Kuriositäten bei den Nürnberger Prozessen, die nie protokolliert wurden
Den Teilnehmern der Nürnberger Prozesse sind viele Details im Gedächtnis geblieben, die nicht unmittelbar mit der Gerichtsverhandlung zu tun hatten. Was für ein Publikum saß im Sitzungssaal? Was ließen sich Reporter einfallen, um die Polizei auszutricksen? Oder wie gelang es dem Angeklagten Göring, eine junge sowjetische Frau zu umarmen?
Menschen in den hinteren Reihen
Die Zuschauerplätze befanden sich auf dem Balkon. Um in den Saal zu gelangen, brauchte man einen speziellen Ausweis. Dort wimmelte es praktisch immer von Menschen – im zerbombten Nürnberg war der Gerichtsprozess gegen die Verbrecher, die die ganze Welt namentlich kannte, im Grunde die einzige Unterhaltung für die Menschen. Selbst für jene von ihnen, die all die Jahre zuvor „verschlafen“ hatten.
Der Sekretariatsleiter der sowjetischen Anklage, Arkadi Poltorak, erinnerte sich beispielsweise an einen Dialog von zwei deutschen Frauen, den er zufällig gehört hatte.
„Im Sitzungssaal erschienen öfter sehr schick gekleidete Damen, denen es irgendwie gelungen war, längerfristige Passierscheine zu bekommen“, schrieb Arkadi Poltorak.
„Manche von ihnen waren Frauen von Angeklagten, manche waren Frauen von hochrangigen westlichen Politikern. Einmal fand ich mich in einer Pause zwischen zwei Sitzungen in der Nähe von zwei solchen Damen wieder. An diesem Tag präsentierte der Ankläger Beweise, die die deutsche Aggression gegen Österreich betrafen, aber er konnte an dem Tag nicht bis zu Ende reden. Die Damen waren mit diesem Umstand sehr unzufrieden. Eine von ihnen fragte die andere, ob sie morgen kommen würde. Die Antwort war entzückend:
‚Natürlich komme ich, meine Liebe, denn ich will ja erfahren, wie diese Aggression gegen Österreich endete.‘
Die Dame war Ende 40, aber sie wusste offenbar nicht, warum es Österreich nicht mehr gab.“
Im Publikum gab es manchmal sehr auffallende Personen. So kamen beispielsweise der US-Kriegsminister Robert Patterson und der britische ehemalige Kriegsminister Leslie Hore-Belisha (er war ein Gegner der britischen „Beschwichtigungspolitik“ gegenüber Hitler und Opponent seiner Regierung). An einem der ersten Tage des Prozesses erschienen im Sitzungssaal auch zwei hochrangige sowjetische Gäste: Andrej Wyschinski (zu dem Zeitpunkt der Erste Stellvertreter des Volkskommissars für auswärtige Angelegenheiten) und der Staatsanwalt Konstantin Gorschenin. Formell hatten sie mit dem Prozess nichts zu tun, aber der Vorsitzende des Tribunals, Geoffrey Lawrence, begrüßte die beiden mit lauter Stimme zum Auftakt der Sitzung.
„Bei einem Abendessen bei den Richtern lernte ich einen dicken Mann kennen, der wirklich lebhaft und expansiv war“, erinnerte sich Arkadi Poltorak weiter. Das war Fiorello La Guardia, wohl der populärste Bürgermeister von New York in der ganzen Geschichte der Stadt. Er bekleidete seinen Posten gleich drei Amtszeiten nacheinander, und in den Kriegsjahren stand er an der Spitze des Zivilverteidigungsstabs der USA.
„Ein lukratives Geschäft“
Vertreter der sowjetischen Anklage, lauter erfahrene Armeeoffiziere, die klare ideologische Einstellungen hatten und sich stets strikt an die Vorschriften hielten, waren schockiert von der Lässigkeit mancher von ihren westlichen Kollegen.
Poltorak erzählte noch eine Geschichte: Einmal ging er gemeinsam mit seinem Assistenten Lew Schejnin in eine Cafeteria. Unterwegs wurden sie von einem US-amerikanischen Oberst aus der Abteilung für materielle Versorgung angehalten. Dieser Oberst fragte Schejnin, ob er tatsächlich für einige Tage nach Moskau fliegen wollte. Schejnin bestätigte das.
„Oh, das trifft sich gut, Herr General“, freute sich der Amerikaner. „Ich habe ein Geschäftsangebot für Sie. Das wird ein gutes Geschäft sein“
„Was für eins?“, fragte Schejnin misstrauisch.
„Das ist ganz einfach. Sie holen aus Moskau eine Partie von Pelzwaren aus Sibirien. Glauben Sie mir: Ich kann sie lukrativ verkaufen. Verstehen Sie, was ich meine?“
Schejnin sei rot vor schäumender Wut geworden, schrieb Poltorak.
