Was am ersten Tag in Saal Nr. 600 hinter zugezogenen Vorhängen geschah
Schon in den ersten Minuten der Anhörungen bei den Nürnbergern Prozessen am 20. November 1945 wurde allen Anwesenden klar, dass sie Augenzeugen eines geschichtlich denkwürdigen Vorgangs sind. Dabei ging es nicht um eine schnelle Bestrafung der Besiegten durch die Sieger, sondern um einen vollwertigen Gerichtsprozess mit akribischer Kleinstarbeit in der Rechtsprechung. Die kühl-sachliche Atmosphäre im Gerichtssaal war beklemmend. Die Angeklagten spürten quasi, wie sich die Schlinge um ihrem Hals langsam zuzog.
Im Gerichtssaal um 10 Uhr
Das Scharren sich bewegender Stuhlbeine, das Rascheln von Papier, Husten, geflüsterte Dialoge erfüllten den Saal Nr. 600 des Justizpalastes in Nürnberg um 10 Uhr. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich mehr als hundert Menschen im Raum: Mitglieder des Tribunals, Ankläger und Verteidiger, Übersetzer, Journalisten, Angeklagte, US-Militärpolizei, Zuschauer. Die ersten Worte in Nürnberg, die Radiosender auf Millionen Empfängern verbreiteten, sprach Sir Geoffrey Lawrence, Lord Chief Justice of England and Wales, der Vorsitzende Richter des Internationalen Militärgerichtshofs von Nürnberg:
„Bevor die Angeklagten zu diesem Verfahren eine Antwort auf die Frage geben, ob sie sich in der gegen sie erhobenen Klage wegen Verbrechen gegen die Welt, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschheit und Schaffung eines gemeinsamen Plans bzw. einer Verschwörung zur Ausübung dieser Verbrechen schuldig bekennen, will das Tribunal, dass ich in seinem Namen eine sehr kurze Erklärung abgebe (…). Der Prozess, der nun beginnen soll, ist einmalig in der Geschichte der Welt-Jurisprudenz, er ist von riesengroßer gesellschaftlicher Bedeutung für Millionen Menschen in der ganzen Welt. Aus diesem Grund liegt bei jedem, der an diesem Prozess irgendwie teilnimmt, eine sehr große Verantwortung.“
Keiner der Angeklagten, die vor dem Tribunal am 20. November 1945 standen, bekannte sich schuldig. Nur einer von ihnen wird später ein Geständnis ablegen – kurz vor der Hinrichtung.
Nürnberg wegen Gefängnis ausgewählt
Die sowjetische Delegation hatte stets darauf bestanden, dass die Prozesse in Berlin abgehalten werden sollten, zurückzuführen auf eine gewisse Symbolkraft als auch auf Logik – die Gerichtsprozesse gegen die Führungsriege im Dritten Reich sollten in der Hauptstadt stattfinden. Doch Berlin war eine sehr große Stadt, zur Hälfte zerstört, voller Soldaten der Alliierten und deutschen Diversanten. Die Amerikaner waren für München. Auch ein Ort „mit Bedeutung“ – in München hatte die Nazis ihre völkisch-radikalen Ideen bereits in den 1920er Jahren ausgebrütet. Zudem war es vom Krieg fast nicht betroffen. Doch München lag tief in der US-Besatzungszone, aus Sicht der Sowjetunion war es deshalb keine gute Wahl.
Letzten Endes fiel die Wahl auf Nürnberg. Die Stadt befand sich relativ nahe an der sowjetischen Besatzungszone. Während Berlin die Hauptstadt des Dritten Reichs war, war Nürnberg die Hauptstadt der NSDAP. Die Nazis inszenierten sich hier mit Fackelzügen und Reichsparteitagen; hier wurden auf einem Parteitag 1935 die so genannten Rassengesetze verabschiedet, die die Grundlage für die Ausrottung von Millionen Menschen wurden.
Doch der Hauptgrund, warum Nürnberg ausgewählt wurde, war ein anderer.
