Was im Rückblick auf die Schreckensherrschaft der deutschen Faschisten häufig untergeht: Es gab Experimente zur Massensterilisation, die unter der Regie des SS-Reichsführers Heinrich Himmler von 1941 bis 1945 vorgenommen worden. Bis dato sind leider keine Studien zur Unfruchtbarkeitsmachung großer Volksgruppen durchgeführt worden. Im Rahmen der Dokumentationsreihe „Genozid. Der Plan des Reichs“, die vom Projekt „Nuremberg. Casus pacis“ zusammen mit der Versammlung der Völker Eurasiens und dem Historiker und Präsident der Stiftung „Digitale Geschichte“, Jegor Jakowlew, erstellt wird, werden jetzt Dokumente veröffentlicht, die Einblicke in die Experimente der SS, ein Wundermittel auf Basis des Saftes einer südamerikanischen Pflanze zu entwickeln, geben.

„Der Feind muss nicht nur besiegt, sondern vernichtet werden“

Sterilisations-Experimente stechen unter den medizinischen Projekten der SS  besonders hervor.  Alle andere Experimente – ob die Entwicklung eines Malaria-Impfstoffs, Frostschutzmittel bzw. Methoden zur Umwandlung von Meerwasser in Trinkwasser –  waren darauf ausgelegt, Schwerverletzte wieder für den Krieg einsatzfähig zu machen und die Kampfkraft der Streitkräfte zu erhöhen. Doch die Suche nach einer Methode, die Fortpflanzung bei großen Volksgruppen schnell und unauffällig auszuschließen, war nun überhaupt nicht mit militärischen Aufgaben verbunden. Das Ziel bestand darin, für die Nazis unerwünschte Volksgruppen im Vorgriff auf Zeit im Nachkriegseuropa stark zu reduzieren.

Spezialisten, die an diesen Programmen beteiligt waren, standen vor Gericht in den ersten Zusatzverfahren - dem Ärzteprozess -  zu den Nürnberger Prozessen. Der Prozess lief vom 9. Dezember 1946 bis zum 20. August 1947. Auf der Anklagebank saßen unter anderem der Dermatologe und Venerologe Adolf Pokorny, der in einem eigens gegründeten SS-Fachgremium nach Methoden der Massensterilisation gesucht hatte. Die Korrespondenzen zwischen Nazi-Beamten und die ausführlichen Aussagen des Angeklagten zeigen anschaulich, welche Initiativen von der SS-Führungsriege unterstützt worden waren und welche Pläne der Chef dieses Gremiums hatte.

Im Oktober 1941 bekam SS-Reichsführer Himmler einen Brief von Militärmediziner Adolf Pokorny. Er gehörte nicht zur medizinischen Elite des Dritten Reichs, lebte in einer Stadt im provinziellen Sudetenland, Himmler kannte ihn gar nicht. Doch er suchte aktiv nach inoffiziellen Kanälen, um mit dem mächtigen SS-Funktionär in Kontakt zu treten. Pokorny wollte den Chefideologe der Rassenpolitik auf die Studien des deutschen Mediziners Gerhard Madaus, Gründers des Biologischen Instituts in Radebeul/Dresden, aufmerksam machen. Er wies auf eine Veröffentlichung von Madaus hin, der entdeckt hatte, dass die südamerikanische Schweigrohrpflanze (Caladium seguinum) bei Tieren eine dauerhafte Sterilisation bewirkte.

„Getragen von dem Gedanken, dass der Feind nicht nur besiegt, sondern vernichtet werden muss, fühle ich mich verpflichtet, Ihnen, als dem Reichsbeauftragten zur Festigung des deutschen Volkstums folgendes zu unterbreiten. Dr. Madaus veröffentlicht das Ergebnis seiner Forschungen über eine medikamentöse Sterilisierung (beide Arbeiten lege ich bei). Bei der Lektüre dieses Artikels ist mir die ungeheuere Wichtigkeit dieses Medikamentes für den jetzigen Kampf unseres Volkes eingefallen. Wenn es gelänge, auf Grund dieser Forschungen sobald als möglich ein Medikament herzustellen, das nach relativ kurzer Zeit eine unbemerkte Sterilisierung bei Menschen erzeugt, so stände uns eine neue wirkungsvollste Waffe zur Verfügung. Allein der Gedanke, dass die 3 Millionen momentan in deutscher Gefangenschaft befindlichen Bolschewisten sterilisiert werden könnten, so dass sie als Arbeiter zur Verfügung stünden, aber von der Fortpflanzung ausgeschlossen wären, eröffnet weitgehendste Perspektiven.

