Die Vernehmung des Leiters des Reichssicherheitshauptamtes, Ernst Kaltenbrunner, ist vielleicht das markanteste Beispiel dafür, wie die Angeklagten in Nürnberg herumlavierten und sich aus der Verantwortung stehlen wollten. Kaltenbrunner behauptete steif und fest, dass er von den Untaten seiner Untergeordneten entweder nicht wusste, oder sie nicht beeinflussen konnte. Die zahlreichen Angaben von Augenzeugen bezeichnete er als Lüge und die eigenen Unterschriften in den verbrecherischen Befehlen als Fälschung. Er gab sich als Demokrat und Kämpfer für die Menschenrechte, der keine Angst davor hatte, selbst die Befehle des Führers anzuzweifeln.

Bis vor kurzem waren viele Auszüge aus dem Verhör für das russische Publikum  noch unbekannt, es wurden nur einzelne Abschnitte übersetzt. Im Rahmen des Projekts „Nuremberg. Casus pacis“ werden zum ersten Mal die prägendsten Dialoge Kaltenbrunners mit den Staatsanwälten und dem Anwalt veröffentlicht.

Jurist, Völkerrechtsexperte, Übersetzer der Stenogramme der Nürnberger Prozesse, Sergej Miroschnitschenko:

Kaltenbrunner, der zum Leiter des Reichssicherheitshauptamtes im Januar 1943 -  also bereits während des Zusammenbruchs der deutschen Kriegsmaschinerie, ernannt wurde, gab sich bei dem Prozess als aktiver Kämpfer gegen Hitler und dessen Nazi-Vernichtungsmaschine und behauptete, dass er von den Verbrechen der Nazis bis zu einem bestimmten Zeitpunkt  nichts wusste.

Im Unterschied zu den anderen Angeklagten prangerte er das Nazi-Regime offen an, bestätigte die Angaben über das Programm zur Vernichtung der Juden und erzählte von seinen Verhandlungen mit Amerikanern am Ende des Krieges. Seine Ernennung zur zweitwichtigsten Figur in den deutschen Sicherheitsdiensten wurden von ihm als Notwendigkeit, den demokratischen Geist Österreichs in das Sicherheitssystem des Reichs zu bringen, erklärt. In der Tat wurde Kaltenbrunner wohl eher ernannt, weil er als eine neue Figur ein Verbindungsglied zwischen der Nazi-Führung und den westlichen Ländern fungieren könnte.

Als Kaltenbrunner vom neuen Strafgesetz, das er fehlerhaft nennt, spricht, geht es um Änderungen im deutschen Strafgesetzbuch 1872. Sie wurden 1933 angenommen und sahen eine neue Strafe vor: Schutzhaft, also die Entsendung von „verdächtigen Personen“ in KZ-Lager ohne Gerichtsurteil bzw. Anklage. Auf den Nürnberger Prozessen wurde die Entsendung der Menschen in KZ-Lager auf Schutzhaft-Befehle den Angeklagten als Teil einer Verschwörung mit dem Ziel der Kriegsvorbereitung zur Last gelegt.

Kaltenbrunner behauptete auch, dass er keine verbrecherische Befehle unterzeichnete und dies für ihn angeblich seine Untergeordneten nach früherer Praxis machten (die Annahme, dass der frühere Leiters des Reichssicherheitshauptamtes Reinhard Heydrich, der als ein extrem grausam bekannt war, die Unterschriftsvollmacht an andere Personen delegierte, ist absolut absurd). Zugleich sagte der Auschwitz-Kommandant Rudolf Höß vor Gericht in Nürnberg, dass er einige Befehle über Hinrichtungen von Häftlingen mit der Unterschrift Kaltenbrunners gesehen hatte.

 

Hatte Kaltenbrunner reale Macht?

 

„Ich möchte aber gleich zu Anfang erklären, dass ich die Verantwortung für alles, was seit meiner Ernennung zum Chef des Reichssicherheitshauptamtes im Rahmen dieses Amtes an Unrecht begangen wurde, und soweit es unter meiner tatsächlichen Leitung geschah, ich also von den Vorgängen wusste oder wissen musste, die Verantwortung übernehme“, sagte Kaltenbrunner bei der Vernehmung.