„Die Wahl Nürnbergs hing nicht nur damit zusammen, dass der dortige Justizpalast während der Kämpfe fast nicht beschädigt worden war. Ein großer Vorteil war auch, dass die Angeklagten in einem Gefängnis im Gebäudeflügel untergebracht werden konnten. Angespornt von dem US-amerikanischen Chefankläger Robert H. Jackson sprachen in der Folge alle von einer schicksalhaften Wahl des Ortes des Gerichtsprozesses gegen die Nazi-Anführer“, schrieb der russische Forscher Alexander Swjaginzew.
Das Tribunal hatte seinen offiziellen Sitz in Berlin. Dieses war am 18. Oktober im Gerichtssaal in Schöneberg offiziell eröffnet worden. Den Vorsitz hatte der sowjetische Richter Iona Nikitschenko. Er erläuterte den Beschluss des Tribunals über die Aushändigung der Anklageakte an die 24 Angeklagten. Ihnen wurde ein Monat für die Akteneinsicht gegeben. Im Nürnberger Gefängnis analysierten sie das Gelesene und formulierten ihre Antworten auf die Fragen nach dem Schuldbekenntnis.
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Somit standen auf der Liste am 20. November – dem ersten Tag der Gerichtsanhörungen – 22 statt der 24 Angeklagten, einschließlich des toten Bormann. Auf der Anklagebank konnte das Publikum 20 von ihnen sehen – der Chef der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes, Ernst Kaltenbrunner, war krank.
Presse hinter Glas
„Was vor allem auffiel – das fehlende Tageslicht: Die Vorhänge waren zugezogen. Ich wollte irgendwie, dass sich dieser Saal mit Sonnenstrahlen füllt, dass durch die großen Fenster vielfältige Laute von der Straße die strenge Kühle des Gerichtsverfahrens stören. Diese Verbrecher sollten spüren, dass das Leben trotz ihrer Anstrengungen weitergeht, dass es schön ist.“
Mit diesen Worten erinnert sich der Leiter des Sekretariats der sowjetischen Anklage, Arkadi Poltorak, an den ersten Gerichtstag. Viele Augenzeugen beschreiben das stechende Licht der Neonlampen – sie waren an der Stelle eines üppigen Kronleuchters an der Decke angebracht worden; Wände, dekoriert mit Eiche und dunkelgrünem Marmor; Basreliefs der Justizsymbole. Der Innenraum war so konzipiert, um eine strenge, gehobene Atmosphäre für die Anwesenden zu schaffen.
Ins Auge stachen die Soldaten der US-Militärpolizei, die hinter der Anklagebank standen. Sie trugen schneeweiße Helme, Handschuhe, Gürtel mit Halfter und sogar Knüppel. Die Mitglieder der sowjetischen Delegation fielen ebenfalls auf – die sowjetischen Staatsanwälte und Richter durften Uniform tragen.
Ein weiterer visueller Akzent – die Flaggen der vier Siegermächte an der Wand hinter den Richtern. Der Richtertisch stand auf einem Sockel vor vier riesengroßen Fenstern, die mit grünen Vorhängen zugezogen waren. Acht Richter, jeweils zwei von jeder Siegesmacht, saßen höher als alle Anwesenden, in dem „Amphitheater“ stand die Anklagebank, genauer gesagt waren es zwei Stuhlreihen. Vor dem Richtertisch stapelte sich das Papier auf den Arbeitsplätzen der Ankläger. Noch weiter links, hinter einer schalldichten Wand, saßen die Dolmetscher für die Sprachen Russisch, Englisch, Französisch und Deutsch.
Über ihnen, auf dem Balkon, nahmen Zuschauer und Journalisten Platz. Um die Menschen im Sitzungssaal nicht mit Blitzlichtgewitter und Aufnahmegeräuschen abzulenken, wurden die Reporter in einem speziellen, mit Glas abgeschirmten Raum untergebracht. Viele klassische Bilder aus dem Saal Nr. 600 wurden gerade von diesem Balkon aus gemacht.
Die Aufnahmeposition war nicht unbeweglich: Alle 25 Minuten erfolgte der Wechsel der Schreibkräfte, deren Aufgabe es war, am Ende des Tages das vollständige Stenogramm der Sitzung in vier Sprachen aufzuschreiben. Jeder Platz hatte Funkanschluss: Die Reden der auftretenden Personen konnte man in allen vier Sprachen hören.
