„Deutschland wartet, bis das letzte Sandkorn in der Sanduhr fällt“
Internationale Medien zum Beginn des Zweiten Weltkriegs
Am 6. Dezember schließt die US-Seite in Nürnberg den Vortrag ihrer mehrtägigen Anklage ab, die der Entfesselung des Zweiten Weltkriegs durch Deutschland gewidmet ist. Ereignisse vom August 1939 waren das letzte Vorkriegsthema dieses Prozesses. Versetzen wir uns um 81 Jahre zurück. Worüber schrieben Zeitungen in verschiedenen Ländern an jenen Tagen?
Die Sowjetunion berichtete kurz und knapp
Am Tag des deutschen Überfalls auf Polen war die sowjetische Presse eher wortkarg: Am Vortag hatte der Oberste Sowjet den Nichtangriffspakt ratifiziert, der in Russland als Molotow-Ribbentrop- und in Deutschland als Hitler-Stalin-Pakt bekannt ist. Die Schlagzeilen solcher Zeitungen wie „Iswestija“, „Prawda“ und „Komsomolskaja Prawda“ waren dem sowjetisch-deutschen Abkommen gewidmet. Die Themen Nummer zwei und drei waren das Gesetz über die allgemeine Wehrpflicht und das neue Schuljahr. Den Ereignissen an der deutsch-polnischen Grenze waren lediglich einige Zeilen auf den letzten Seiten gewidmet. Die Meldungen waren kurz und knapp:
„Heute haben Kriegshandlungen zwischen Deutschland und Polen begonnen. Am frühen Morgen überquerten die deutschen Truppen in mehreren Orten die polnische Grenze.“ „Kriegshandlungen zwischen Deutschland und Polen“, „Iswestija“, Nr. 203 (6973), 2. September.
USA beschäftigten sich mit öffentlicher Meinung
Ganz anders war die Titelseite der „New York Times“ vom 1. September. Dem Kriegsausbruch waren gleich sieben Seiten gewidmet. Hier sind die Schlagzeilen:
„Deutsche Armee greift Polen an. Bombenangriffe gegen Städte. Der Hafen wurde blockiert. Danzig wurde ins Reich eingegliedert“.
Das Gallup-Forschungsinstitut veröffentlichte in der „New York Times“ die Ergebnisse einer Meinungsumfrage, die den deutschen Ansprüchen auf Danzig und den „Polnischen Korridor“ gewidmet war. Die Teilnehmer der Umfrage wurden gefragt: „Halten Sie Hitlers Ansprüche für gerechtfertigt?“ Dabei stellte sich heraus, dass die meisten Amerikaner die Polen unterstützten: 87 Prozent zeigten sich der Auffassung, dass sich Hitlers Ansprüche auf Danzig kaum rechtfertigen ließen; und jeder vierte enthielt sich der Stimme oder hatte keine klare Meinung dazu. Ein New Yorker Unternehmer fasste die Meinung der meisten Mitbürger folgenderweise zusammen:
„Solange Hitler seine Forderungen stellt, indem er eine Hand reicht und in der anderen einen Revolver hält, bin ich dagegen, dass man ihm wenigstens etwas überlässt“. „U.S. Voters Favour Poland In Survey“, „New York Times“, 1. September.
Polens Hilferufe
„Die Republik schwebt in Gefahr!“ – solche Schlagzeilen schrieben alle Warschauer Zeitungen am 1. September, auch die offizielle Zeitung „Gazeta Polska“. In Polen wurde der Kriegszustand ausgerufen.
US-Zeitungen fokussierten sich auf die Reaktion der Polen auf die Ereignisse in ihrem Land. „Nebel und Wolken hängen über der Stadt. Mit dem Nieselregen entstand offensichtlich ein provisorischer Schutz gegen Luftangriffe. Warschau ging zur Arbeit – wie gewöhnlich“. „Hostilities begun“, The New York Times (AP), 1. September.
„Warschau hat die gestrige Nachricht über den Kriegsausbruch überraschend ruhig und sachlich zur Kenntnis genommen. Es gab keine Kundgebungen, keine pathetischen Reden – nur den kurzen Appell des Präsidenten Ignacy Mościcki“. “Poles Accept War With Great Calm”, The New York Times, 2. September.
„Lipski, Polens Botschafter in Berlin, bekam den Befehl, Berlin zu verlassen. Ähnlich verlangte der deutsche Geschäftsträger in Warschau im Namen seiner Regierung den Pass für die Ausreise. Die Situation ist durchaus klar“. Regierungsmitteilung Polens, „Iswestija“, Nr. 204 (6974), 3. September.