 

Schon damals (im Dezember 1942 – Anm.d.Red.) habe ich Himmler erklärt, in welchen wesentlichen Punkten ich mich im Unterschied zum Nationalsozialismus, zur Innenpolitik des Reiches, zur Außenpolitik, zur Ideologie und zu den Rechtsbrüchen im Staate selbst stelle. Ich habe ihm ausdrücklich erklärt, dass die Verwaltung im Reich zu zentralistisch sei. (…) Ich habe ihm vorgehalten, dass die Schaffung eines neuen deutschen Strafrechts in der beschrittenen Form falsch sei. (…) Ich erklärte ihm, dass in Österreich der Begriff einer Schutzhaft, der Begriff eines KZ-Lagers nicht gutgeheißen werde, sondern, dass in Österreich jeder Mensch unbedingt sein Recht vom Gericht gesprochen haben will. Ich erklärte ihm, dass sich der Antisemitismus in Österreich in einer grundsätzlich anderen Form sowohl entwickelt habe als auch gehandhabt werden wolle.  (… ) In Österreich hat auch kaum ein Verständnis dafür geherrscht, dass durch die Nürnberger Gesetzgebung über diesen Rahmen des Parteiprogramms in dieser Frage hinausgegangen werde. In Österreich hatte bereits seit 1934 eine vollkommen friedliche und sachliche Abwanderungstendenz der Juden Platz gegriffen. Es war jede persönliche und physische Verfolgung von Juden vollkommen überflüssig (…).

 

Ich habe damals Himmler erklärt, dass ich, wie er selbst bestens wisse, eine Vorbildung auf polizeilichem Gebiet nicht nur nicht besitze, sondern meine ganze bisherige Tätigkeit eine politisch-nachrichtendienstliche gewesen sei, und ich daher in der Übernahme des Reichssicherheitshauptamtes mit Exekutivämtern, wie es die Geheime Staatspolizei und Kriminalpolizei seien, nicht nur nichts zu tun haben wolle, sondern meine Aufgabe, zu der er mich berufe, nämlich Aufbau und Ausbau eines Nachrichtendienstes, behindert werde.

 

Ich bin nach der Besprechung mit Himmler im Dezember 1942 von ihm verabschiedet worden, weil ich es auch nicht übernehmen wollte, das Reichssicherheitshauptamt unter den Bedingungen zu nehmen, die er mir angeboten hatte: nämlich Führung der Exekutivämter wie bisher durch ihn selbst. Er war auf mich so sehr böse, dass er mir nicht die Hand gegeben hat und mich seinen Unwillen durch andere Dinge noch in den nächsten Wochen fühlen ließ. (…) Ich habe angenommen, dass so, wie ich ihn darum gebeten habe, nun mir eine Frontverwendung gegeben werde. (…) Es war nicht so, sondern er erklärte mir: „Ich habe mit dem Führer gesprochen, er hält die Zentralisierung und Neuschaffung eines Nachrichtenwesens für richtig. Er wird auch die diesbezüglichen Verhandlungen mit der Wehrmacht einleiten, und Sie werden diesen Meldedienst zu organisieren und auszubauen haben. Es bleibt dabei, dass ich mit Müller und Nebe die Exekutivämter unmittelbar selbst führe. (…)

 

Wieso wusste Kaltenbrunner nicht über die Befehle, in denen seine Unterschrift steht?

 

Ich erkläre hier ausdrücklich, dass mir die Sonderaufgaben, die Heydrich zum Beispiel hatte, wie der Auftrag hinsichtlich der Judenendlösung, im damaligen Zeitpunkt nicht nur nicht bekannt gewesen sind, sondern von mir auch nicht übernommen wurden…

 

Ich muss hier erklären, dass ich in meinem ganzen Leben nicht einen einzigen Schutzhaftbefehl persönlich gesehen oder unterzeichnet habe. (…) Ich habe erklärt, dass diese Unterschrift »Kaltenbrunner« unter Schutzhaftbefehle nur in der Form zustande gekommen sein kann, dass der Amtschef Müller, so wie er es zur Zeit Heydrichs getan hatte und damals auch tun durfte (…) Er hat dies offensichtlich auch zu meiner Zeit getan; denn sonst wären mir diese Befehle jetzt nicht vorgehalten worden. Er hat mich aber hiervon niemals verständigt, und er hat hierzu niemals von mir eine Vollmacht erteilt bekommen.  (…) Himmler hatte sich ihn sich ja unmittelbar unterstellt, und er hatte von Himmler die Vollmacht. Er hätte also genau so gut schreiben können »Himmler« oder »I.A. Himmler«. Ich gebe zu, dass dies eine Tatsache bleibt, die das Gericht mir nicht glauben wird, es war aber nicht anders.

