Diplomatisches Geschacher um Umgang mit Nazis

Herbst 1942, der schrecklichste Krieg des 20. Jahrhundert ist im vollen Gange.  Die Weltanführer diskutierten zu diesem Zeitpunkt schon darüber, was mit der Nazi-Führungsriege nach der Niederlage Deutschlands geschehen soll. Aus heutiger Sicht scheinen ihre Positionen paradox zu sein. Winston Churchill, der Premier Großbritanniens – der Wiege des Parlamentarismus – rief bis März 1945 zur Erschießung der Anführer des Dritten Reichs ohne Gerichtsverhandlung auf. US-Präsident Franklin Roosevelt zögerte lange und unterstützte anschließend nur ungerne die Idee eines Militärgerichtshofs. Das sowjetische Staatsoberhaupt Joseph Stalin mit seinem äußerst negativen Ruf bezüglich der Einhaltung der Legitimität, stand von Anfang auf einer absolut legalistischen Position – die Verbrecher sollen vor einem offenen internationalen Gericht erscheinen. Stalin war nicht allein mit seiner Haltung – dieser Meinung waren auch Staatschefs einiger europäischer Staaten, die damals noch von den Deutschen besetzt waren. Der Widerstand einer Reihe von Gegnern des internationalen Militärgerichtshofs musste überwunden werden.   

„Macht es wie die Russen!“

Seit 1942, ohne auf den Beschluss der Verbündeten zu warten, begann die Sowjetunion mit dem Sammeln von Beweisen für Verbrechen in strikter Übereinstimmung mit strafprozessualen Normen. Am 2. November wurde ein Sondergremium zur Ermittlung der Taten der Besatzer – eine außerordentliche Staatskommission - eingerichtet. Die Mitglieder der Kommission exhumierten Massengräber, befragten Zeugen, sammelten deutsche Unterlagen.

Im Herbst 1942 initiierte Großbritannien die Schaffung eines ähnlichen zwischenstaatlichen Organs – die United Nations War Crimes Commission (UNWCC). Doch vom Treffen des Beschlusses bis zur Einrichtung der Kommission verging ein Jahr – die Kommission wurde erst am 20. Oktober 1943 auf Druck einiger Länder und besonders der Benelux-Länder gebildet. Der Kommission traten Rechtsanwälte und Politiker aus 17 Staaten bei. Ohne die Sowjetunion.

Die beiden Kommissionen arbeiteten parallel, doch die Ergebnisse ihrer Arbeit werden erst zum Herbst 1945 vereinigt – in den Klageschriften bei den Nürnberger Prozessen. Die Ermittler der europäischen Länder wie ihre sowjetischen Kollegen sammelten Beweise für die Nazi-Verbrechen – im Unterschied von der Außerordentlichen Staatskommission nicht für das Gericht, sondern um sie der Kommission zu übergeben. Sie beschloss schon, ob die beschriebenen Taten Verbrechen sind und die jeweilige Person ein Verbrecher ist. Anschließend sollten Materialien nicht ins Gericht, sondern in ein „neues juridisches Organ“ übergeben werden.

„Die United Nations War Crimes Commission tagt bereits seit einigen Jahren, doch anscheinend ohne Ergebnisse. Ihr Mechanismus stockte in einer Masse sinnloser rechtlicher Idolatrie“, sagte das US-Kongressmitglied Emmanuel Keller empört.

Als Belgiens Außenminister Paul-Henri Spaak über das Charkower Gericht von den Faschisten im Dezember erfuhr, sagte er:

„Kriegsverbrecher müssen gerichtet und nach dem Schema bestraft werden, wie das die Russen machten!“.

Keller ahnte, warum die Kommission der Vereinten Nationen nicht besonders effektiv war:

„Ich vermute, dass das US-Außenministerium die Position des britischen Außenministeriums teilt, das offensichtlich will, dass die Kommission für Kriegsverbrechen so wenig wie möglich Handlungen unternimmt bzw. gar keine Handlungen unternimmt. (…) Damit hatten die Russen ernsthafte Gründe, sich kategorisch zu weigern, sich der Kommission anzuschließen und ihre Beschlüsse zu ignorieren“.

Im Januar 1945 legte das US-Außenministerium seinem Vertreter in der Kommission, Herbert Pell, nahe, den Rücktritt zu ersuchen. Der Grund – seine Arbeit ist für die US-Staatskasse zu kostspielig – 30.000 Dollar im Jahr. Pell sagte, er sei bereit, für einen Dollar zu arbeiten, allerdings wurde er zurückgerufen. Erst nach Straßenprotesten musste die US-Regierung seinen Vertreter in die Kommission zurückbringen.