Madaus fand, dass der Saft des Schweigrohrs (caladium seguinum) durch den Mund eingenommen oder als Injektion verabreicht, besonders bei männlichen aber auch weiblichen Tieren nach einer gewissen Zeit eine dauernde Sterilität erzeugt. Die Abbildungen, die der wissenschaftlichen Arbeit beigefügt sind, sind überzeugend.

Woferne der von mir ausgesprochene Gedanke Ihre Zustimmung findet, wäre folgender Weg einzuschlagen:

1.) Dr. Madaus dürfte keine Publikation dieser Art mehr veröffentlichen (Feind hört mit!).

2.) Vermehrung der Pflanze (in Glashäusern leicht züchtbar!).

3.) Sofortige Versuche an Menschen (Verbrecher!), um die Dosis und Dauer der Behandlung festzustellen.

4.) Rascheste Ergründung der Konstitutionsformel des wirksamen chemischen Körpers, um

5.) diesen womöglich synthetisch herzustellen“, schrieb Pokorny.

Himmler las diesen Brief wohl erst im März 1942 genauer. Wie er in einer Korrespondenz zugab, sorgte dieses Schreiben für großes Interesse bei ihm. Pokornys Ideen trafen auf Zuspruch, obwohl er selbst dafür keinen Dank erhielt. Der Leiter des SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamtes (WVHA) Oswald Pohl wurde beauftragt, Madaus zu kontaktieren und ihm vorzuschlagen, zusammen mit dem SS-Reichsarzt Ernst-Robert Grawitz Experimente an Menschen zu machen. Die Experimente sollten an Verbrechern erfolgen, die laut Gerichtsbeschluss ohnehin sterilisiert werden sollten.

Gift oder Bestrahlung?

In Nazideutschland wurde Zwangssterilisation als Maßnahme zur “Genesung der Nation” eingesetzt. Laut Gesetz von 1933 waren Personen mit Erkrankungen wie angeborener Schwachsinn, erbliche Chorea Huntington, Epilepsie,  Zyklothymie und Schizophrenie von dieser Maßnahme betroffen,  Alkoholiker und gefährliche Straftäter gehörten auch dazu. Seit Ende der 1930er-Jahre wurden inoffiziell Regimegegner sterilisiert.

Damals standen Eugenik-Themen  (außer Sterilisation als Instrument politischer Repressalien) weltweit hoch im Kurs und waren nicht nur für Deutschland typisch. Maßnahmen dieser Art gab es auch in anderen Ländern Europas und einigen US-Bundesstaaten.

Doch Anfang 1941 forderten die Nazis, die Verhinderung der Fortpflanzung auf ein neues Niveau zu bringen. Unter Leitung Himmlers wurde nach einer Sterilisationsmethode gesucht, die nicht nur einen einzelnen Menschen, sondern große Volksgruppen trifft und schnell Ergebnisse bringt. Darüber hinaus sollte sie unauffällig sein. Himmlers persönlicher Referent Rudolf Brandt formulierte die Ziele dieser Studien genau so: „Himmler war höchst interessiert an der Entwicklung einer billigen und schnellen Sterilisationsmethode, welche gegen die Feinde des Deutschen Reiches, wie Russen, Polen und Juden, angewandt werden konnte... Die Arbeitskraft sterilisierter Personen konnte von Deutschland ausgenutzt werden, während die Fortpflanzung ausgeschaltet werde“.

Zunächst galt Röntgenstrahlung als die aussichtsreichste Methode. Experimente mit Röntgenstrahlung  wurden in Auschwitz unter Leitung von SS-Oberführer Viktor Hermann Brack durchgeführt.

