Die Vernehmung des Leiters des Reichssicherheitshauptamtes, Ernst Kaltenbrunner, wurde erst vor kurzem komplett ins Russische übersetzt. Einige Fragmente der Befragung durch Verteidiger und Ankläger waren bis dato unbekannt und liefern reichlich Aufschluss über die Gesinnung der Nazi-Verbrecher.

Schickte Kaltenbrunner 12.000 Juden zur Zwangsarbeit nach Wien?

(US-Staatsanwalt) OBERST AMEN: Ich bitte, dem Angeklagten das Dokument 3803-PS, das die Nummer US-802 erhält, vorzulegen. Ich verweise Sie auf die ersten drei Absätze. Sie werden bemerken, dass der Brief von Ihnen selber stammt und wie folgt lautet:

„An den Herrn Bürgermeister der Stadt Wien, SS-Brigadeführer Blaschke.

Betrifft: Zuteilung von Arbeitskräften für kriegswichtige Arbeiten der Stadt Wien.

Bezug: Dein Schreiben vom 7. Juni 1944.

Lieber Blaschke! Aus den von Dir – in gleicher Angelegenheit hat mir übrigens SS-Brigadeführer Dr. Dellbrügge geschrieben – angeführten besonderen Gründen habe ich inzwischen angeordnet, einige Evakuierungstransporte nach Wien/Strasshof zu leiten.

Es handelt sich zunächst um vier Transporte mit etwa 12000 Juden, die bereits in den nächsten Tagen in Wien eintreffen. Nach den bisherigen Erfahrungen werden bei diesen Transporten schätzungsweise etwa 30 % (im vorliegenden Fall etwa 3600) an arbeitsfähigen Juden anfallen, die unter Vorbehalt ihres jederzeitigen Abzuges zu den in Rede stehenden Arbeiten herangezogen werden können. Dass nur ein gut bewachter, geschlossener Arbeitseinsatz und eine gesicherte lagermäßige Unterbringung in Betracht kommen kann, liegt auf der Hand und ist unbedingte Voraussetzung für die Bereitstellung dieser Juden.

Die nichtarbeitsfähigen Frauen und Kinder dieser Juden, die sämtlich für eine Sonderaktion bereitgehalten und deshalb eines Tages wieder abgezogen werden, müssen auch tagsüber in dem bewachten Lager verbleiben.

Weitere Einzelheiten bitte ich mit der Staatspolizeistelle Wien – SS-Obersturmbannführer Dr. Ebner und SS-Obersturmbannführer Krumey vom Sondereinsatzkommando Ungarn, der sich zur Zeit in Wien aufhält – zu besprechen.

Ich hoffe, dass Dir diese Transporte bei Deinen vordringlichen Arbeitsvorhaben eine Hilfe sein werden und verbleibe mit

Heil Hitler!

Dein Kaltenbrunner.“

Nun, erinnern Sie sich an diese Mitteilung?

KALTENBRUNNER: Nein.

OBERST AMEN: Verneinen Sie es, den Brief geschrieben zu haben?

KALTENBRUNNER: Ja.

OBERST AMEN: Nun, ich glaube, diesmal, Angeklagter, steht Ihre eigene Unterschrift unter dem Original dieses Briefes. Haben Sie das Original?

KALTENBRUNNER: Ja.

OBERST AMEN: Ist das nicht Ihre Unterschrift?

KALTENBRUNNER: Nein, das ist nicht meine Unterschrift. Es ist eine Unterschrift entweder in Tinte oder in Faksimile; aber es ist nicht die meinige.

OBERST AMEN: Angeklagter, ich will Ihnen Beispiele Ihrer Unterschrift zeigen, die Sie während Ihrer Verhöre gegeben haben, und ich bitte Sie, mir zu sagen, ob das nun Ihre Unterschriften sind oder nicht.

KALTENBRUNNER: Ich habe Hunderte von solchen Unterschriften bereits abgegeben, und ich bin überzeugt, dass sie stimmen werden; dies mit Bleistift unterschriebene Dokument ist von mir unterfertigt.

OBERST AMEN: Nun, wollen Sie sie irgendwie anzeichnen, so dass der Gerichtshof sich die Unterschriften ansehen kann, von denen Sie zugeben, dass sie die Ihrigen sind, und sie mit der Unterschrift auf diesem Dokument 3803-PS, US-802 vergleichen kann?

