Airey Neave wandte sich als Erster an die Nazi-Angeklagten im Militärgerichtshof

Am 18. Oktober nahm der Militärgerichtshof in Berlin die Klage an. Das Dokument, das in die deutsche Sprache übersetzt und zahlreich vervielfältigt wurde, wurde an das Gefängnis des Justizpalastes Nürnberg übermittelt. Den Angeklagten wurde fast ein Monat gegeben, um die Anklageschrift einzusehen. Der erste Vertreter des Nürnberger Militärgerichtshofs, den die Angeklagten sahen, war der britische Major Airey Neave, der den Text der Anklage vorlas. Die Lebensgeschichte des Briten ist recht außergewöhnlich – von Jugend an bis zum Tod. Fast noch als Kind sah er die Folgen des Sieges von Hitlers Partei bei den deutschen Wahlen für Europa voraus, später gehörte er zum Kreis jener in Großbritannien, die Margaret Thatcher an die Macht brachten.

Von Zelle zu Zelle

„Ich traf Neave in den Zellen des Nürnberger Gefängnisses“, schreibt der Chefdolmetscher der amerikanischen Anklage bei den Nürnberger Prozessen, Richard W. Sonnenfeldt. „(…) Der Oberst Burton Andrews, Kommandant des Nürnberger Gefängnisses, ging ein kleines Stück hinter uns, mit einer Pistole in der Hand, zusammen mit ihm schritten zwei russische Offiziere. (…) Wir gingen von Zelle zu Zelle. Der Wächter öffnete die Türen, die Häftlinge wurden zu einem kleinen Tisch geführt. (…) Während wir mehrere Stunden lang wieder die schreckliche Liste der Verbrechen für jeden der 21 Häftlinge vorlasen, stellte ich mir erneut die Leichenberge vor und erstickte fast am Geruch des von diesen Menschen und ihren Helfershelfern in Gang gesetzten Todes-Fließbandes. (…) Die physische Normalität, das Aussehen eines einfachen Menschen von der Straße erschreckte mehr als hätte es Anzeichen von Wahnsinn gegeben.“

Der damals 30 Jahre alte Airey Neave, der aus einer Adelsfamilie stammte, war studierter Jurist, kämpfte in der Artillerie und sprach gut Deutsch. Zudem war er MI6-Agent. Wir wissen nicht, ob der britische Aufklärungsdienst damit zu tun hatte, dass Neave dem Tribunal angehörte. Er hatte viel zu tun. Neave bereitete unter anderem Materialien zum Verfahren gegen die Krupps vor.

Später schrieb er in seinem Buch, dass er 20 Jahre lang den Krieg nicht hinter sich bringen konnte, und gab zu, dass er in all diesen Jahren in der Nacht schreiend aufwachte. Dabei war seine betonte Zurückhaltung beeindruckend, seine Kaltschnäuzigkeit kostete ihm letzten Endes aber das Leben.

Theatergruppe im Lager

„Die Uhr schlägt! Ich muss vom Ball weglaufen!“, sang Aschenputtel in einer Laien-Operette. Aschenputtel wurde von einem schnurrbärtigen britischen Offizier dargestellt, die Operette wurde im deutschen Kriegsgefangenenlager zur Aufführung gebracht. Das ist die einzige witzige Episode im Antikriegsroman „Schlachthof 5 oder Der Kinderkreuzzug“ des britischen Schriftstellers Kurt Vonnegut – eines Veteranen und ehemaligen Kriegsgefangenen.

Es ist schwer zu sagen, ob sich Vonnegut dieses Stück ansehen konnte, doch Airey Neave nahm vielleicht an den Aufführungen teil. Zumindest flüchtete er aus dem Lager, während auf der Bühne eine Vorstellung lief.

