Ein halbes Jahr nach Hitlers Tod hofften viele, ihn doch auf der Anklagebank zu sehen

Auf den Konferenzen in London und Potsdam wurde die endgültige Liste der Angeklagten des Nürnberger Tribunals vereinbart. Die sowjetische Seite konnte ihre Partner überreden, die Liste spätestens am 1. September zu veröffentlichen. Das war die persönliche Forderung Josef Stalins. Er hatte nämlich Angst, dass die Amerikaner und Briten versuchen könnten, die größten Naziführer zu retten und für sie weniger wichtige Personen zu opfern.

Am 2. Mai, zwei Tage nach Hitlers Selbstmord, erschien die US-amerikanische Militärzeitung „Stars and Stripes“ mit der Schlagzeile „Hitler ist tot!“ Sowjetische Militärs konnten seine Leiche aber erst am 5. Mai entdecken. Allerdings wussten einige Personen aus dem Umfeld des Führers praktisch sofort über seinen Selbstmord. Jedenfalls Goebbels, den Hitler wenige Stunden zuvor zum Reichskanzler ernannt hatte. Er sprach auch von seiner Absicht, Hitler zu folgen. Das hat er am 1. Mai auch getan, als der kinderreiche Vater sich selbst und seine ganze Familie vergiftete.

Diese Welle der Selbstmorde unter den Naziführern verdarb den Alliierten ihre ganzen Pläne, denn sie wollten sie vor Gericht stellen und im Sinne des Urteils hinrichten. Doch am 23. Mai erfolgte der nächste „Verlust“: Der von den Briten verhaftete Himmler vergiftete sich. Er war für Holocaust und zahlreiche Gräueltaten der Gestapo verantwortlich.

Deshalb standen auf der am 8. August in London vereinbarten Liste der Angeklagten weder Hitler noch Goebbels, noch Himmler. Dass sie alle gestorben waren, galt als festgestellt. Dennoch gab es etliche Gerüchte, Hitler wäre es doch gelungen, zu flüchten oder sich dank der Mitwirkung der Geheimdienste der Alliierten zu verstecken. Selbst in offiziellen Dokumenten waren solche Vermutungen erwähnt. Im Entwurf der britischen Anklageschrift für das Nürnberger Tribunal, der im September erfasst wurde, gab es den Angeklagten Adolf Hitler.

Kein Wunder also, dass die Öffentlichkeit am Anfang der Gerichtsverhandlungen immer noch ihre Zweifel hatte, ob Hitler auf der Anklagebank erscheinen würde oder nicht.

Josef Gofman, der Leibwächter des sowjetischen Hauptanklägers Roman Rudenko, erinnerte sich: „Ich wagte, Herrn Rudenko zu fragen: ‚Man sagt, Hitler wäre am Leben und hätte sich irgendwo im Tibet versteckt?‘ Die Antwort kann ich nicht Wort für Wort wiedergeben, aber im Allgemeinen war sie so:

‚Die sowjetische Regierung hat unwiderlegbare Beweise, dass sich Hitler vergiftet hat. Seine Leiche wurde identifiziert. Die Gerüchte, Hitler wäre am Leben, sind nichts als politische Spekulationen.‘

Ich muss betonen, dass Rudenko nicht gesagt hat, Hitler hätte ‚Selbstmord begangen‘, sondern er sagte, Hitler hätte ‚sich vergiftet‘. Und er wusste schon, wie die Sache war.“

Das Misstrauen war auch teilweise durch die merkwürdige Politik der Amerikaner gegenüber den verhafteten Verbrechern bedingt, unter anderem gegenüber Göring. Am 9. Mai vormittag erhielten die Kommandeure der 36. Division der 7. Armee der US-Streitkräfte eine Nachricht vom deutschen Oberst von Brauchitsch. Dieser teilte mit, dass sein Vorgesetzter, Reichsmarschall und Oberbefehlshaber der Luftwaffe des Dritten Reiches, Hermann Wilhelm Göring, bereit wäre, aufzugeben. Dieses Angebot wurde sofort akzeptiert.

Göring wurde ins geheime Lager Ashcan in Luxemburg befördert. Dieses ließ sich keineswegs mit Konzentrationslagern der Nazis vergleichen – das war eher ein Dorf. Göring wurde eine komfortable Villa zur Verfügung gestellt, wohin bald auf seine Bitte auch seine Familie samt Dienern gebracht wurde, und zudem auch seine persönlichen Sachen (insgesamt 17 Lastwagen). Die US-Militärs waren sogar so großzügig, dass sie den Patienten von seiner Drogensucht befreit haben. Und der Brigadegeneral Robert Stack scheute sich nicht, Göring die Hand zu schütteln. Dabei war Göring gar nicht der einzige „große Fisch“ in Ashcan: Dort wurden insgesamt 86 hochrangige Vertreter des Dritten Reiches untergebracht.

Die Nazis zogen es vor, sich ausgerechnet den Amerikanern zu ergeben. Diese ließen ihre Häftlinge im großen Stil leben, die unter anderem sich in ihrer Uniform mit Orden und Medaillen fotografieren lassen sowie Interviews geben durften. Die Informationen über die enorme Loyalität gegenüber den VIPs des Dritten Reiches gelangten an die Medien, und es brach ein Skandal aus. Die „New York Times“ schrieb beispielsweise am 16. August:

„Der enorm höfliche Empfang Görings durch die Amerikaner, den sie gefasst hatten, hat einen unangenehmen Eindruck hinterlassen… Es gibt Personen, die sich offenbar um die Rehabilitierung der deutschen Generäle und Admiräle bemühen, die alle Abkommen verletzt hatten, mit denen die zivilisierte Gesellschaft die Kriegsschrecken zu beschränken versuchte.“

Im Repräsentantenhaus des US-Kongresses trat Daniel Flood auf, der sich darüber empörte, dass Göring wie ein Ehrengefangener empfangen worden war. Das Kongressmitglied verlangte, diesen „im Namen der Toten und Verhungerten“ vor das Kriegsgericht zu stellen. 

Das Publikum konnte Hitler und die anderen hochrangigen Selbstmörder im Saal Nr. 600 des Nürnberger Justizpalastes nicht sehen, aber es verlor deswegen kaum etwas. Auf die Zuschauer wartete etwas mehr als nur ein Gerichtsprozess gegen internationale Verbrecher. Ideologie als kriminelle Absicht. Der Staat als Instrument des Verbrechens. Seine Diener als kriminelle Gemeinschaft.

Literaturquellen:

  • N.S. Lebedewa, „Vorbereitung der Nürnberger Prozesse“.
  • A.G. Swjaginzew, „Nürnberger Prozesse. Ohne Überschrift ‚Streng vertraulich‘“.
  • A.I. Poltorak, „Das Nürnberger Epilog“.
  • O.A. Trojanowski, „Durch die Jahre und Entfernungen“.
  • N.S. Lebedewa, „Vorbereitung der Nürnberger Prozesse“.
  • I.D. Gofman, „Nürnberg warnt“.