„Ich verstehe Sie nicht, Herr Oberst. Wissen Sie etwa nicht, dass ich Jurist und kein Pelzhändler bin?“
Der Amerikaner ließ aber nicht locker: „Ich bin auch Jurist. Aber sagen Sie bitte, Herr General: Sind Juristen etwa die dümmsten Menschen auf der Welt?“
„Lassen Sie uns dieses sinnlose Gespräch beenden“, sagte Lew Schejnin böse. „Ich muss mich wundern, Herr Oberst, dass Sie es gewagt haben, mir ein solch spekulatives Angebot zu unterbreiten.“
„Warum denn spekulatives? Das wäre doch ein ganz normales Geschäft! Ich verstehe nicht, warum Sie es mir so übel nehmen.“
Dabei guckte er Schejnin so aufrichtig verwundert an, dass dieser am Ende lachen musste.
„Herr Oberst, wir werden uns nie verstehen können“, sagte er nur.
Pelzhandel war ein Geschäft für Beamte bzw. Offiziere, die mindestens Obersts waren. Wer keinen so hohen Dienstgrad hatte, musste sich mit kleineren Geschäften begnügen und beispielsweise Uhren schwarz verkaufen.
Der Schriftsteller Boris Polewoi, der über die Nürnberger Prozesse als Korrespondent berichtete, wurde einmal unmittelbar im Justizpalast von einem jungen Amerikaner gefragt, ob er eine tolle Uhr kaufen möchte. Polewoi sagte „nein“ und zeigte seine eigene Uhr, die keineswegs schlechter war. Dann legte der Amerikaner seine Uhr in ein mit Wasser gefülltes Glas und gab sie Polewoi, damit dieser hören könnte, dass die Uhr weiterhin tickte. Dieser lehnte das Angebot trotzdem wieder ab. Der Amerikaner war sichtlich verärgert und warf die Uhr auf den Fußboden, hob sie wieder auf, legte sie wieder ins Wasser – und reichte sie wieder Polewoi. Einer solchen Werbung konnte dieser nicht mehr widerstehen und hat die Uhr am Ende doch gekauft.
Tricks am Einlass
Die US-Wache am Eingang des Sitzungssaals war sehr streng, und deshalb mussten sich viele Menschen (vor allem Journalisten), die unbedingt hinein wollten, etwas einfallen lassen.
Der bekannte sowjetische Maler und Karikaturist Boris Jefimow betreute quasi den Schriftsteller Ilja Ehrenburg. Er erzählte eine Geschichte, die noch im Grand Hotel begonnen hatte, wo die meisten Ausländer abgestiegen waren.
„In der Vorhalle sah ich einen Mann mit einer Baskenmütze und einem gelben Pelzmantel, der sehr verärgert war. Es war Ilja Ehrenburg. (…)
‚Was geht hier vor?‘, fragte er aufgeregt. ‚Ich bin aus Prag gekommen – mit einem Willys-Jeep, den mir General Svoboda zur Verfügung stellte. Ich bin müde und hungrig – und werde nicht ins Hotel gelassen, wobei man von mir irgendeinen Passierschein verlangt. Was ist los?‘
Ich erklärte dem Verwalter, dass er ein sehr bekannter sowjetischer Schriftsteller und Antifaschist ist, und wenn man ihn ignorieren sollte, könnte das negative Folgen haben. Der Hotelmanager hatte seine Zweifel, stimmte aber letztendlich zu, und Ehrenburg durfte hinein.
Einen Tag später beauftragte mich Ehrenburg, ihm einen Passierschein zu besorgen, damit er den Prozess besuchen könnte. Und dann begann für mich der Lauf über die amerikanischen bürokratischen Orbits, wobei ich einen gewissen Oberst Madary finden musste, der für Passierscheine zuständig war. (…) Ehrenburg wurde irgendwann wütend.
‚Sagen Sie ihm‘, sagte er genervt, ‚dass ich nur für zwei Tage gekommen bin, und wenn mir kein Passierschein ausgestellt wird, dann reise ich sofort wieder ab. Damit sollte öffentlich gemacht werden, dass Ehrenburg zum Prozess gegen Hitlers Räuber nicht zugelassen wurde.‘
Ich übersetzte diese wütende Tirade einem US-amerikanischen Major, der sich davon nicht im Geringsten beeindrucken ließ. Er wiederholte nur, dass für die sowjetische Delegation keine zusätzlichen Passierscheine vorgesehen waren, und er könnte uns nicht mehr helfen. (…)
Am Ende nahm Ehrenburg einfach meinen Passierschein und betrat gelassen den Sitzungssaal.“
Ein weiterer Korrespondent (die Dame, die das erzählt hat, wusste nicht mehr, ob er aus Frankreich oder Großbritannien war – aber bestimmt nicht aus der Sowjetunion) trickste die amerikanischen Wächter noch dreister aus.
