Europas größter Sklavenhändler Fritz Sauckel verstand nicht, warum er vor Gericht gestellt wurde
Das einzige Kind eines Postboten und einer Näherin, Ernst Friedrich Christoph „Fritz“ Sauckel, hatte wohl nie davon geträumt, Sklavenhändler zu werden. Auch später, als Matrose auf schwedischen, norwegischen und deutschen Schiffen, dachte er wohl nicht daran. Er war ein typischer Seemann. Zum Sklavenhändler und Verbrecher machte ihn der Nazismus.
Nazi-Veteran
Im Unterschied zu vielen ersten Personen des Dritten Reiches war Fritz Sauckel nie im Krieg. Als der Erste Weltkrieg begann, war er als Seemann eines deutschen Schiffes auf dem Weg nach Australien. Sein Schiff wurde in einem französischen Hafen festgehalten und Fritz selbst wurde interniert. Nach der Rückkehr nach Deutschland, das den Krieg verloren hatte und von massenhafter Arbeitslosigkeit geplagt wurde, probierte er etliche Berufe aus: Arbeiter in einem Hüttenbetrieb, Fischer, lernte Sprachen, Mathematik und Wirtschaftslehre. Einige Zeit studierte er Ingenieurswesen.
Allerdings gab er sich dabei nicht besonders viel Mühe, denn viel zu viel Kraft verlangte seine Arbeit in der NSDAP. Sauckel wurde ein großer Anhänger der Nazi-Ideologie. 1922 hatte man als NSDAP-Mitglied noch keine Privilegien. Zudem wurde Sauckel ein „Braunhemd“ und beteiligte sich an vielen Schlägereien mit Kommunisten. Im selben Jahr wurde er lokaler Parteichef in Thüringen.
Fritz Sauckel gehörte zur „Generation“ der Nazis der ersten Stunde und war NSDAP-Mitglied Nr. 1395.
Auf diese Vergangenheit war er sehr stolz und hatte seine wichtigsten Auszeichnungen immer bei sich: das Ehrenzeichen der alten Kämpfer, mit dem die ältesten SS-Mitglieder ausgezeichnet wurden, und das Coburger Ehrenzeichen, das er von Adolf Hitler höchstpersönlich erhalten hatte.
Das Ehrenzeichen der alten Kampfgruppen durften nur SS-Mitglieder tragen, die sich der NSDAP noch in den „Kampfjahren“ angeschlossen hatten, also noch bevor Reichspräsident Paul von Hindenburg Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt hatte. Und das Coburger Zeichen erinnerte an den 14. Oktober 1922, als Hitler gemeinsam mit 650 Kämpfern in einem Sonderzug zum „Deutschen Tag“ nach Coburg gekommen war. Dort mussten sie sich mit den Linken auseinandersetzen. In seinem Buch „Mein Kampf“ bezeichnete Hitler diese Ereignisse als Wendepunkt seiner politischen Karriere.
Zuständig für Arbeit
Als die Nazis 1933 an die Macht kamen, wurde Fritz Sauckel zum SA- und SS-Obergruppenführer ernannt, in den Reichstag als Vertreter Thüringens gewählt. Zudem wurde er Reichsstatthalter in diesem Land.
Seine Karriere entwickelte sich auch weiter durchaus erfolgreich: 1934 war er schon SS-Gruppenführer. Sauckels größter Karrieresprung erfolgte am 27. Februar 1942, als er den Posten des Kommissars für Arbeitskräfte übernahm. Und knapp einen Monat später, am 21. März, wurde er zum Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz ernannt. Dadurch eröffneten sich für Sauckel große Perspektiven: Für ihn wurden auf einmal die ersten Personen des Dritten Reiches zugänglich. Zudem konnte er ab sofort die Wehrmacht beeinflussen. Der Blitzkrieg im Osten scheiterte, und es begann ein langwieriger und Kräfte zehrender Krieg, in dem die Arbeitsressourcen eine genauso große Rolle wie die Wehrmacht spielten. Angesichts dessen wurde Sauckel von Hitler bevollmächtigt, auch militärischen Strukturen Befehle zu erteilen.