Zu Beginn der Nürnberger Prozesse erstellte die UNWCC eine Liste aus 7000 Kriegsverbrechern. Es wurde der Begriff „Kriegsverbrechen“ präzisiert, indem er außerhalb der Den Haager und Genfer Übereinkommen, die Zivilisten und Kriegsgefangenen schützen, auf „Vorbereitung und Entfachung eines aggressiven Kriegs“ erweitert wurde.

„Wir müssen mit dem deutschen Volk hart umgehen“

Brainstorming zum Thema Bestrafung der Nazi-Verbrecher erfolgte in Washington. Im Sommer 1942 schlug der Kamerad und Mitstreiter von Franklin Roosevelt, Harry Hopkings dem Präsidenten vor, eine inoffizielle internationale Kommission aus Prominenten zu schaffen. Hopkins schlug sogar einige Personen vor. Von der Sowjetunion – Schriftsteller und „roter Graf“ Alexej Tolstoj, von Spanien – Journalist Julio Alvarez del Vayo, von Italien – Antifaschist und Politiker Carlo Sforza u.s.w. Die Idee war zwar schön, jedoch unpraktisch.

Ein weiterer Vertrauter Roosevelts, US-Außenminister Cordell Hull, sagte im Mai 1943 kategorisch: „Alle müssen gehängt werden“. Das war eine ziemlich verbreitete Position. Nach Angaben einer Umfrage 1945 waren 67 Prozent der Amerikaner für eine schnelle außergerichtliche Abrechnung mit Nazis.

Einige Zeit teilte US-Präsident diese Stimmungen.

„Sowohl bei uns als auch in England gibt es zwei Denkschulen – jene, die Altruisten gegenüber den Deutschen sein wollten, und hofften, sie mit Liebe und Gutherzigkeit wieder zu Christen zu machen, und jene, die sich an einen viel härteren Kurs hielten“, schrieb Roosevelt an die Königin der Niederlande Wilhelmina. „Ich gehöre entschieden der letzteren Schule an“.

„Wir müssen wirklich hart mit Deutschland umgehen, ich meine da das ganze deutsche Volk und nicht nur die Nazis. Die Deutschen sollen entweder kastriert oder so behandelt werden, damit sie nicht an die Möglichkeit denken, dass unter ihnen Menschen auftauchen, die die alten Zeiten zurückbringen wollen und wieder das machen, was sie in der Vergangenheit alles getan haben“, sagte Roosevelt im Sommer 1944.

Finanzminister Henry Morgenthau, der in die Geschichte mit seinem Plan über völlige Entindustrialisierung und administrative Gliederung Deutschlands einging, schlug vor, alle Verbrecher auf der Liste der Kommission der Vereinten Nationen zu fangen und ohne Gericht erschießen.

Allerdings hielt sich das US-Militär am stärksten an rechtliches Vorgehen (eine der wenigen Ausnahme war der General und künftige Präsident Dwight Eisenhower. Im Juli 1944 schlug er vor, die gesamte Nazi-Spitze „beim Fluchtversuch“ zu erschießen). US-Kriegsminister Henry Stimson nannte den Plan Morgenthaus „ein Verbrechen gegen die Zivilisation“. Er stellte eine Sondergruppe von Juristen und Analysten zusammen. Nach einem Monat stellte die Gruppe dem Minister Empfehlungen vor – lokale Tribunale für grenzübergreifende Verbrecher einzurichten. Ein Mitglied dieser Gruppe, Oberst Murray Bernays, arbeitete an der Klage wegen Verschwörung mit Aufstellung einer totalitären Macht und Vorbereitung des Kriegs. Anschließend wird dieses rechtliche Novum zur Grundlage der Klagen in Nürnberg.

Minister Stimson berichtete Roosevelt von den Erfolgen seines Teams. Doch der Präsident zögerte noch. Er vertraute mehr seinem Berater, Richter Samuel Rosenman. Er zog Staatsanwälte zur Beratung heran. Im März 1945 haben die Anhänger des internationalen Militärgerichtshofs es geschafft, Franklin Roosevelt zu überzeugen. Er unterstützte die Idee eines Gerichtsprozesses, der jedoch schnell und geschlossen sein soll – ohne rechtliche Komplikationen und Presse.

Jetzt musste nur noch der britische Premier Winston Churchill davon überzeugen werden.

