er sich selbst als Mörder bezeichnet. In seinem Buch „Aufbau einer Nation“ aus dem Jahr 1934 hatte er geschrieben, dass jede Kugel, die aus der Pistole eines Polizisten geflogen sei, seine Kugel sei; und wenn jemand das einen Mord nennen würde, würde das bedeuten, dass er (Göring) getötet hätte.