Doch bald kamen die Nachteile dieser Methode zutage – die Röntgenstrahlung schadete nicht nur den Geschlechts-, sondern auch anderen Organen, was zur Arbeitsunfähigkeit bzw. Tod  führte.

Das bedeutete also, dass diese Menschen nicht mehr als Arbeitskraft genutzt werden konnten. Deswegen fand Himmler Gefallen an der Alternative, auf die Pokorny hingewiesen hatte.

Nach einigen Monaten fragte Himmler nach einem Bericht, den Pohl vorzulegen hatte. Dieser berichtete am 3. Juni, dass er mit dem Direktor des Biologischen Instituts und Ko-Autoren Madaus’, Ernst Koch, im Kontakt steht. Allerdings sei die Studie ins Stocken geraten, weil diese Pflanze nur in Südamerika wachse. Kochs Versuche, die Samen der Pflanze in Treibhäusern keimen zu lassen, waren zwar erfolgreich, doch dieser Prozess sei zu langsam. Auch der Ertrag sei unzureichend, um die Pflanze im großen Ausmaß zu bekommen, so Pohl. Kurze Zeit später kam eine Antwort von Brandt, der Pohl zusicherte, in kürzester Zeit ein großes Gewächshaus für Koch bauen zu lassen. Himmlers Referent betonte, dass diese Studien äußerst wichtig seien.

Zur Überprüfung der Madaus-Experimente wurde der erfahrene Chemiker vom Konzern IG Farben, Karl Tauböck, ins Biologische Institut geschickt. Er kam zu dem Schluss, dass die Sterilisierung mit der Schweigrohrpflanze tatsächlich möglich ist. Auf der Rückfahrt nach Berlin teilten die ihn begleitenden SS-Offiziere mit, dass die Studien im Auftrag des Reichsführers zur Eindämmung der Fortpflanzung unter den östlichen Völkern geführt werden.

Es ist interessant, die Offenbarungen der SS-Offiziere mit den öffentlichen Erklärungen ihres Chefs zu vergleichen. Im Herbst 1942 sprach Himmler in der SS-Junkerschule Bad Tölz. Nach dem Sieg des deutschen Volkes soll der östliche Raum kolonisiert und in den europäischen Kulturraum integriert werden. Im Laufe von 20 Jahren nach Kriegsende soll die Grenze 500 Kilometer nach Osten  verschoben werden. Das bedeute, dass dorthin Bauernfamilien geschickt, die Umsiedlung des besten deutschen Bluts organisiert und das millionenfache russische Volk untergeordnet werden soll, um dieses Ziel zu erreichen. Nachdem weltweit läutende Glocken den große Sieg vermelden, werde die schwierigste Etappe beginnen. Es stünden 20 Jahre Kampf um die Eroberung der Welt bevor…  Dann wäre dieser Osten von fremdem Blut befreit, und deutsche Familien würden sich dort als Gutsbesitzer niederlassen, so Himmler. Die Studien zum Thema Sterilisation würden erklären, wie fremdes Blut im Osten laut Himmler in einer Generation verschwinden könne.

Ende August 1942 stellte sich heraus, dass Pokorny nicht als einziger auf die wissenschaftlichen Publikationen von Gerhard Madaus hingewiesen hatte. Ein Brief mit dem Vorschlag, seine Methode anzuwenden, kam auch von SS-Oberführer und  Vize- Gauleiter im Reichsgau Niederdonau Kurt Gerland. Er informierte über die Bereitschaft des Leiters der regionalen Verwaltung für Rassenpolitik, Dr. Fehringers, zur Erforschung der Effizienz der Dieffenbachia in Österreich. Pohls Antwort, dass solche Forschungen bereits begonnen hatten, hielt Gerland nicht auf. Er rief Brandt dazu auf, Fehringer doch zu erlauben, mit großen österreichischen Biologen zusammenzuarbeiten, die versuchten, die südamerikanische Pflanze künstlich synthetisieren. Darüber hinaus war Fehringer bereit, Dieffenbachia in Treibhäusern zu züchten und an den Häftlingen des Lagers Lackenbach, wo Roma und Sinti gehalten wurden, zu testen. Gerland beantragte eine Erlaubnis für seinen Mitarbeiter, mit dem KZ-Chefarzt Enno Lolling zu kooperieren. Brandt erwiderte, er hätte keine Zweifel daran, dass der Reichsführer nichts dagegen haben würde, und bat Pohl, diesen Kontakt herzustellen. So entstand die zweite Projektgruppe, die mithilfe der Dieffenbachia die für Himmler erwünschte Wirkung erreichen wollte.