Es herrscht die Meinung vor, dass Sauckel in erster Linie von Albert Speer nach ganz oben getrieben wurde, der ein Technokrat und Reformator der Kriegswirtschaft war. Es gibt aber auch eine andere Meinung, die möglicherweise der Wahrheit noch näher ist: Martin Bormann schätzte Sauckels Fähigkeiten hoch ein und wusste zudem genau, was dieser für die NSDAP alles geleistet hatte. Aber auch Speer war mit Sauckel durchaus zufrieden. Schon später, in seinen Erinnerungen, die er im Spandauer Gefängnis schrieb, gab er zu, seine Mitverantwortung für Sauckels unselige Arbeitspolitik zu spüren.
Ostarbeiter – die Sklaven des Dritten Reiches
Dass in den Kriegsjahren fast ganz Europa für Deutschland arbeitete, ist allgemein bekannt. Kennzeichnend war in diesem Sinne die Tschechoslowakei, deren größten Betriebe wie Škoda, ČKD, Poldi, Zbrojovka nach der Besatzung des Landes voll und ganz den Nazis zur Verfügung standen und das Dritte Reich mit Schusswaffen, Panzertechnik, Flug- und Fahrzeugen, Munition und Zulieferteilen für V2-Raketen versorgten.
Auch die deutsche Wirtschaft war natürlich voll und ganz den Kriegszwecken untergeordnet. Am Anfang des Zweiten Weltkriegs waren die Deutschen überzeugt, ihn auch aus eigener Kraft gewinnen zu können. Aber je länger der Krieg an der Ostfront dauerte, desto offensichtlicher wurde der Mangel an Arbeitskräften.
Laut Archivdokumenten begann die massenhafte Verschleppung der Zwangsarbeiter nach Deutschland im Frühjahr 1942. Hitler stellte die Aufgabe, das Dritte Reich mit Arbeitskräften zu versorgen, und Fritz Sauckel präsentierte ihm sofort ein entsprechendes Programm. Allein aus dem Osten sollte das Reich binnen eines Jahres 1,6 Millionen Zwangsarbeiter bekommen. Hitler stimmte dem Programm zu, und Sauckel hat den bewilligten Plan sogar übertroffen: Aus der Sowjetunion wurden nach Deutschland mehr als 1,8 Zwangsarbeiter verschleppt.
Ursprünglich ging es laut dem Programm um Männer und Frauen im Alter von 17 bis 35 Jahren. Später stellte sich jedoch heraus, dass sogar kleine Kinder nach Deutschland verschleppt worden waren. „Alle diese Menschen müssen so ernährt, untergebracht und behandelt werden, dass sie bei denkbar sparsamstem Einsatz die größtmögliche Leistung erbringen“, betonte Sauckel im Mai 1942, drei Monate nach seiner Ernennung zum Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz.
Mit der Zeit wurden die Bedürfnisse immer größer, und Sauckels Mitarbeiter bekamen immer neue Zahlen, und dabei ging es um Millionen Ostarbeiter. So verlangte er am 17. März 1943 um eine Million Arbeiter, egal ob Männer oder Frauen, und zwar binnen von vier Monaten. Ab dem 15. März sollten nach seinen Worten 5000 Männer und Frauen nach Deutschland verschleppt werden. Ab April sollte diese Zahl 10 000 erreichen, denn andernfalls würden das Programm zu agrarischen Arbeiten und damit auch das Programm zur Lebensmittelversorgung der Wehrmacht in Gefahr geraten.
„Sie jagen Menschen, als wären sie Hunde“
Von fünf Millionen Menschen, die während des Zweiten Weltkriegs nach Deutschland gebracht wurden, waren laut Sauckels eigener Aussage lediglich 200 000 Freiwillige – alle anderen wurden zwangsweise ins Dritte Reich verschleppt. In den okkupierten Gebieten gab es kaum Freiwillige, und nach der Schlacht bei Stalingrad gab es überhaupt keine mehr. Deshalb wurden Menschen auf Sauckels Befehl einfach auf den Straßen gefasst und nach Deutschland verfrachtet.