Schon auf der Schulbank begann Airey Neave damit, sich auf den Krieg vorzubereiten. 1933 schrieb der 16-jährige Schüler des Eton College einen Aufsatz zum politischen Thema „Hitler, Deutschland und die Zukunft Europas“. Seine Prophezeiungen waren sehr präzise. In der damaligen Generation gab es sehr vorausschauende Jungen – es gibt viele Erwähnungen von beeindruckenden Voraussagungen über den Zweiten Weltkrieg durch Jugendliche – amerikanische, sowjetische, deutsche. Doch Airey Neave beschränkte sich nicht auf die Rolle der Cassandra. An der Oxford University las er alle Werke von Carl von Clausewitz – dem preußischen Feldherrn und Militärtheoretiker vom Beginn des 19. Jahrhunderts. Als Neave gefragt wurde, wozu er das braucht, sagte er:

„Der Krieg rückt näher, jetzt muss man möglichst viel über Kriegskunst erfahren.“

Er kämpfte nicht lange – von Februar bis Mai 1940. In Frankreich wurde er verletzt und geriet in deutsche Gefangenschaft. Nach einem Jahr unternahm er den ersten Fluchtversuch, der scheiterte. Zusammen mit einem Kameraden flüchtete er aus dem Lager und wollte nach Ostpreußen, das kurz zuvor Teil des sowjetischen West-Belarus geworden war, doch sie wurden erwischt und zur Gestapo gebracht. Danach wurde Neave an einen sehr bemerkenswerten Ort geschickt.

Das Offizierslager auf Schloss Colditz war eines der wenigen Muster-Lager für Kriegsgefangene. Das Rote Kreuz versorgte die Gefangenen mit allem Notwendigen. Es hieß sogar, dass die Essensversorgung besser war als bei den deutschen Wächtern, deren Lohn in Reichsmark nicht für die steigenden Preise reichte.

Polnische Offiziere hatten als erste Insassen des Lagers damit begonnen, sich ihre Zeit mit Laiendarbietungen und -kunst zu vertreiben. Beliebt waren auch musikalischen Genres – ein polnischer Chor, ein holländisches Hawaii-Gitarren-Ensemble und ein französisches Orchester. Doch in der Theaterkunst hatten natürlich die Briten den Vorrang. Mit großem Erfolg wurden zwar nicht Werke von Shakespeare, aber von Shaw aufgeführt. Um weibliche Rollen darzustellen, ließen Häftlinge ihr Haar wachsen, einer von ihnen rasierte sich sogar die Beine, cremte sie mit brauner Schuhcreme ein und malte eine Linie, die einer Strumpfnaht ähnelte.

Aus der Gefangenschaft in den Nachrichtendienst

Dennoch war es ein Lager – mit harten Regeln und allen Merkmalen eines Nazi-Betriebs. Die „Schauspieler“ waren gefangene Offiziere, deren Pflicht nicht darin bestand, sich in einer Theatergruppe zu vergnügen, sondern zu fliehen und an die Front zurückzukehren. Aus Colditz zu fliehen, war nicht einfach. Das Lager befand sich in einem mittelalterlichen Schloss auf einer Anhöhe am Fluss Mulde. Es gab zahlreiche Fluchtversuche, die Wächter organisierten sogar ein Museum mit einkassierten Fluchtwerkzeugen. Die Gefangenen waren ständig damit beschäftigt, ihre Flucht zu planen. Damit ihre Fluchtpläne nicht zufällig miteinander kollidierten, gab es Koordinatoren, die das Lager nicht verlassen durften. Fast alle Versuche scheiterten. Nach Fluchtversuchen benachrichtigte die Administration die örtliche Bevölkerung; die Hitlerjugend fand die Ausbrecher schnell.

Airey Neave begann mehrere Monate, nachdem er nach Colditz gebracht worden war, seine Flucht zu planen. Sein Komplize war ein holländischer Offizier. Ihnen gelang es, aus dem Schloss zu fliehen, doch Neave fiel wegen seiner deutschen Uniform Marke Eigenbau auf, hergestellt aus einer polnischen Tunika und einer bemalten Kappe.

Nach sechs Monaten, am 5. Januar 1942, gelang ihm die Flucht – diesmal mit einem anderen Holländer – während einer Theateraufführung. Beide flüchteten durch eine Luke, verließen die Burg und nahmen einen Zug in die Schweiz. Danach kehrte Airey Neave über Frankreich, Spanien und Gibraltar in die Heimat zurück. Er war der erste Brite, der aus Colditz flüchtete. In den sechs Jahren des Bestehens dieses Lagers flüchteten insgesamt knapp 50 von mehreren Tausend Menschen aus dem Lager.