„Er klebte das Foto seines Lieblingsmops in Sportmütze und Krawatte auf den Ausweis“, schrieb die sowjetische Dolmetscherin Tatjana Stupnikowa. „Mit diesem Ausweis passierte der Korrespondent problemlos die Kontrolle und war zu Beginn der Sitzungen im Gerichtssaal. Mir ist nicht bekannt, welche Wette er dabei gewann, doch alle Bekannten (seine und die von Mops) versicherten, dass der Grund nicht die unzureichende Kontrolle war. Es geht darum, dass dieser Korrespondent und sein Mops, wie das oft vorkommt, einander sehr ähnlich sind! Deswegen sollte man keine Zweifel an der Zuverlässigkeit der US-Militärwache haben. Zumal wagte niemand, diesen Trick zu wiederholen“.
Das war nicht der einzige witzige Moment zwischen der Wache und Hunden. In der inoffiziellen Geschichte von Nürnberg bleibt neben dem Mops auch eine riesige Dogge - weiß mit schwarzen Flecken. Ihr Besitzer verspätete sich zur Morgensitzung und vergaß in seiner Eile die Tür im Hotelzimmer zu schließen. Die Dogge lief auch hinaus und folgte dem nichtsahnenden Besitzer. Der Hund passierte problemlos die Kontrolle vor dem Eingang des Gerichtsgebäudes und gelangte über Korridore und Treppe in den Gerichtssaal.
„Niemand wagte es, diesen stolzen Aristokraten, Vertreter der alten englischen Rasse zu stoppen“, schrieb Tatjana Stupnikowa. „Die Wache erlaubte sich nur, sie schweigend zu begleiten und dabei Distanz zu halten… Man weiß nicht, womit das enden könnte, doch dem Chef der Wächter wurde von Militärpolizisten darüber berichtet, er fand im Saal den Besitzer des Hundes. Als die Dogge ihre Pfote auf eine massive Türklinke legte und in den Saal gelangen wollte, hinderte der erschrockene Besitzer sie daran. Die Ehre der Militärwache der USA und die Ehre des Hundes waren wiederhergestellt, die Sitzung des Militärgerichtshofs wurde fortgesetzt, im Saal wurde das Geschehene vor der Tür nicht bemerkt.“
Allerdings versuchten einige im Gerichtssaal die Militärpolizisten zu provozieren. Der sowjetische Kriegskorrespondent Jewgeni Chaldei erzählte, wie er eines seiner bekanntesten Fotos machte. Von der Pressezone hatte er keinen guten Blick auf die Anklagebank und die Tribüne für die Befragung. Der mutige Fotograf, der den ganzen Krieg mitverfolgt hatte, wollte Göring aus einem für andere unzugänglichen Blickwinkel fotografieren – von Angesicht zu Angesicht. Er hatte den Gerichtssekretär, dessen Platz sich direkt vor dem Richtertisch und gegenüber der Anklagebank befand, zu einem Deal bewegen können. Im Tausch gegen zwei Whiskeyflaschen machte er seinen Platz für Chaldei frei. Er fotografierte Göring von Angesicht zu Angesicht – vor den vor Neid erblassenden Kollegen. Das war ein sehr grober Verstoß gegen Gerichtsordnung. Chaldei konnte nicht nur des Saals verwiesen werden, ihm drohte sogar der Entzug der Akkreditierung für den ganzen Prozess.
Rebellion von SS-Soldaten
Bei dem Prozess kam es zu Ereignissen, die später für Erheiterung sorgten.
An einem sommerlichen Morgen gingen die Mitarbeiter des Gerichtshofs zur Arbeit und sahen plötzlich einen US-Panzer vor dem Eingang. In der Nacht hatten die Amerikaner die langen Korridore des Justizpalastes in Feuerstellungen verwandelt, wo mit Gewehren bewaffnete Soldaten Wache hielten. Auf dem Dach wurden Flak-Posten stationiert. Die gesamte US-Wache war in Kampfbereitschaft versetzt. Etwas war im Gange.
Die Amerikaner verheimlichten nicht den Grund für die Mobilmachung - die gefangenen SS-Soldaten. Seit den ersten Tagen des Prozesses konnte man vor dem Gerichtsgebäude Männer sehen, die Trümmer entsorgten und für Ordnung in diesem Stadtviertel unter Aufsicht von US-Soldaten sorgten. Im Justizpalast stellten sie Möbel um, räumten Zimmer auf u.a. Es handelte sich um Gefangene aus den SS-Truppen. Mit Lastern wurden sie nach getaner Arbeit in Nachtlager gebracht.