 

Beteiligte sich Kaltenbrunner an der Errichtung der KZ-Lager?

 

Ich habe in Österreich, bis 1943 wirkend, kein Konzentrationslager gegründet. Ich habe ab 1943 im Reich kein Konzentrationslager gegründet. Es ist jedes Konzentrationslager des Reiches, wie ich heute ganz genau weiß, und wie hier auch ganz bestimmt und fest erwiesen ist, von Himmler durch Befehlsgebung an Pohl gegründet worden. Dies trifft ebenfalls, und das muss ich hier besonders betonen, auf das Lager Mauthausen zu. Von der Gründung des Lagers Mauthausen ist jede österreichische Dienststelle nicht nur ausgeschaltet, sondern auf das unliebsamste überrascht gewesen, weil weder der Begriff des Konzentrationslagers in Österreich in diesem Sinne bekannt gewesen ist, noch die Notwendigkeit hierzu bestanden hat, irgendwo in Österreich ein Lager einzurichten…

Darauf habe ich geantwortet. Ich habe niemals eine Gaskammer, auch nicht in Funktion, gesehen. Ich wusste von dem Bestehen einer solchen in Mauthausen niemals etwas. Eine diesbezügliche Bekundung ist restlos falsch. Ich habe das Haftlager in Mauthausen, also das eigentliche Konzentrationslager, überhaupt niemals betreten.

Ich bin in Mauthausen gewesen, aber nicht in diesem Haftlager, sondern im Arbeitslager.

Beteiligte sich Kaltenbrunner am Holocaust?

Ich habe sofort nach Erlangen dieser Kenntnis, ebenso wie ich es auch früher getan habe, nicht nur gegen die Endlösung, sondern auch gegen diese Art der Behandlung des Judenproblems angekämpft, und aus diesem Grunde wollte ich erklären, wie ich zur gesamten Judenfrage hingeführt wurde aus meinen nachrichtendienstlichen Erkenntnissen, und was ich dagegen getan habe (…)

Ich habe sowohl bei Hitler erstmals, als auch an einem anderen Tage nach Hitler bei Himmler Vorstellungen erhoben. Ich habe aber nicht nur auf meine persönliche Einstellung und auf meine total andere Auffassung, die ich aus Österreich mitgenommen hatte, hingewiesen, auf meine Bedenken humanitärer Art, nicht allein auf die, sondern ich habe sofort am ersten Tage, in fast jedem meiner Augenblickslageberichte in der nächsten Zeit bis zum Schluss gesagt, dass es keine Feindmacht geben könne, die mit diesem Reiche, das sich mit dieser Schuld beladen hat, in irgendein Gespräch einlasse. Das Verlangen Himmlers, Hitlers und verschiedener anderer Dienststellen an mich ist es ja gewesen, gerade durch den Nachrichtensektor, dass irgendwo eine Gesprächsatmosphäre aufzubauen sei zur Herbeiführung eines Gesprächs mit den Feindmächten (…).

Ich bin felsenfest überzeugt davon, dass ich hieran den Hauptanteil trage, obgleich verschiedene andere Persönlichkeiten in gleicher Richtung operiert haben. Aber ich glaube nicht, dass jemand irgendwie bei jeder Begegnung Himmler diesbezüglich in den Ohren gelegen ist, und ich glaube auch nicht, dass jemand anderes mit solcher Offenheit und solcher Selbstverleugnung mit Hitler gesprochen hat (…).

Dr. Kaufmann (Kaltenbrunners Anwalt): Wollen Sie in diesem Punkt eine Verantwortung übernehmen, oder wollen Sie die Verantwortung in diesem Punkt ablehnen?

Kaltenbrunner: Ich muss das vehement und vollständig verneinen. (…)

                                                                                                         

Hätte Kaltenbrunner den Posten des RSHA-Chefs verlassen können?