Die Versklavung sowjetischer Menschen erreichte unglaubliche Ausmaße, unterstrich der US-amerikanische Ankläger Thomas Dodd im Laufe der Nürnberger Prozesse: „Am 5. Oktober 1942 hat der Angeklagte Sauckel dem Angeklagten Rosenberg einen Brief geschrieben und zwei weitere Millionen ausländische Arbeiter verlangt. Die meisten von ihnen sollten aus den vor kurzem besetzten östlichen Gebieten, vor allem aus der Ukraine, gebracht werden.“
In die eroberten Städte und Dörfer wurden vom Amt Sauckels Anweisungen mit den Quoten für den Abtransport von Menschen ins Dritte Reich verschickt. Lokale Kollaborateure erstellten die entsprechenden Listen. Danach kam es zu unzähligen Razzien. Manchmal wurden ganze Familien gejagt, wobei Familienangehörige getrennt und in verschiedene Regionen Deutschlands verschickt wurden. Sie wurden in Güterwaggons wie Vieh verladen – ungeachtet der Wetterverhältnisse – und ins Dritte Reich gebracht.
In einem Schreiben an Sauckel vom 21. Dezember 1942 zitierte der Reichsminister für die besetzten Ostgebiete, Rosenberg, Briefe von Vertriebenen an ihre Angehörigen. Am 5. September mussten einige Menschen aus dem Gebiet Kowkutski nach Deutschland fahren, doch sie weigerten sich, anschließend brannten viele Häuser. Es wurde damit gedroht, dasselbe in Borowitschi zu tun, weil viele es ablehnten, nach Deutschland zu fahren. In Wrasnitschi wurden zwölf Häuser in Brand gesetzt, in Borowitschi vier Häuser … Man kann sich eine solche Grausamkeit nicht vorstellen. Es wurde angeordnet, 25 Arbeiter zu entsenden, doch niemand kam, alle flohen. Danach kam die deutsche Polizei und begann, die Häuser jener in Brand zu setzen, die geflohen waren. Menschen, die gekommen waren, um das Feuer zu löschen, wurden vertrieben, geschlagen und festgenommen. Sieben Häuser wurden vollständig niedergebrannt. Polizisten machten mit den Brandstiftungen weiter. Jene, die nicht pünktlich waren, wurden erschossen. Alle Schulen wurden geschlossen, alle verheirateten jungen Menschen wurden vor Ort zur Arbeit geschickt, alle ledigen nach Deutschland.
Sie jagten die Menschen wie Hunde. Bereits seit einer Woche, aber das reiche den Deutschen nicht aus, hieß es weiter im Schreiben. Gefangene Arbeiter werden in einem Schulgebäude eingesperrt, sie können nicht eigenständig auf die Toilette gehen und müssen das im selben Zimmer wie Schweine machen.
Aus vielen Dörfern begaben sich Menschen ins Kloster Potschajew, doch sie alle wurden festgenommen und zur Arbeit geschickt. Unter ihnen gab es Behinderte, Blinde und Greise, hieß es.
Doch selbst diese Methoden waren nicht ausreichend. Sauckel erfand neue Methoden, die er später selbst grotesk und schrecklich nannte. Er habe viele Franzosen angeheuert – Männer und Frauen, die zu einem guten Preis Menschen jagten, sie mit Alkohol abfüllten und zum Abwandern nach Deutschland überredeten, sagte Sauckel am 1. Mai 1944 in einer Sitzung des Zentralen Planungskomitees.
Arbeitsvieh der deutschen Wirtschaft
Nachdem die Menschen aus den Waggons geladen wurden, wurden sie an die Arbeitsbörse geschickt – wie auf einem Sklavenmarkt.
Manchmal wurde pauschal gekauft – alles hing davon ab, wie reich der künftige Besitzer war. Wie es in den Erinnerungen an diese Zeit hieß, kamen respektvolle Herren, wählten die stärksten von ihnen aus, musterten ihre Muskeln, schauten in den Mund, diskutierten etwas untereinander, ohne auf die Gefühle der deportierten Menschen Rücksicht zu nehmen.
„Ich war klein, kränklich und blieb unter Dutzend ähnlicher nicht verkaufter Kümmerlinge. Doch ein großer Käufer in einer abgewetzten Jacke beschaute uns verächtlich, nuschelte etwas und ging ins Büro Geld zahlen. Alle pauschal“, hieß es in Erinnerungen.