KALTENBRUNNER: Die auf diesen Papieren mit Bleistift geschriebenen Unterschriften stammen von mir, sind meine eigenen.

OBERST AMEN: Alle?

KALTENBRUNNER: Alle drei.

OBERST AMEN: Gut.

KALTENBRUNNER: Aber nicht die mit Tinte geschriebenen.

OBERST AMEN: Sehr gut. (…) Ich möchte noch einen Augenblick auf das Dokument 3803-PS mit der Unterschrift des Angeklagten zurückkommen. (…) Wollen Sie sich die Unterschrift ansehen und mir sagen, ob Sie nicht handschriftlich gerade über der Unterschrift die Buchstaben „Dein“ finden?

KALTENBRUNNER: Ja.

OBERST AMEN: So wie ich es verstehe, bedeutet das Wort „Dein“ einen intimen Ausdruck, der nur unter eng befreundeten Personen üblich ist; ist das richtig?

KALTENBRUNNER: Es gibt im Deutschen nur zwei Phrasen in der Unterschrift, entweder „Ihr“ oder „Dein“. „Dein“ unterschreibt man dann, wenn man mit jemand das Du-Wort wechselt, also mit jemandem, mit dem man befreundet ist. Ich bin mit dem Bürgermeister von Wien, Blaschke, befreundet und offensichtlich...

OBERST AMEN: Richtig, nun wäre es nicht absolut lächerlich und undenkbar, dass ein Stempel oder ein Faksimile hergestellt würde, nicht nur mit der Unterschrift, sondern auch dem Worte „Dein“ über der Unterschrift?

KALTENBRUNNER: Das wäre mindestens unsinnig, das gebe ich ohne weiteres zu, aber ich habe ja auch nicht gesagt, dass es eine Faksimile-Unterschrift sein muss. Sondern ich habe erklärt, es ist nicht meine Unterschrift, und dass sie entweder ein Faksimile ist oder sie ist mit einer anderen Unterschrift darunter gesetzt worden. Der Verfasser des Briefes ist – Sie ließen mich dabei nicht aussprechen – wie aus der Chiffre links oben hervorgeht, in der Abteilung IV a, 4 b zu suchen. Im gesamten Amt und jedem Menschen im Großdeutschen Reich ist es bekannt gewesen, dass der Bürgermeister von Wien, Blaschke, und ich schon aus der gemeinsamen Wiener politischen Tätigkeit her seit vielleicht zehn Jahren das Du-Wort gewechselt haben und als Du-Freunde bekannt sind. Wenn ich zum Beispiel also von Berlin abwesend gewesen bin, und der Brief war eilbedürftig, ich nehme das aus seinem Inhalt an, so hat sicherlich der Beamte es für gerechtfertigt befunden, diese Floskel darunter zu schreiben. Ich habe ihn dazu nicht ermächtigt. Es ist und bleibt von ihm natürlich eine Unmöglichkeit. Aber so allein kann ich es mir vorstellen.

OBERST AMEN: Nun, Angeklagter, endlich geben Sie zu, dass es nicht eine Faksimile-Unterschrift ist, nicht wahr?

KALTENBRUNNER: Es ist ganz ungewöhnlich, einen Stempel mit „Dein“ zu schneiden, es wäre vollkommen unmöglich, also hat der Beamte selbst diese Unterschrift darunter gesetzt. Dass ich mit Blaschke per Du bin, ist jedem bekannt, daher musste er auch das Wort „Dein“ darunter schreiben, wenn es schon meine Unterschrift ist.

Dann, bitte sehen Sie sich auch die Zahl 30 oben an, Sie werden aus vielen meiner Schriftproben entnehmen können, dass ich bestimmt nicht so schreibe.

OBERST AMEN: Angeklagter, ist es nicht genau so lächerlich anzunehmen, dass jemand, ein Beamter, wie Sie ihn nennen, der einen solchen Brief in Ihrem Namen unterschreibt, wagen würde, Ihre Unterschrift nachzuahmen?

KALTENBRUNNER: Das nicht, aber Herr Ankläger, es wäre selbstverständlich, einem Oberbürgermeister von Wien und einem Mann gegenüber, von dem auch dieser Beamte vielleicht genau weiß, dass ich mit diesem Blaschke per „Du“ bin, mit Maschinenschrift meinen Namen unter einen persönlicher gehaltenen Brief gesetzt hätte. Das wäre ebenso unmöglich. Er hatte aber, wenn ich nicht in Berlin bin, nur die zwei Möglichkeiten, entweder mit Maschine zu schreiben, oder so zu tun, als ob Kaltenbrunner hier gewesen wäre.