 

Kaufmann: Ich gehe jetzt zur letzten Frage über und frage Sie, ob Sie die Möglichkeit hatten, Veränderungen voranzutreiben, weil Sie die Bedingungen bei der Gestapo und in Konzentrationslagern usw. allmählich kennenlernten. Wenn eine solche Möglichkeit bestand, dann können Sie behaupten, dass Sie in Ihrem Amt Verbesserungen der Bedingungen in diesem Bereich erreichen konnten?

 

Kaltenbrunner: Ich bat immer wieder, mich an die Front zu schicken, aber die brennendste Frage, die meine Anwesenheit verlangte, war diese: werden sich die Bedingungen dadurch verändern? Werden sie besser? Ändert sich irgendwas? Oder ist es meine persönlich Pflicht in diesem Amt, alles zu tun, damit sich diese heftig kritisierten Bedingungen verbessern?

 

Da meine Bitten, mich an die Front zu schicken, abgelehnt wurden, hatte ich keine Alternativen außer das System, dessen ideologische und rechtliche Grundlagen ich nicht verändern konnte, zu beeinflussen. Und davon zeugen die Befehle, die vor mir abgegeben worden waren und hier als Beweise präsentiert wurden. Alles, was ich tun konnte war, zu versuchen, diese Methoden zu verbessern und gleichzeitig vollständig abzuschaffen.

 

Kaufmann: Also erlaubte Ihr Gewissen es Ihnen, trotz alledem im Amt zu bleiben?

 

Kaltenbrunner: Wenn ich es für möglich hielt, immer und immer wieder zu versuchen, Hitler, Himmler und die anderen zu beeinflussen, ließ mich mein Gewissen meinen Posten nicht verlassen. Ich hielt es für meine persönliche Pflicht, gegen das Falsche aufzutreten.

 

Hat Kaltenbrunner das KZ Mauthausen besucht?

 

(US-Ankläger, Oberst John) Amen: Ich bitte Sie, dem Angeklagten das Dokument PS-3843 zu zeigen, das Exemplar USA-794. Ich muss dem Tribunal sagen, dass dieses Dokument eine ziemlich emotionale Rede enthält, aber angesichts der Vorwürfe gegen den Angeklagten halte ich es für meine Pflicht, es vorzulesen. (…)

 

„Ich habe Kaltenbrunner im KZ Mauthausen gesehen, als ich schwer krank war und neben Hunderten anderen schwer kranken Menschen auf faulem Stroh lag, von denen viele gestorben sind. Die Häftlinge litten unter Hungerödem und sehr schlimmen Darmkrankheiten, indem sie mitten im Winter in ungeheizten Baracken lagen. Es fehlten dort selbst primitivste sanitäre Bedingungen. Die Toiletten und Duschen wurden monatelang nicht genutzt. Schwer kranke Menschen mussten sich in leere Marmeladengläser entleeren. Das schmutzige Stroh wurde wochenlang nicht gewechselt, und so war dort überall dreckiger Matsch, in dem es von Würmern und Maden wimmelte. Wir bekamen keine medizinische Hilfe und hatten keine Arzneien. Die Bedingungen waren so, dass jede Nacht zehn bis 20 Menschen starben. Kaltenbrunner ging durch die Baracken, begleitet von hochrangigen SS-Leuten, und hat alles gesehen – er muss alles gesehen haben. Wir hatten die Illusion, dass sich diese unmenschlichen Bedingungen jetzt ändern würden, aber Kaltenbrunner hat sie wahrscheinlich begrüßt, und es hat sich daraufhin nichts verändert.“

 

Angeklagter, ist das wahr oder unwahr? (…)

 

Kaltenbrunner: Das ist unwahr, und ich kann jede Einzelheit widerlegen. (…)

 

Amen: Ich bitte Sie, dem Angeklagten das Dokument PS-3845 zu zeigen, das Exemplar USA-795. (…) Kennen Sie Tiefenbacher, Albert Tiefenbacher?

 

Kaltenbrunner: Nein.