Das Schicksal der Sklaven war unterschiedlich. Ein fleißiger Besitzer achtete auf die Ernährung der Ostarbeiter, damit das „Arbeitsvieh“ nicht frühzeitig stirbt. Doch es gab auch jene, die sich nicht von den Aufsehern in den KZ-Lagern unterschieden – Prügel, Essensversorgung mit Abfällen und andere Verhöhnungen waren eine gewöhnliche Sache. Ostarbeiter konnten auch in ein großes Arbeitslager gelangen, das für ein deutsches Werk bzw. eine Fabrik arbeitete. Junge Leute wurden oft in großen deutschen Unternehmen untergebracht – Siemens, Opel u.a. Das bedeutete Bedingungen wie in einem Lager, Baracken, Isolierzelle bei Verstößen, erschöpfende harte Arbeit.
Ausländische Arbeiter waren gezwungen, die Feinde ihres Landes zu bewaffnen und sogar an Kampfhandlungen teilzunehmen. „Wir haben um eine Anweisung ersucht, wonach ein bestimmter Prozentsatz der Russen die Flak-Geschütze bedienen soll. 50.000 werden es insgesamt sein. 30.000 werden bereits als Kanoniere eingesetzt. Es ist amüsant, dass Russen die Geschütze bedienen sollen“, sagte der Generalfeldmarschall der deutschen Luftwaffe Erhard Milch in einer Sitzung am 19. Februar 1943.
Fritz ohne Sentimentalität
Am 6. Oktober 1945 behauptete Alfred Rosenberg beim Verhör im Nürnberger Gefängnis, dass die Methoden Sauckels ihm nicht gefallen hätten, doch er habe nichts entgegensetzen können – Sauckel habe den Willen Hitlers erfüllt. Er habe es bedauert, dass die Forderungen Sauckels so eilig gewesen seien, dass sie nicht auf freiwilliger Grundlage zu erfüllen gewesen seien. Deswegen sei man der Notwendigkeit der Zwangsaufnahme gefolgt, so Rosenberg. Die von Hitler aufgestellten Richtlinien seien obligatorisch gewesen, man habe nichts dagegen tun können.
In den Nürnberger Prozessen versuchte Sauckel die Tatsache zurückzuweisen, dass er einen Sklaverei-Betrieb organisierte und ihn leitete. Er sprach von der Arbeitsaufsicht, die nichts gemeinsam mit Ausbeutung gehabt hätte. Den gewaltsamen Zwang zur Arbeit nannte er „einfachen Wirtschaftsprozess“. Aus dem Sohn eines Briefträgers und einer Näherin war ein perfekter Aufseher einer riesigen Fabrik namens Drittes Reich geworden.
Technokratismus und Nazismus sind sehr gut in einer Rede Sauckels in Weimar zu erkennen:
„Ich bitte, dabei zu bedenken, dass auch eine Maschine nur das zu leisten vermag, was ich ihr an Treibstoff, Schmieröl und Pflege zur Verfügung stelle. Wie viele Voraussetzungen mehr aber muss ich beim Menschen, selbst wenn er primitiver Art und Rasse ist, gegenüber einer Maschine berücksichtigen“.
Harte Befehle ließ Fritz Sauckel gerne mit einem Satz über falsche Sentimentalität versehen, die bei der Erfüllung der Aufgabe nicht stören dürfe. Er war ein Mann, der ohne Umschweife sprach. Dem ehemaligen Matrosen wäre nicht eingefallen, über dem Tor der KZ-Lager das Motto „Arbeit macht frei“ aufhängen zu lassen.
In seiner Rede in Nürnberg nannte er sich einen einfachen Arbeitsmann, Idealist und Patriot, der seine Pflicht ehrlich erfüllte. Er verstand nicht, worin seine Schuld bestand und warum er auf der Anklagebank landete.
Hintergrund
Die ins Dritte Reich gebrachten Arbeiter wurden in Kategorien gemäß der Rassentheorie der Nazis eingeteilt:
- Fremdarbeiter aus Dänemark und Norwegen, danach aus Italien
- Zwangsarbeiter: Militärinternierte – Gefangene aus den europäischen Ländern; Zivilarbeiter aus anderen Ländern Europas, vor allem Polen.
- Ostarbeiter aus den Republiken der Sowjetunion. Sie wurden systematisch als kostenlose Arbeitskraft genutzt und wohnten in überwachten Sonderlagern.