OBERST AMEN: Ist es nicht so, Angeklagter, dass Sie einfach hier über Ihre Unterschrift unter diesem Brief lügen, genau so, wie Sie über fast alles andere, worüber Sie Zeugnis abgelegt haben, den Gerichtshof angelogen haben? Ist das nicht eine Tatsache?

KALTENBRUNNER: Herr Ankläger, ich bin diese Beleidigungen, die Sie mir jetzt mit dem Wort „Lüge“ ins Gesicht schleudern, seit einem Jahr gewohnt. Ich bin seit einem Jahr in Hunderten von Verhören hier und in London mit diesem und noch viel ärgeren Schimpfworten belegt worden. Meine Mutter, die im Jahre 1943 gestorben ist, ist eine Hure genannt worden, und Dutzende ähnliche Sachen sind geäußert worden. Mir ist diese Bezeichnung nicht neu, aber ich möchte Ihnen erklären, dass ich in einer Angelegenheit, wie diese hier, bestimmt nicht die Unwahrheit sprechen werde, wenn ich dem Gericht gegenüber in viel größeren Dingen die Glaubwürdigkeit beanspruche.

OBERST AMEN: Ich stelle mich auf den Standpunkt, Angeklagter, dass, wenn Ihre Aussage so direkt im Gegensatz zu den von zwanzig bis dreißig anderen Zeugen und noch viel mehr Dokumenten steht, es kaum glaubhaft ist, dass Sie die Wahrheit sprechen und dass jeder Zeuge und jedes Dokument falsch oder unwahr sein sollte. Finden Sie das nicht auch?

KALTENBRUNNER: Nein, das kann ich deshalb nicht zugeben, weil ich bisher das Gefühl haben muss, dass jedes von Ihnen mir gegenüber heute produzierte Dokument von mir auch sofort bei der ersten Sicht in den wichtigsten Gründen widerlegt werden konnte.

Welche Unterschriften Kaltenbrunners sind echt und welche sind gefälscht?

Ich zeige Ihnen Dokument 535-PS, das ich als US-807 vorlege. Vor allem möchte ich wissen, ob die Unterschrift unter diesem Dokument von Ihnen stammt, ob es Ihre Handschrift ist.

[Dem Zeugen wird das Dokument überreicht.]

KALTENBRUNNER: Das ist meine Unterschrift, ja.

OBERST AMEN: Das ist also Ihre Unterschrift?

KALTENBRUNNER: Ja.

OBERST AMEN: Sie geben das also zu? Ist das richtig?

KALTENBRUNNER: Das ist meine Unterschrift. Ja.

OBERST AMEN: Nun, in einem Verhör vor Beginn dieses Prozesses haben Sie geleugnet, dass dies Ihre Unterschrift sei, nicht wahr?

KALTENBRUNNER: Das glaube ich nicht, nein.

OBERST AMEN: Dann werde ich jetzt Ihre Aussage über diesen Punkt verlesen. Dann können Sie sich vielleicht besser erinnern, ob Sie es abgestritten haben oder nicht:

„Antwort: Aus dem kann nur ersehen werden, dass die Wehrmacht vorhatte, mir einen Brief zu schreiben; ob mit Recht oder nicht mit Recht, und ob ich die richtige Autorität war, ihn zu schreiben, ist sehr fragwürdig. Auf jeden Fall wollte die Wehrmacht mit der Gestapo in Verbindung treten, wie man aus diesem Briefwechsel weiterhin ersehen kann, und ich bin überzeugt, dass ein Offizier der Gestapo, nämlich derjenige, der oben in diesem Brief genannt wird, derjenige ist, der dieses Dokument 535-PS geschrieben hat.

Frage: Das ist also der Brief, über den Ihnen nichts bekannt ist? Nichtsdestoweniger geht daraus hervor, wie Sie Ihren Wunsch durch den Brief an das OKW durchgesetzt haben. Das ist sehr klar.

Antwort: Aber ich streite ab, dass ich diesen Brief geschrieben habe.

Frage: Nun, haben Sie dies nicht vor einem Augenblick noch gewusst, und jetzt streiten Sie es ab?