Am Ende aber ist es weder Koch (Madaus war 1942 gestorben) noch Fehringer gelungen, diese Wirkung zu erreichen. Sie konnten weder den Pflanzenextrakt synthetisieren, noch einen großen Dieffenbachia-Ertrag erzielen. Nach 1942 forderte Himmler keine Berichte mehr zu dieser Arbeit an. Seine Aufmerksamkeit galt künftig wieder Experimenten mit Röntgenstrahlung, die diesmal Dr. Horst Schumann leitete, wie auch Experimenten mit Säure-Injektionen in die Gebärmutter, die in Auschwitz und später in Ravensbrück von Dr. Carl Clauberg durchgeführt wurden.

Ein bescheidener Arzt aus Chomutov

Als in den Papieren des Reichsführers nach dem Zusammenbruch der Nazi-Herrschaft Pokornys Memorandum entdeckt wurde, wurde der Autor festgenommen, obwohl er während des Kriegs an keinen Experimenten der SS-Vertreter teilgenommen, keine Dieffenbachia gezüchtet und diese Pflanzen überhaupt nie gesehen hatte. Pokorny wurde vor Gericht gestellt. So erfuhr die Öffentlichkeit vom Urheber dieser grausamen Initiativen, den mehrere Zeugen als einen Mann mit demokratischen und antifaschistischen Ansichten beschrieben hatten.

Adolf Pokorny war am 26. Juli 1895 in Wien geboren. Sein Vater hatte tschechische Wurzeln und war Offizier. Vor Gericht behauptete der Arzt, er hätte noch als Kind die Besonderheiten des Soldatenlebens mit ständig wechselnden Wohnorten gekannt. Die Bekanntschaft mit verschiedenen Kulturen hätte seine Toleranz geprägt. Nach der Universität heiratete er seine Kollegin Lilly Weil, die jüdische Wurzeln hatte: Die beiden waren in die Kleinstadt Chomutov (Komotau) im Sudetenland gezogen, wo sie eine Arztpraxis eröffneten. Das Paar bekam einen Sohn und eine Tochter, ließ sich aber 1935 scheiden.

Nach dem Anschluss des Sudetenlandes verschlimmerte sich die Situation für Pokorny. Die Nazis wollten im Sinne der antisemitischen Nürnberger Gesetze die Hälfte seines Hauses beschlagnahmen, die vor der Scheidung seiner Frau gehört hatte. Als Ex-Mann einer Jüdin und Vater von zwei halbjüdischen Kindern, die das Paar aus Sicherheitsgründen im Juni nach England gebracht hatte, galt Pokorny als „unzuverlässig“. Aus diesem Grund wurde er zu Beginn des Zweiten Weltkriegs nicht in den Wehrdienst berufen – bis Januar 1942 blieb er Reservist. Kurz vor seiner Entsendung an die Front hatte ihn seine Ex-Frau aus Prag angerufen und um Hilfe gebeten: Ihr drohte KZ-Haft.

Laut Pokornys Aussage wollte er sich mit der Frau seiner Kinder treffen, aber bei ihm wäre plötzlich ein Nazi-Offizier erschienen, der ihm gesagt haben soll, sein Telefonat mit Lilly Weil sei abgehört worden. Und sollte er nach Prag reisen, würde man ihn in seinem eigenen Büro erschießen. Bald darauf zog Pokorny in den Krieg. Seine Ex-Frau wurde Opfer des Holocausts.