Zurück in der Heimat, ging er zum MI9. Seine Aufgabe bestand in der Organisierung von Fluchtversuchen britischer Kriegsgefangener. Der MI9 rettete rund 5000 Briten und Amerikaner aus der Gefangenschaft, und auch 300 Piloten, die über Frankreich und Belgien abgeschossen und von Partisanen versteckt wurden. In dieser Zeit wurde Airey Neave vom MI6 angeworben und bekam den Codenamen „Saturday“.

Freund von Margaret Thatcher

Nach dem Krieg schrieb Airey Neave Bücher – insgesamt fünf, eines davon handelt von den Nürnberger Prozessen. Dieses Werk wurde mehrmals neu aufgelegt. Unter englischsprachigen Lesern, die sich für die Geschichte der Nürnberger Prozesse interessieren, erlangte es große Bekanntheit, ins Russische wurde es bislang nicht übersetzt.

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Die Literatur war ein Hobby für Neave, die Politik sein Beruf. Er wurde Tory-Anhänger. Er wurde von den Konservativen in das House of Commons gewählt, wo er seine politische Ikone – die spätere Premierministerin Margaret Thatcher – traf. 1974 bewarb er sich um das Amt von Thatchers Stabschef. Sie siegte und übernahm den Vorsitz der damals oppositionellen Partei. Er durfte ein Amt in ihrem Schattenkabinett auswählen. Neave wollte Minister für Nordirland sein – ein Amt, mit dem wegen des eskalierenden Konflikts viele Gefahren verbunden waren.

Er schaffte es allerdings nicht, aus dem Schatten zu treten und ein reales Ministeramt zu bekleiden. Einige Monate vor den Parlamentswahlen, die Thatcher und ihre Partei gewannen, kam Neave ums Leben.

Am 30. März 1979 wurde Neave bei der Fahrt aus dem Parkhaus des Palace of Westminster durch eine Autobombe getötet. Der 63 Jahre alte Airey Neave verlor beide Beine und starb eine Stunde später im Krankenhaus. Die Verantwortung für den Terroranschlag übernahm die irische nationale Befreiungsarmee (INLA) – eine bewaffnete Gruppe, die sich von der Offiziellen Irisch-Republikanischen Armee (IRA) abgespaltet hatte.

Während der Trauerfeier sagte Thatcher:

„Er war einer der Freiheitskämpfer. Niemand wusste, wie großartig dieser Mensch war – außer seinen engsten Angehörigen. Er war mutig, tapfer, loyal, stark. Aber zugleich auch sehr zart, gutherzig und ergeben. Das ist eine seltene Kombination von Eigenschaften. Es gibt keinen, der ihn ersetzen könnte. Ich und viele andere Menschen stehen in seiner Schuld.“

Airey Neave war Fatalist. Er wurde von der Polizei gewarnt, dass sein Leben in Gefahr sei, ihm wurden Leibwächter angeboten. Doch er weigerte sich und sagte, dass die Extremisten feige seien und ihm nicht die Stirn bieten könnten.

Die INLA kommentierte den Tod ihres Feindes in einer Presseerklärung:

„Im März spürte der Terrorist außer Dienst und Verfechter der Todesstrafe, Airey Neave, den Geschmack seiner Medizin, als eine INLA-Einheit bei einer der besten Operationen des Jahrzehnts ihn innerhalb des unannehmbaren Palace of Westminster in Stücke riss. Die widerliche Margaret Thatcher winselte im Fernsehen über den unersetzbaren Verlust. So war es auch – für die britische Regierungselite.“

Nach dem Mord an Neave erklärte die britische Regierung die INLA für ungesetzlich.

Kurz nach seinem Tod wurde gemunkelt, dass es tatsächlich eine gemeinsame Operation von INLA, CIA und MI6 war. Der britische Aufklärungsdienst tötete angeblich seinen Agenten „Saturday“, weil er Materialien über Korruption in diesem Dienst sammelte. 40 Jahre nach dem Bombenattentat – im März 2019 – nahm Scotland Yard die Ermittlungen zu dem Mord wieder auf.

Julia Ignatjewa

 

Literaturverzeichnis:

  • Richard W. Sonnenfeldt, „Witness to Nuremberg. The Many Lives of the Man who Translated at the Nazi War Trials“