Antwort: Ich wusste nicht nur von dem Hitler-Befehl nichts, sondern ich kannte auch diesen Brief nicht.

Frage: Aber Sie geben zu, dass es Ihre Unterschrift ist?

Antwort: Ich habe das nicht gesagt, dass dies meine Unterschrift ist. Ich habe nur gesagt, daß es Ähnlichkeit mit meiner Unterschrift hat, und es ist auch möglich, dass es nur ein Faksimile ist. Ich kann mich an einen Brief mit einem solchen Inhalt, der von mir selbst unterzeichnet worden war, nicht erinnern.

Frage: Würde es Sie mehr überzeugen, wenn Sie das Original sehen würden, das mit Tinte unterzeichnet ist.

Antwort: Ich würde eher überzeugt sein, aber es würde noch nicht beweisen, dass ich mit Tinte unterschrieben habe.“

Haben Sie diese Antworten gegeben, Angeklagter?

Kaltenbrunner: Natürlich kann ich mich nicht erinnern, ob ich solche Antworten wirklich gegeben habe oder nicht. Aber ich muss Ihnen folgendes sagen. Fragen über meine Unterschrift hat man mir natürlich 100 Mal gestellt, vor allem um mich zu verwirren. Heute (ich denke, als ich das Dokument zum ersten Mal sah) habe ich aber sofort gesagt: Ja, das ist meine Unterschrift.“ Natürlich kenne ich meine eigene Unterschrift und kann sie erkennen. Aber Sie haben mir auch solche Unterschriften gezeigt, die bestimmt nicht meine waren.

Wusste Kaltenbrunner von den Aktivitäten der Einsatzgruppen Bescheid?

Amen: Also habe ich mit der Erlaubnis des Tribunals ein Dokument, das gestern mit dem Flugzeug hergebracht wurde, zu dem es nur eine originelle Unterschrift gibt und das wir deshalb nicht übersetzen konnten. Deshalb schlage ich dem Dolmetscher vor, wenn das dem Tribunal passt, Fragmente aus dem Original vorzulesen, das in den persönlichen Unterlagen Schirachs in Wien entdeckt wurde, und dann das Originaldokument dem Gericht zu überlassen und es möglichst schnell zu bearbeiten. (…) Das ist das Dokument PS-3876. Es geht um einen Bericht von Heydrich für alle höchsten SS- und Polizeivertreter sowie für die Reichsverteidigungskommissare, der den Aktivitäten der Einsatzgruppen in der Sowjetunion im Januar 1942 gewidmet war. Und auf der Empfängerliste stand auch der Name des Angeklagten. (…)

Dolmetscher:

„Mit diesem Anhang stelle ich Ihnen den neunten umfassenden Bericht über die Aktivitäten der Sicherheitspolizei und SD-Einsatzgruppen in der UdSSR vor. Künftig wird man Ihnen diese Berichte je nach der Veröffentlichung schicken. Unterschrift: Heydrich.“

Dann gibt es noch den Stempel „Reichskommissar für Verteidigung, Wehrkreis XVII, eingegangen am 5. März 1942“, und dann kommt die Verschickung, wobei unter der Nummer 13 geschrieben steht: „An den Höchsten Leiter der SS und der Polizei, SS-Gruppenführer, Dr. Kaltenbrunner.“

Amen: Sein Name steht auf der Liste, nicht wahr? Also könnten Sie bitte zum Punkt C in diesem Dokument übergehen?

Dolmetscher: Ich lese gerade die neunte Seite des Dokuments, Abschnitt mit der Überschrift: „C. Juden“.

„Das Verhalten der Juden gegenüber den Deutschen ist immer noch offenbar feindselig und verbrecherisch. Unser Ziel ist, vollständig, soweit es überhaupt geht, die östlichen Länder von den Juden zu befreien. Hinrichtungen sollten überall so durchgeführt werden, dass sie vom Publikum unwahrscheinlich bemerkt werden. Unter der Bevölkerung, selbst unter den noch gebliebenen Juden, ist die Überzeugung verbreitet, dass die Juden einfach umgesiedelt werden. Estland wurde bereits von den Juden befreit. In Lettland ist die Zahl der in Riga gebliebenen Juden von 29 500 auf 2500 zurückgegangen. In Düneburg leben noch 962 Juden, die für dringende Arbeiten nötig sind.“