Was hatte aber diesen Mann zu diesem schrecklichen Schreiben an den SS-Reichsführer bewegt? Da es zwecklos war, zu bestreiten, dass er den Brief geschrieben hatte, behauptete Pokorny vor Gericht, er hätte potenziellen Nazi-Opfern keineswegs schaden wollen, ganz im Gegenteil: Er wollte sie retten. Laut Anklageschrift rechtfertigte er sich damit, dass er die von Himmler vorangetriebene Massensterilisierung der Juden und der Einwohner der Ostgebiete verhindern wollte. Er hielt die Idee der Sterilisierung mit Dieffenbachia aus wissenschaftlicher Sicht für unmöglich und dachte, dass die Schlussfolgerungen aus Madaus‘ Artikeln den „Fakten nicht entsprechen“ würden. Deshalb wollte er nach seinen Worten Himmler in die Irre leiten und von dessen Absichten abbringen, eine tatsächlich effiziente und tödlich gefährliche Strahlung einzusetzen.

Aber wie hatte Pokorny von den Strahlungs-Experimenten erfahren? Denn deutsche Medien hatten darüber nicht berichtet. Angeblich hatte ihn im Sommer 1941 ein SS- oder SD-Offizier namens Voigt besucht. Dabei betonte Pokorny, dass dieser Mann nicht aus Komotau gewesen sei, sondern irgendwoher gekommen wäre. Möglicherweise gab es dabei einen „delikaten“ Anlass: Der Patient soll eine Geschlechtskrankheit gehabt haben. Der Arzt erinnerte sich, dass der Mann eine staatliche Krankenversicherung gehabt hatte, auf diese jedoch nicht zurückgreifen  wollte und deshalb ihn gebeten hatte, ihn anonym zu behandeln.

Während der Untersuchung soll Voigt eine medizinische Zeitschrift genommen haben, die auf dem Tisch gelegen hatte, und dort den Artikel von Dr. Madaus gesehen haben. Er sagte angeblich, diese Information sollte dem Reichsführer mitgeteilt werden, denn SS-Leute hätten schon damals nach Wegen zur Massensterilisierung gesucht und sich mit dem Thema Röntgenstrahlen befasst. Zudem soll der Offizier gesagt haben, diese Experimente wären mit dem laufenden Krieg und der künftigen Besiedlung der Ostgebiete eng verbunden gewesen. „Er sagte, eine deutsche Familie hätte im Durchschnitt zwei Kinder und eine slawische Familie acht bis zwölf Kinder gehabt. Diese Anmerkung ließ vermuten, dass Himmler verschiedene Völkerschaften und vor allem die Slawen massenweise sterilisieren wollte.“ Voigt schien Pokorny gut aufgeklärt zu sein. Unter anderem soll er mitgeteilt haben, dass die Reichsführung bereits die Leitung des künftigen Polizeistabs in Tiflis ernannt hätte. Pokorny will davon überrascht worden sein, denn die Wehrmacht war damals noch sehr weit von der Hauptstadt des sowjetischen Georgiens entfernt.

Pokornys Aussagen über sein Gespräch mit Voigt waren durchaus glaubwürdig. Jedenfalls wurde klar, warum Pokorny damit gerechnet hatte, dass sich Himmler für Informationen über Massensterilisierung interessieren würde, und dass der allmächtige Reichsführer überhaupt den Brief eines Arztes aus der Provinz lesen würde. Aber wer war dieser Herr Voigt, der über die Pläne der SS und der Polizei im Osten so gut informiert war? Das müsste ein hochrangiger Offizier gewesen sein, der umfassende Kontakte mit Beamten hatte, die Operationen in den besetzten Gebieten der Sowjetunion planten.

Das könnte beispielsweise Paul Schmitz-Voigt gewesen sein, NSDAP- und SS-Mitglied seit 1933, der seit März 1941 an der Spitze der Münchner Kriminalpolizei gestanden hatte. Zuvor hatte der Mann denselben Posten in Prag bekleidet, das nur eine Fahrtstunde von Komotau entfernt lag. Dabei erwähnte Pokorny, dass Voigt nicht der einzige SS-Mann gewesen sei, der auf seine Dienste zurückgegriffen hatte. Demnach galt der Doktor unter den regionalen SS-Beamten als guter Spezialist für delikate Fälle. Auch Schmitz-Voigt könnte bereits während seines Dienstes in Böhmen und Mähren über Pokorny gehört haben. Denn ein guter Arzt in einer kleinen Provinzstadt in einem kürzlich einverleibten Gebiet passte bestens für Behandlung einer „schändlichen“ Krankheit.