In einer Nacht kam die Nachricht, dass die SS-Soldaten aus dem Lager geflohen und auf dem Weg zum Gefängnis des Justizpalastes seien. Entweder um die Angeklagten vor der unausweichlichen Hinrichtung zu retten oder wegen der Niederlage im Krieg zu bestrafen. Die Informationen entpuppten sich als Falschmeldung – die Gefangenen waren in ihrem Lager. Der Panzer fuhr weg, die Feuerstellungen wurden abgebaut, die US-Wache brachte die Gewehre zurück ins Arsenal. Die ganze Geschichte sorgte anschließend für viele Witze.
Göring und seine „letzte Frau“
Die Angeklagten gaben dem Publikum mehrmals Gelegenheit zum Lachen. Besonders Göring.
„Es gab auch Phasen im Militärgerichtshof, in denen die Verhöre Görings den Prozess in wahre Shows verwandelten“, schreibt Swjaginzew. „Der Saal des Militärgerichtshofs war voller Menschen, die den Auftritt des Reichsmarschalls sehen wollten. So geschehen am 13. und 18. März 1946. Göring prahlte mit seiner Redekunst. Der Gerichtsvorsitzende Lawrence konnte nur mit Mühe die Lachausbrüche stoppen, die den Auftritt Görings im Saal begleiteten“.
Doch selbst sein spezieller Humor konnte an der wichtigsten Tatsache nichts ändern – Göring war ein Monstrum selbst in den Augen jener, die ihn jeden Tag während des Prozesses sahen. Er flößte Schrecken ein, auch wenn er keine Gefahr mehr darstellte. Selbst wenn er sich als Gentleman gerierte.
Eine bemerkenswerte Randnotiz lieferte zudem ein Vorfall um die sowjetische Dolmetscherin Tatjana Stupnikowa und ihre eher unfreiwillige Begegnung mit Göring.
„An einem Sommertag rannte ich durch den Korridor in den Gerichtssaal in unsere Dolmetscherkabine, in die ich durch eine Seitentür am Ende des Korridors eintreten konnte. Wir mussten natürlich am Arbeitsplatz sein, bevor der Gerichtsordner ‘Aufstehen! Das Gericht kommt!‘ ruft, also vor der Eröffnung der nächsten Sitzung. Verspätungen waren unerwünscht, der strenge US-Chef der Dolmetscher prüfte persönlich unsere Pünktlichkeit. So lief ich, ohne etwas um mich herum zu bemerken, in großer Eile, um mich nicht zu verspäten, rutschte auf dem glatten Boden aus und wäre sicher gefallen, hätte ein großer und starker Mann mich nicht gestützt. Zunächst war ich noch nicht im Bilde, und fühlte nur starke Männerarme. Ein starker Mann hatte mir unter die Arme gegriffen, um mich vor dem Fall zu schützen. Als ich die Augen auf meinen Retter richtete, sah ich das lächelnde Gesicht Hermann Görings, der mir zuflüsterte – Vorsicht, mein Kind. Ich erinnere mich daran, dass mir innen vor Schrecken ganz kalt wurde“.
Ich weiß nicht, wie ich zur Kabine gekommen bin. Doch auch hier wartete eine neue Prüfung auf mich. Ein französischer Korrespondent lief auf mich zu. Alle kannten uns, die Dolmetscher, weil wir jeden Tag im Saal neben den Angeklagten saßen. Er winkte und sagte zu mir: “Sie werden nun die reichste Frau in der Welt sein”. Er bemerkte wohl meine Irritation und sagte: „Sie sind die letzte Frau in den Armen Görings. Ist Ihnen das nicht klar?“.
Offenbar war sich der Franzose nicht so ganz über die Bedeutung des Vorgangs im Klaren, dass einer sowjetischen Frau von einem der größten Nazi-Verbrecher unter die Arme gegriffen wurde. Wäre es eine Britin, Französin bzw. eine Frau aus einem anderen Land gewesen, das auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs war, konnte man sich so etwas leicht vorstellen.
Der Franzose wusste nicht, dass Tatjana Stupnikowa aus einer Familie stammte, die stark unter den Repressalien der Nazis gelitten hatte, und ihr Einsatz in Nürnberg an sich etwas Außergewönliches war. Sowjetische Soldaten, die alles aufmerksam verfolgten, drückten ein Auge zu und bestraften „die letzte Frau in den Armen Görings“ nicht.
Julia Ignatjewa
Quellen:
Arkadi Poltorak „Nürnberger Epilog“
Tatjana Stupnikowa „Nichts außer Wahrheit. Nürnberger Prozess: Erinnerungen einer Dolmetscherin“
Alexander Swjaginzew:“Nürnberger Prozess“
Boris Jefimow „Zehn Jahrzehnte“