Richard Sonnenfeldt, der Dolmetscher der US-amerikanischen Anklage, beschrieb in seinem Buch, wie er Jahre später zufällig Reiseführer durch den Saal Nr. 600 wurde: „Jedes Detail des Saals im Jahr 1945 saß in meinem Gedächtnis fest, aber jetzt hatte sich vieles verändert. (…) Ich zeigte den Platz, wo der Richter Jackson (der amerikanische Hauptankläger bei den Nürnberger Prozessen, Robert Jackson, war Mitglied des Obersten Gerichtshofs der USA – Autor) gestanden hatte, als er sagte: ‚Wir müssen bereit sein, dass das Tribunal einige von den Angeklagten für unschuldig erklärt. Sonst könnte man sie alle einfach aufhängen.‘“
Einfach anstarren
Die ganze Aufmerksamkeit des Publikums galt den Angeklagten, und vor allem Goering.
„Goering gab sich selbstsicher, ich würde sogar sagen, arrogant“, erinnerte sich einmal der Karikaturist Boris Jefimow, dessen Bilder fast in jedem Bericht der Zeitung „Iswestija“ über die Nürnberger Prozesse zu sehen waren.
„In seinem dicken roten Gesicht stand quasi geschrieben: ‚Guckt vor allem auf mich! Ich bin der Hauptdarsteller dieses Prozesses!‘ Und das stimmte auch: In Deutschland war er immer die Nummer zwei nach Hitler, und hier war er ja die Nummer eins. Und das schien er fast zu genießen. Er wurde sogar von einem speziellen amerikanischen Polizisten mit einem Knüppel bewacht, der im Unterschied zu allen anderen Polizisten, die hinter den Angeklagten standen, mit dem Rücken zum Saal stand und auf ihn aufpasste. Und natürlich war das ein Vergnügen, einfach zur Barriere zu gehen, wie in einem Terrarium oder Tierpark, wenn man eine Pythonschlange oder einen Tiger betrachtet, einfach ihn anzustarren, indem man zum Greifen nah stand. Zunächst tat er so, als würde er darauf gar nicht achten, dann schielte quer ins Publikum, und schließlich guckte er empört weg, und in seinem Gesicht stand geschrieben: ‚Wenn ich dich nur vor einem Jahr erwischt hätte, dann hätte ich es dir gezeigt!‘“
In Nürnberg gab es einen Mann, der den Angeklagten so nahetreten konnte bzw. durfte, wie er nur wollte – und ihnen alle möglichen Fragen stellen. Das war der amerikanische Gerichtspsychologe Gustav Gilbert.
„Schon in den ersten Tagen der Prozesse bemerkte ich, dass mit den Angeklagten ein junger US-Offizier mit einer Binde auf dem Arm sprach, auf dem ISO (Internal security office – Autor) geschrieben stand“, schrieb Arkadi Poltorak.
„In Nürnberg waren Reporter aus aller Welt auf diesen Mann neidisch. Er hatte die Möglichkeit, unbeschränkt und jederzeit mit den Angeklagten zu sprechen, ob im Sitzungssaal oder in ihren Gefängniszellen, ob in der Öffentlichkeit oder unter vier Augen. (…) Er wusste vieles, was andere nicht wussten. Die Reporter jagten ihn regelrecht und hofften, von ihm sensationelle Informationen zu hören.“
Gilbert wahrte die Geheimnisse so lange, wie es das Gesetz verlangte, und Jahre später veröffentlichte er sein Tagebuch. So beschrieb er die erste offene Sitzung im Rahmen der Prozesse: „Als die Angeklagten verstanden, dass die Eröffnung der Gerichtsverhandlungen nur das Verlesen der Anklage vorsah, mit der sie schon bekannt waren, ließ die Spannung auf der Anklagebank wesentlich nach. Sie saßen anteil- und regungslos, manche von ihnen setzten die Kopfhörer auf und hörten, wie die Anklage in verschiedenen Sprachen klang; manche tauschten Blicke aus und guckten auf die anwesenden Richter, Ankläger, Reporter und Zuschauer.“
Goering: „Man verbarg das vor uns!“
Der erste Tag machte den Angeklagten sogar etwas Spaß. „Pause“, fuhr Gilbert fort. „Beim ersten Treffen gaben die Angeklagten ihren Gefühlen freien Lauf – sie schüttelten einander die Hände, sprachen zum ersten Mal seit ihrer Festnahme miteinander. (…) Als der Saal wieder leer war, blieben sie dort und sprachen erleichtert über alle möglichen Themen: von der Politik bis zu natürlichen Verrichtungen. Ribbentrop versuchte einmal, Heß anzusprechen, doch daraus wurde nichts, denn Heß konnte sich an keinen einzigen der aufgezählten Anklagepunkte erinnern.“
Der zynische Schirach scherzte beim Mittagessen: „An dem Tag, wenn wir aufgehängt werden, bekommt wohl jeder von uns ein Steak.“
Streicher wurde auf einmal nostalgisch: „Wissen Sie, Herr Doktor, (…) ich wurde bereits in diesem Saal verurteilt. – Wirklich? Wie oft wurden Sie denn vor Gericht gestellt? – Oh, zwölf oder 13 Mal. Also habe ich schon viele Gerichtsprozesse hinter mir.“ Hier müssen wir darauf hinweisen, dass der größte Antisemit des Reiches mindestens einmal für Korruption verurteilt worden war.