 

Amen: Wenn Sie das Dokument haben, dann können Sie sehen, dass er sich im KZ Mauthausen von 1938 bis zum 1. Mai 1945 befand und drei Jahre lang Leichenträger im Krematorium von Mauthausen war. (…) Wenn Sie eine halbe Seite tiefer schauen, sehen Sie die Frage:

 

„Erinnern Sie sich an Eigruber?

 

Antwort: Eigruber und Kaltenbrunner kamen aus Linz.

 

Frage: Haben Sie sie irgendwann in Mauthausen gesehen?

 

Antwort: Kaltenbrunner habe ich sehr oft gesehen.

 

Frage: Wie viel Mal?

 

Antwort: Er kam manchmal dorthin und ging durch das Krematorium?

 

Frage: Wie viele Mal?

 

Antwort: Drei oder vier Mal.

 

Frage: Aus welchem Grund? Und wenn er da war, haben Sie gehört, dass er jemandem etwas gesagt hätte?

 

Antwort: Wenn Kaltenbrunner da war, mussten die meisten Häftlinge verschwinden. Ihm wurden nur bestimmte Menschen vorgestellt.“

 

Ist das wahr oder nicht?

 

Kaltenbrunner: Das ist völlig falsch.

 

Amen: Also zeige ich Ihnen ein drittes Dokument, und dann können Sie es kurz erläutern. Ich bitte, dem Angeklagten das Dokument PS-3846 zu zeigen, das Exemplar USA-796. (…) Kennen Sie Johann Kandut, der diese schriftlichen Aussagen gemacht hat?

 

Kaltenbrunner: Nein.

 

Amen: Sie können sehen, dass er in Linz lebte, dass er vom 21. März 1939 bis 5. Mai 1945  Häftling des KZ Mauthausen war, dass er nicht nur in der Küche, sondern vom 9. Mai auch im Krematorium arbeitete und den Krematoriumsofen mit Leichen versorgte. Und wenn Sie die Seite umblättern, dann sehen Sie oben:

 

„Frage: Haben Sie jemals gesehen, dass Kaltenbrunner Mauthausen besuchte?

 

Antwort: Ja.

 

Frage: Wissen Sie, wann das war?

 

Antwort: 1942 und 1943.

 

Frage: Können Sie genauer sagen, vielleicht in welchem Monat?

 

Antwort: Das Datum kenne ich nicht.

 

Frage: Erinnern Sie sich nur an einen Besuch 1942 oder 1943?

 

Antwort: Ich weiß noch, dass Kaltenbrunner hier drei Mal war.

 

Frage: In welchem Jahr?

 

Antwort: zwischen 1942 und 1943.

 

Frage: Erzählen Sie uns kurz, was Sie über Kaltenbrunners Besuche denken, die Sie beschrieben haben. Was haben Sie gesehen, was haben Sie getan? Haben Sie gesehen und getan? War er bei Hinrichtungen dabei oder nicht?

 

Antwort: Kaltenbrunner wurde von Eigruber, Schulz, Ziereis, Bachmayer, Streitwieser und mehreren anderen Leuten begleitet.  Kaltenbrunner betrat lachend die Gaskammer. Dann wurden aus dem Bunker Menschen hineingeführt, die hingerichtet werden sollten, und dann wurden ihm alle drei Hinrichtungsmethoden gezeigt: Erhängen, Schuss in den Nacken und Gasvergiftung. Als der Staub sich wieder setzte, mussten wir die Leichen hinaustragen. (…)“

 

Kaltenbrunner: Darf ich antworten?

 

Amen: Angeklagter, ist das die Wahrheit oder eine Lüge?

 

Kaltenbrunner: Ich will eidesstattlich erklären, dass kein einziges Wort in diesen Erklärungen wahr ist. (…)

 

Was heißt „Sonderbehandlung“?

 

Amen: Angeklagter, Sie haben im Laufe dieses Prozesses die Aussagen über die Bedeutung des Wortes „Sonderbehandlung“ gehört, nicht wahr? Haben Sie davon im Gerichtssaal gehört?

 

Kaltenbrunner: Das Wort „Sonderbehandlung“ wurde von meinen Untersuchungsrichtern mehrmals am Tag verwendet, ja.

 

Amen: Wissen Sie, was es bedeutet?