Ich lasse einige Paragraphen aus und lese weiter:

„Im litauischen Kaunas gibt es noch 15 000 Juden, in Šiauliai 4500 und in Vilnius noch 15 000, die ebenfalls für die Arbeit nötig sind. Weißrussland wird gerade von den Juden gesäubert. Die Judenzahl in dem Teil des Landes, wo Stand jetzt die zivile Verwaltung funktioniert, beträgt 139 000. Inzwischen wurden 33 210 Juden von den Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD erschossen.“

Jetzt lasse ich den Rest dieses Fragments aus und lese ein anderes Dokument weiter. (…) Das ist ein Dokument, das von Heydrich unterzeichnet wurde und auf dem das Eingangsdatum angegeben ist: 28. April 1942. Auf der Empfängerliste steht unter der Nummer 14 geschrieben: „Dem höchsten SS- und Polizeileiter, SS-Gruppenführer, Dr. Kaltenbrunner, Wien.“

Jetzt lese ich ab der elften Seite ein Fragment mit der Überschrift: „C. Juden“:

„Bei der Lösung des Judenproblems wurden an verschiedenen Frontabschnitten verschiedene Methoden verwendet. Da ein Großteil des östlichen Territoriums frei von den Juden ist, und da die wenigen Juden, die für dringende Arbeit nötig sind, in Ghettos untergebracht wurden, besteht die Aufgabe der Sicherheitspolizei und des SD in der Suche nach den Juden, die sich überwiegend auf dem Lande verstecken. Häufig wurden Juden gefasst, die die Ghettos ohne Genehmigung verlassen hatten und keine Judensterne trugen. Drei Juden, die aus dem Reich in das Ghetto in Riga geschickt worden und geflüchtet waren, wurden von der Polizei gefasst und öffentlich im Ghetto erhängt. Bei großen antijüdischen Einsätzen wurden 3412 Juden in Minsk, 302 in Wilejka und 2007 in Baranowitschi erschossen…“

Jetzt lasse ich drei Paragraphen aus und setze fort:

„Zusätzlich zu den Maßnahmen gegen einzelne Juden, die für ihre politische oder kriminelle Tätigkeit bekannt sind, bestand die Aufgabe der Sicherheitspolizei und des Staatsduma in der vollständigen Säuberung der größten Städte in den restlichen Gebieten der Ostfront. Damit wurden allein in Rakow 15 000 und in Artjomowsk 1224 Juden erschossen, und deshalb gibt es dort jetzt keine Juden mehr. Auf der Krim wurden 1000 Juden und Roma hingerichtet.“

Das ist alles.

Amen: Angeklagter, haben Sie immer noch die Frechheit, dem Tribunal zu sagen, Sie hätten nichts von den Einsätzen dieser Einsatzgruppen gewusst, bevor Sie zum RSHA-Chef ernannt wurden?

Kaltenbrunner: Rechts oben im Dokument steht klar und deutlich geschrieben: „SS- und Polizeileiter…“

Vorsitzender: Beantworten Sie die Frage, und dann können Sie sich das Dokument ansehen. Sagen Sie immer noch, von diesen Einsatzgruppen nichts gewusst zu haben?

Kaltenbrunner: Ich habe keine Informationen über den Inhalt dieses Dokuments. Ich muss sagen, dass das Amt des Inspektors der Ordnungspolizei diesen Brief am 22. Oktober 1941 verschickt hat. Technische Berichte über die Kämpfe an der Ostfront und über Polizei- und SD-Einsätze, die damals vorbereitet wurden, stützten sich auf Himmlers oder Heydrichs Befehle – und nicht auf meine. Dieses Dokument zeugt keineswegs davon, wie ich mich zu der Frage im Allgemeinen verhielt. Dass auf der Empfängerliste alle höchsten SS- und Polizeivertreter sowie alle Behörden stehen, die diese technischen Berichte erhielten, halte ich nicht für einen Beweis dafür, dass alle diese Behörden, also alle Mitarbeiter dieser Behörden davon unbedingt wussten. Sie können nicht vermuten, dass sich diese Kenntnisse auf die Berichte zurückführen ließen, die die Gebiete betrafen, die die jeweiligen Beamten überhaupt keinen Einfluss hatten. Heutzutage gibt es keine Zweifel daran, dass diese Verbrechen im Osten begangen wurden. Aber man muss beweisen, dass ich darauf einen Einfluss hatte, ob einen intellektuellen, gesetzgebenden oder administrativen, dass ich sie stoppen konnte. Das verneine ich absolut.