Ribbentrop sagte: „Ihr werdet es schon sehen: Jahre später werden Juristen diesen Prozess verurteilen.“ Am Nachmittag, als die Ankläger der vier Länder der Reihe nach von den Nazis begangene Verbrechen beschrieben, insbesondere grausame Morde, Vertreibung zu Zwangsarbeiten, Vernichtung der Menschen aus rassistischen Gründen, wurde Ribbentrop schlecht, und er wurde aus dem Saal geführt.
Hess blieb irgendwo in seiner Welt. Er sagte leise zu Goering: „Sie werden schon sehen, dieser Alptraum geht bald zu Ende, und einen Monat später werden Sie wieder der deutsche Führer.“
Der „Angeklagte Nummer eins“ sprach seinerseits wie eine Gestalt eines sowjetischen Kinofilms: „Genossen Richter, ich bin zwar schuldig, aber… ich bin unschuldig.“ Gilbert zitierte Goering nach der Sitzung: „Für diese Verbrechen ist das ganze deutsche Volk verdammt. Aber all diese grausamen Verbrechen waren dermaßen unglaublich (sogar die wenigen Dinge, von denen wir erfuhren), dass es kinderleicht war, uns zu überzeugen, dass solche Behauptungen nichts als propagandistische Tricks waren. Himmler hatte immer eine ganze Auswahl an Psychopaten, die zu so etwas bereit waren. Aber vor uns wurden sie verheimlicht.“
Die ganze Schuld den zwei toten Teufeln – Himmler und Hitler – zu geben, wurde für die Angeklagten zu einer Art Tradition.
Nur Frank blieb von den ersten Tagen an der Taktik der aktiven Reue treu. „Wenn ich nur daran denke, dass wir wie Könige lebten und an dieses Ungeheuer glaubten!“, sagte er bei den Gesprächen mit dem Psychologen. „Und glauben Sie niemandem von ihnen, wenn sie Ihnen erzählen, sie hätten davon nichts gewusst. Alle wussten, dass dieses System alles andere als in Ordnung war, auch wenn sie möglicherweise keine Details kannten. Sie wollten sie gar nicht kennen! Viel zu groß war die Versuchung, dieses System auszubeuten, ihre Familien schick leben zu lassen und daran zu glauben, alles wäre in Ordnung! Sie behandeln uns noch christlich“, fügte er hinzu und zeigte auf das Essen auf dem Tisch, das er kein einziges Mal angerührt hatte. „Ihre Gefangenen und auch unsere Mitbürger verhungerten in unseren Lagern. Möge Gott unseren Seelen gnädig sein!“
Außer auf Gottes Gnade hatten Frank und seine Komplizen auf nichts mehr zu hoffen. Die Nürnberger Themis hatte ihr Schwert bereits erhoben.
Julia Ignatjewa
Literaturquellen:
- A. G. Swjaginzew, „Nürnberger Prozesse. Ohne Überschrift ‚Streng vertraulich‘“.
- A. I. Poltorak, „Der Nürnberger Epilog“.
- Richard Sonnenfeldt, „Witness to Nuremberg“.
- Gustav Gilbert, „Nuremberg Diary“.