 

Kaltenbrunner: Ich kann nur vermuten, obwohl ich nicht genau erläutern kann, dass es ein Todesurteil war, der nicht von einem öffentlichen Gericht, sondern auf Himmlers Befehl gefällt wurde. (…)

 

Amen: Haben Sie mit dem Gruppenführer Müller aus der IV. Verwaltung die Anwendung der „Sonderbehandlung“ gegenüber gewissen Personen besprochen? Ja oder nein?

 

Kaltenbrunner: Nein, ich weiß, dass der Zeuge Schellenberg gesagt hat…

 

Amen: Ich bitte Sie, dem Angeklagten das Dokument PS-3839 zu zeigen, das Exemplar USA-799. (…) Also lassen Sie mich in der Mitte lesen, ab:

 

„Hinsichtlich der „Sonderbehandlung“ habe ich folgende Informationen:

 

Zu den Treffen der Verwaltungsleiter. Gruppenführer Müller beriet sich oft mit Kaltenbrunner, ob in diesen oder jenen Fällen eine „Sonderbehandlung“ nötig war oder nicht. Hier ist ein Beispiel dafür, wie ein Gespräch verlief:

 

Müller: Herr Obergruppenführer, was ist mit B.: „Sonderbehandlung“ oder nicht?

 

Kaltenbrunner: Ja, oder stellen Sie das dem SS-Reichsführer zwecks Entscheidung vor.

 

Oder:

 

Müller: Herr Obergruppenführer, ich habe vom SS-Reichsführer keine Antwort hinsichtlich der „Sonderbehandlung“ im Fall A. erhalten.

 

Kaltenbrunner: Fragen Sie nochmal nach.

 

Oder:

 

Müller hat Kaltenbrunner ein Papier überreicht und nach Hinweisen gefragt, die oben geschildert worden sind.

 

Wenn Müller solche Gespräche mit Kaltenbrunner führte, nannte er nur die Initialen, also wussten die am Tisch sitzenden Personen nie, um wen es sich dabei handelte.“

 

Und dann die letzten zwei Absätze:

 

„Sowohl Müller als auch Kaltenbrunner schlugen in meiner Anwesenheit „Sonderbehandlung“ vor, oder man sollte sich an den SS-Reichsführer wenden, der in einzelnen Fällen, deren Details ich nicht anführen kann, der „Sonderbehandlung“ zustimmen sollte. Nach meiner Einschätzung wurde die „Sonderbehandlung“ in der Hälfte der Fälle befürwortet.“

 

Angeklagter, ist der Inhalt dieser schriftlichen Aussagen wahr oder nicht?

 

Kaltenbrunner: Der Inhalt ist falsch, wenn Sie das Dokument so interpretieren. Sie verstehen sofort, dass der tragische Ausdruck „Sonderbehandlung“ hier humorvoll verwendet wurde. Wissen Sie, was „Winzerstube“ in Godesberg und „Walsertraum“ in Walsertal sind, was sie mit dem Begriff „Sonderbehandlung“ zu tun haben. „Walsertraum“ ist ein schickes, ja wohl das modischste Alpen-Hotel im ganzen Deutschen Reich, und „Winzerstube“ ist ein bekanntes Hotel in Godesberg, in dem viele internationale Treffen ausgetragen wurden. Dort versammelten sich besonders wichtige Personen: ich würde einmal Herrn Ponse und Herrn Errio, wie auch viele andere, nennen. Sie bekamen eine dreifache Diplomaten-Ration, die neunmal größer wie die übliche Ration während des Kriegs war. Sie bekamen jeden Tag eine Champagnerflasche. Sie durften den Briefwechsel mit ihren Familien in Frankreich frei führen und Postpakete empfangen. Diesen Internierten wurde es erlaubt, aus einigen Anlässen Besucher zu empfangen – alle ihre Wünsche wurden erfüllt. Das hieß in diesem Fall „Sonderbehandlung“.“

 

Quelle:

 

Stenogramm des Nürnberger Prozesses, Band X / Aus dem Englischen übersetzt und zusammengesetzt von Sergej Miroschnitschenko, Nowotscherkassk/2021. – (Erstveröffentlichung)

 

Wir bedanken uns bei dem Völkerrechtsexperten und Jurist Sergej Miroschnitschenko für die Hilfe bei der Vorbereitung dieses Beitrags

 

Daniil Sidorow