Schmitz-Voigt gehörte zum Kader des Reichssicherheitshauptamts und kannte mehr oder weniger die gesamte Elite der Geheimdienste. 1937 war er Vizeleiter der preußischen Kriminalpolizei gewesen, wo sein unmittelbarer Vorgesetzter Arthur Nebe war, der künftige Kommandeur der Einsatzgruppe B im Osten. Mit einem solchen Netzwerk konnte Schmitz-Voigt tatsächlich viele vertrauliche Informationen gekannt haben, auch über Strahlungs- oder Sterilisierungsexperimente sowie über die Ernennung des künftigen Polizeistabs im Kaukasus. Natürlich müsste bewiesen werden, dass ausgerechnet er mit dem Autor des Briefs an Himmler gesprochen hatte, aber so unrealistisch schien diese Version nicht zu sein.

Im Unterschied zu der Erzählung über Voigt wirkten die Aussagen des Angeklagten über seine Motivation kaum überzeugend. Pokorny hatte so gut wie keine Chance, Himmler Angst zu machen, denn der Reichsführer hatte immerhin bessere Experten zur Verfügung, die viel größere Erfahrungen und Verdienste als Pokorny hatten.

Viel wahrscheinlicher war die Version, dass Pokorny sein Memorandum an den SS-Chef geschickt hatte, um seine Loyalität zum Nazi-Regime zu zeigen und dadurch seine eigene Zukunft zu sichern. Vor Gericht räumte er ein, vor 1940 mit „Unbequemlichkeiten“ konfrontiert worden zu sein, die sich auf die Vorwürfe wegen seiner jahrelangen Ehe mit einer Jüdin zurückführen ließen.

Das Tribunal zeigte sich skeptisch zu den Rechtfertigungen des Arztes, fand jedoch in seinen Handlungen kein Strafdelikt. Pokorny wurde freigesprochen und durfte weiter als Arzt arbeiten, ohne künftig verfolgt zu werden.

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Obwohl die Experimente mit Dieffenbachia keine Ergebnisse für die Nazis gebracht haben, ist die Geschichte des Pokorny-Schreibens sehr kennzeichnend. Sie beweist nämlich, dass Heinrich Himmler die Suche nach sicheren Sterilisierungsmethoden zu den Prioritäten der deutschen Medizin zählte. Sein Umfeld wusste das sehr gut, und manche von seinen Mitarbeitern (beispielsweise Gerland und Fehringer) gingen akribisch in diesem Bereich vor.

Diese Geschichte beweist auch, dass die großen Ziele dieser Experimente der Nazis kein großes Geheimnis gewesen waren. Davon wussten viele Funktionäre, egal ob Voigt, Brandt oder Tauböck. Pokorny selbst versuchte, sich für den Brief über die Sterilisierung der gefangenen „Bolschewisten“ zu rechtfertigen, indem er erklärte: „Ich schrieb das, was Himmler besonders stark beeindrucken könnte“ – also wollte er den Inhalt seines Briefes angeblich dem konkreten Empfänger anpassen. Das bedeutet, dass man dem Schuldspruch des Nürnberger Tribunals im Kontext des Ärzteprozesses nur zustimmen kann: „Die Nazis suchten nach wissenschaftlich begründeten und dabei möglichst unauffälligen Methoden zur Vernichtung von ganzen Menschenrassen, ob durch unmittelbare Tötung oder durch die Unmöglichkeit für diese Menschen, Nachwuchs zu bekommen. Sie entwickelten einen neuen Zweig der Medizin, der ihnen wissenschaftliche Instrumente für die Planung und Umsetzung des Völkermordes schenken würde.“

 

Jegor Jakowlew

Beitrag im Fachmagazin „Istorija“, Band 11, Ausgabe 3 (89)