London wird evakuiert
In Großbritannien und Frankreich begann am 2. September die allgemeine Mobilmachung der Bürger. In London wurde der Luftverkehr eingeschränkt und ein Verbot für den Kauf von mehr als einwöchigen Lebensmittelvorräten verhängt. Es wurden Filmtheater geschlossen und große Sportveranstaltungen abgesagt. Hier und dort wurden Schilder mit der Aufschrift „Luftschutzkeller“ angebracht.
Die gesamte Beleuchtung in der Stadt wurde ausgeschaltet: Selbst in Omnibussen saßen die Fahrgäste im Halbdunkeln. Fenster wurden mit schwarzem Papier verklebt oder mit Vorhängen bedeckt.
„London versinkt für die Kriegszeit in halber Dunkelheit, wie das vor einem Vierteljahrhundert war. (…) Damals dauerte die Dunkelheit vier Jahre. Jetzt könnte es genauso lange dauern, bis die Londoner wieder Licht am Piccadilly-Circus sehen“. „London Threatens“, 2. September.
Es begann die Evakuierung der Londoner: Mehr als drei Millionen Kinder, Behinderte, Frauen und Greise sollten an sicherere Orte gebracht werden. In der Hauptstadt sollte nur das Personal bleiben, das lebenswichtig für London war.
„Die größte Massenbeförderung der Bevölkerung binnen kürzester Zeit in der britischen Geschichte läuft auf Hochtouren“. „British Children Taken From Cities“, „New York Times“, 1. September.
Paris rettet Schaufenster und den Louvre.
In Paris gab es keine massenhafte Evakuierung, aber die Stadt wurde leer: Es waren nur noch wenige Taxis und Busse in den Straßen zu sehen – viele Fahrer wurden in die Armee einberufen. Die Pariser Zeitungen bestanden jetzt nur noch aus nur vier Seiten – es galt, Papier zu sparen. Aus den Schaufenstern von Geschäften und Cafés wurden alle Gegenstände geräumt und die Fenster wurden mit Papier verklebt, damit diese im Falle von Luftangriffen nicht zerbrechen und keine Menschen verletzen. Tagsüber beschäftigten sich die Einwohner mit ihren üblichen Dingen, aber viele hatten jetzt Gasmasken bei sich – für den Fall eines Gasangriffs.
„Die friedliche Entwicklung der Situation hing an einem so dünnen Haar, dass sich die Franzosen mit dem kommenden Krieg schon abgefunden haben“. „Paris Is Stripped And Ready For War“, „New York Times“, 3. September.
„Laut einer Note des Ministeriums für nationales Bildungswesen Frankreichs ist ein beträchtlicher Teil der Sammlungen des Louvre, der Nationalbibliothek und des Nationalen Archivs jetzt in Sicherheit.“ „French Art Is Protected“, „New York Times“, 2. September.
Die Welt macht sich auf Krieg gefasst
Die Atmosphäre spannte sich bis zum Geht-nicht-mehr an, als Paris und London Berlin ultimativ aufforderten, die Aggression gegen Polen zu stoppen. Die Welt blieb still und wartete auf Deutschlands weitere Schritte.
„Es sind 21 Jahre seit dem letzten Krieg vergangen, und jetzt steht Europa am Anfang eines neuen Krieges, der noch länger und tödlicher werden könnte als der, der 1914 begonnen hatte. (…) Binnen von ein oder zwei Tagen, vielleicht sogar von 24 Stunden werden die britischen und französischen Truppen möglicherweise gegen die deutschen kämpfen. Der Eintritt des größten Teils Europas in den Krieg ist nur noch eine Frage der Zeit“. „London Threatens“, „New York Times“, 2. September.
„Die britische Regierung hat Deutschland die Hand gereicht und eineinhalb Tage nach dieser Warnung gehalten. Die französische Regierung gab Deutschland noch mehr Zeit für die Gegengeste. (…) Aber umsonst. Die deutsche Führung wartet, bis das letzte Sandkorn in der Sanduhr fällt“. „At War“, „The Guardian“, 4. September.
Deutschland lernt „Kommissare“ kennen
Viel Aufmerksamkeit widmete die internationale Presse auch den Stimmungen der Deutschen selbst. Die US-amerikanische Journalistin Virginia Coles kehrte am 1. September aus Berlin zurück. Die meisten Deutschen glauben nicht, dass der Angriff auf Polen zu einem Weltkrieg führen würde, schrieb sie in der „Sunday Times“.
In deutschen Zeitungen wurden nur wenige Absätze über die allgemeine Mobilmachung veröffentlicht. Aber in der Samstagsausgabe der Zeitung „Völkischer Beobachter“ erschien ein Artikel über das russische Lexikon, in dem Begriffe wie „sowjetischer“, „UdSSR“ und „Volkskommissar“ erläutert wurden. In weniger als zwei Jahren, im Juni 1941, sollte im Dritten Reich ein Befehl zur Tötung von sowjetischen Kommissaren veröffentlicht werden.