Hat Kaltenbrunner versucht, zwischen November 1943 und Februar 1944 die Parlamentswahl im Iran zu schmieren?

(Sowjetischer Assistent des Anklägers, Oberst Lew) Smirnow: Wenn sich der Angeklagte nur mit Informationen beschäftigte (wie er gestern gesagt hat) und mit nichts mehr, dann hielt er etwa den Kauf der Wahlen im Iran, wofür er von Ribbentrop eine Million Toman erhalten hat, und die Entsendung von mit Subversionen beauftragten Sonderagenten zu reiner „Informationsarbeit“?

Kaltenbrunner: Ich hatte mit dem Stimmenkauf im Iran definitiv nichts zu tun, aber ich räume ein, dass Agenten meines Nachrichtendienstes im Iran tatsächlich aktiv waren.

Smirnow: Haben Sie bei Ribbentrop eine Million Tomane für den Stimmenkauf beantragt oder nicht?

Kaltenbrunner: Nein, ich hatte selbst beträchtliche Mittel, um die Agenten zu bezahlen.

Smirnow: Ein Brief des Angeklagten Kaltenbrunner wurde dem Gericht als Beweis unter der Nummer UdSSR-178 überlassen. Ribbentrop hatte zugegeben, eine Million Toman bereitgestellt zu haben. Dementiert der Angeklagte diese Aussage Ribbentrops?

Kaltenbrunner: Ich glaube, kein Geld bei Ribbentrop beantragt zu haben, denn ich hatte genug Geld. Zeigen Sie mir diesen Brief. So etwas könnte möglich sein. Ich hatte beträchtliche Mittel für den Nachrichtendienst zur Verfügung.

Smirnow: Das Original dieses Briefes wurde dem Gericht beim Verhör Ribbentrops überlassen. Wir haben nur eine Kopie, aber das Original kann aus dem Unterlagenzimmer hierher gebracht werden. Hier heißt es:

„Um die Wahlen entscheidend zu beeinflussen, ist ein Kauf nötig, für Teheran sind 400 000 Tomane nötig und für den restlichen Iran mindestens 600 000 Tomane.“

Der Brief endet mit dem folgenden Absatz:

„Ich bitte Sie, mir mitzuteilen, ob es möglich ist, eine Million Toman  vom Außenministerium zu erhalten.

Dieses Geld könnte mit den Personen überwiesen werden, die wir dorthin per Flugzeug entsenden werden.

Heil Hitler! Der Ihnen treue Kaltenbrunner, SS-Obergruppenführer.“

Der Brief hat einen ganz bestimmten Inhalt. Ribbentrop hat ihn anerkannt. Dementieren Sie die Aussagen Ribbentrops?

Kaltenbrunner: Keineswegs, aber ich will in Bezug auf dieses Dokument folgendes hinzufügen. Ich konnte mich daran nicht so einfach erinnern, weil er in der Verwaltung VI verfasst wurde. Ich kenne den Inhalt nicht – ich kannte ihn bisher nicht. Ich bin völlig sicher, es unterzeichnet zu haben, weil das ein Brief an den Reichsminister war, den ich aus taktischen Überlegungen natürlich persönlich unterschreiben musste. Was den Gegenstand selbst angeht, so bin ich dankbar, dass die letzte Frage im Rahmen dieses Kreuzverhörs eine Frage war, die meine unmittelbaren Aktivitäten betraf. Sie sind der erste Ankläger, dem ich dafür dankbar sein muss und der kein Hehl mehr aus der Tatsache macht, dass meine Agenten und meine Aktivitäten sich bis zum Iran hin verbreiteten.

Smirnow: Ist das Ihre Unterschrift?

Kaltenbrunner: Ja.

Smirnow: Ich habe keine weiteren Fragen an den Angeklagten.

 

Quelle:

Stenogramm des Nürnberger Prozesses, Band X / Aus dem Englischen übersetzt und zusammengesetzt von Sergej Miroschnitschenko, Nowotscherkassk/2021. – (Erstveröffentlichung)

Wir bedanken uns bei dem Völkerrechtsexperten und Jurist Sergej Miroschnitschenko für die Hilfe bei der Vorbereitung dieses Beitrags