„Hinrichtung ohne Gericht bevorzugt“

So viel Stalin an die Idee eines internationalen Gerichtsprozesses hielt, ebenso viel war Churchill dagegen. Sehr lange unterstützte er die Idee wie Außenminister Hull. Der Unterschied war – der Amerikaner schlug vor, alle zu erhängen, der Brite – alle zu erschießen. Seine Meinung stimmte mit den öffentlichen Stimmungen überein. Laut einem Politiker waren die Briten bereit, nur zwei Dinge zu besprechen – wo der Galgen aufgestellt werden soll und wie lang das Seil sein soll. 

Im Oktober 1944 schrieb Churchill an Stalin:

„Meinen Sie nicht, dass man eine Liste mit 50 bzw. 100 Personen erstellt werden soll, deren Verantwortung für die Leitung bzw. Genehmigung aller Verbrechen und Schrecken selbst durch den Fakt  ihrer hohen Posten bestimmt war? (…) Neue Namen könnten zu jedem Zeitpunkt hinzugefügt werden.“.

Churchill schlug vor, eine Liste in den Zeitungen zu veröffentlichen. Ein Kommandeur mindestens im Rang eines Generals, der eine Person aus der Liste fasst, wird einen Befehl über die unverzügliche Erschießung erteilen. Das Telegramm wurde nicht an Adressat geschickt, weil Churchill und der Außenminister Anthony Eden im selben Monat nach Moskau zum Treffen mit Josef Stalin und Wjatscheslaw Molotow kamen. Der Besuch diente zwei Zielen – die Pläne der Zergliederung Deutschlands, die auf einer Konferenz in Quebec in Abwesenheit der Sowjetunion gebilligt wurden, und auch die Frage nach den Kriegsverbrecher zu besprechen.

Die Mission scheiterte in beiden Punkten. Nach der Rückkehr nach London schrieb Churchill an Roosevelt: „Onkel Joe nahm eine äußerst respektable Position ein – es soll keine Hinrichtungen ohne Gericht geben, sonst wird in der ganzen Welt gesagt, dass wir uns fürchten, sie zu richten“.

Dann erinnerten die Briten Moskau an den „Präzedenzfall von Napoleon“. Der französische Herrscher wurde als Strafe für seine Kriegslust auf die Insel St.Helena nicht per Gerichtsbeschluss, sondern auf Willen der Siegermächte verbannt. Stalin antwortete darauf:

„Es muss einen entsprechenden Gerichtsbeschluss geben. Sonst werden die Menschen sagen, dass Churchill, Roosevelt und Stalin einfach Rache an ihren politischen Feinden geübt haben“.

Auf der Konferenz in Jalta im Februar 1945 schafften die Teilnehmer es, zumindest eine Liste der Hauptverbrechen allgemein abzustimmen. Doch die Frage nach dem Militärgerichtshof wurde nicht geregelt. Der britische Premier sagte dazu: „Alle aus der Liste sollen einfach gefasst und erschossen werden“.

Dann suchten die Amerikaner nach Umwegen, um den britischen Premier zu beeinflussen. Roosevelt beauftragte den Richter Rosenman, der in diesem Moment in Europa weilte, die Frage vom Gericht gegen die Nazis mit dem Londoner Establishment zu besprechen. Die Ergebnisse der Bemühungen des US-Präsidentenberaters kann man in seinem Brief an den britischen Vizeaußenminister Alexander Cadogan finden. „Die Regierung Seiner Majestät hat die Argumente aufmerksam besprochen, die für diese oder jene Form des vorläufigen Gerichtsprozesses ausgesprochen worden waren“, so der Diplomat. „Aber die Regierung Seiner Majestät ist auch über die Schwierigkeiten und Gefahren sehr besorgt, die mit solchem Kurs verbunden sind, und ist der Auffassung, dass Hinrichtung ohne Gericht eher bevorzugt wäre.“

Erwähnenswert ist, dass der Brief im April 1945 geschrieben wurde. Bis zur Gründung des Nürnberger Tribunals blieben nur noch vier Monate.

Dennoch musste Churchill „aufgeben“. Der US-Kriegsminister Henry Stimson schrieb in seinem Tagebuch, dass nur die Entschlossenheit der Sowjetunion und Frankreichs, auf die sich die Vereinigten Staaten stützten, als sie Großbritannien zur Zustimmung der Gründung des Internationalen Tribunals überredeten, die Regierung in London gezwungen habe, nachzugeben.

Diskussionen gab es nicht nur zwischen den Anhängern des Gerichtsprozesses und der Hinrichtung der Nazis ohne Gericht. Viele westliche Politiker und Juristen neigten zur so genannten „Strategie des Erbarmens“ und schlugen vor, die Verbrecher den Deutschen zu überlassen, damit diese „keine Feindseligkeit zu den Alliierten empfinden“. In seinem Artikel „Erbarmen“, der Ende 1944 in der Zeitschrift „Krieg und die Arbeiterklasse“ veröffentlicht wurde, schrieb der russische Publizist Ilja Erenburg:

„Wie kann man die Herablassung der Menschen in einigen am Krieg beteiligten Ländern zu den Schuldigen an schrecklichen Verbrechen erklären? (…) Die Menschen, die das angeblich verleumdete Deutschland verteidigen, die sich schon um die Amnestierung der Henker kümmern, sind keine Menschenfreunde – das sind Übellieber. Sie haben Angst vor dem Sieg der Gerechtigkeit, denn für sie, die Schneeweißen, ist es günstiger, mit Faschisten und Halbfaschisten zu leben; sie haben Angst vor den Völkern, die plötzlich wieder die Realität sehen können, und vor dem aufgewachten Gewissen.“

Internationale Strafprozessordnung wurde binnen von sieben Wochen erfasst

Am 13. April, einen Tag nach dem Tod Franklin Roosevelts, trat das Mitglied des Obersten Gerichtshofs der USA, Robert Jackson, mit einem Bericht auf, in dem die Notwendigkeit des Tribunals begründet wurde. Der neue Präsident Harry Truman war beeindruckt und schlug Jacksons Kandidatur für den Hauptankläger im Namen der USA vor. Im Unterschied zu seinem Vorgänger war Truman ein konsequenter Befürworter des Internationalen Militärgerichtshofs gegen die Kriegsverbrecher. Seit diesem Moment war die „Lokomotive“ der Nürnberger Prozesse nicht mehr aufzuhalten.

Jetzt mussten die Instrumente des künftigen Prozesses entwickelt werden. Die britische Regierung lud Vertreter aller Mitgliedsländer der Anti-Hitler-Koalition zu einer Konferenz ein, die voll und ganz dem Tribunal gewidmet war. Am 26. Juni kamen nach London Dutzende von Juristen, Wissenschaftlern und Diplomaten. Sie hatten die Aufgabe, de facto einen neuen Zweig der Gesetzgebung zu schaffen: das internationale Strafrecht.

„Im Namen der Sowjetunion beteiligten sich an diesen Verhandlungen das Mitglied des Militärkollegiums des Obersten Gerichtshofs, Generalmajor der Justiz, Iona Nikitschenko, der später zum Richter des Nürnberger Tribunals im Namen der Sowjetunion ernannt wurde, und der Professor für internationales Strafrecht, Aron Trainin“, erinnerte sich der Diplomat Oleg Trojanowski. „Ich war ihr einziger Helfer. Also gehörte es zu meinen Pflichten, Dolmetscher, Sekretär, Reiseführer und auch Hausmeister zu sein.“ Der Richter Iona Nikitschenko vergaß nicht den wendigen Attaché. „Nikitschenko gab sich viel Mühe, um das sowjetische Außenministerium dazu zu bewegen, Oleg Trojanowski nach Nürnberg zu entsenden“, schrieb seinerseits der Leiter des Sekretariats der sowjetischen Delegation in Nürnberg, Arkadi Poltorak. „Hier saß Oleg am Richtertisch und sorgte für den Kontakt der sowjetischen Richter mit den Richtern der anderen Siegermächte. Er nahm auch an allen geschlossenen Gerichtsverhandlungen teil.“

In London lief die Arbeit an Dokumenten auf Hochtouren, die die juristische Basis des Prozesses bilden sollten: am Regierungsabkommen der vier Siegermächte über Gründung des Internationalen Kriegstribunals, der Satzung und des Regelwerks des Tribunals. Insgesamt waren das mehr als 100 Artikel. Diese Aufgabe wurde im Laufe von sieben Wochen, bis zum 8. August, erfüllt. Dieser Tag gilt als Tag der Gründung des Internationalen Militärgerichtshofs.

Inzwischen fand am 17. Juli in Potsdam das letzte Treffen der Spitzenpolitiker des „Großen Trios“ statt. Roosevelt löste sein Nachfolger auf dem Präsidentenposten Harry Truman ab. Winston Churchill verlor weniger als zehn Tage später den Posten des britischen Premierministers, und seinen Platz im Schloss Cecilienhof nahm Clement Attlee ein. Die Zweckmäßigkeit der Gründung des Militärgerichtshofs stand zu dem Zeitpunkt schon außer Frage.