Jeder, der die Nürnberger Prozesse vor Ort mitverfolgte, stellte sich wohl eine Frage: Sind die Angeklagten psychisch gesund? Vielleicht sind sie alle Wahnsinnige, Psychopathen, unzurechnungsfähige Sadisten? Am Internationalen Gerichtshofs gab es Mitarbeiter, die das professionell überprüfen mussten: Psychiater und Psychologen. Sie analysierten tagtäglich paradoxe psychologische Merkmale der Nazis. Allerdings waren die Schlussfolgerungen nach vielen Tests und Expertisen selbst für Experten überraschend.

Frage ohne Antwort

Am 1. Januar 1958 wollte Familie Kelly in ihrem Haus in Berkeley in Kalifornien gemeinsam zu Abend essen und den Rose Bowl im Fernsehen anschauen. Dr. Douglas Kelly, bekannter US-Psychiater, half seiner Frau bei der Zubereitung des Dinners. Plötzlich kam es zu einem Streit, Douglas verbrannte sich in Wut an etwas und ging in sein Arbeitszimmer. Dann lief er sofort auf die Treppe und schrie: „Ich kann nicht mehr, das steht außerhalb meiner Kraft!“. Dann sagte er, dass er in 30 Sekunden tot sein wird. Sein Vater, seine Ehefrau und seine drei Kinder baten ihn, zur Besinnung zu kommen. Kelly nahm etwas und ging ins Badezimmer. Kurz danach wurde er auf dem Boden nahezu tot, mit Schaum vor dem Mund gefunden.

Diese Geschichte kann mysteriös erscheinen, wenn man nicht weiß, dass Douglas Kelly Gerichtspsychiater bei den Nürnberger Prozessen war. Er war in gewisser Weise von Hermann Göring besessen. Ihn hatte es nicht losgelassen, dass Göring Selbstmord beging, indem er Zyankali nahm. Ein Fläschchen mit einer Zyanid-Kapseln in seiner Hand wurde nach dem Tod gefunden.

Der erfahrene Experte Douglas Kelly wurde paradoxerweise zum Opfer des Nazis Nummer Zwei zwölf Jahre nach dem Krieg. Die Arbeit für das Militärgerichtshof von Nürnberg wurde für ihn eine traumatisierende Prüfung mit einem vollwertigen posttraumatischen Syndrom. Nach den Nürnbergern Prozessen arbeitete Kelly nicht mehr in der Psychiatrie, weil er enttäuscht über ihre Sinnlosigkeit war – er hatte keine Instrumente, mit denen man feststellen könnte, wie die Nazis ihre Übeltaten verüben und gleichzeitig psychisch absolut gesund bleiben konnten. Er wechselte zur Kriminalistik, weil er hoffte, dort eine Antwort auf diese Frage zu finden.

Alle suchten nach einer Antwort auf diese Frage bei den Nürnberger Prozessen. Jeder, der damals die ganze schockierende Wahrheit über den Nazismus erfuhr – von Richter bis zur Stenografin, vom Journalisten bis zum Wachmann – konnte nicht verstehen, was in den Köpfen der zwei Dutzend Menschen, die auf der Anklagebank saßen, vor sich ging. Waren sie überhaupt normal? Vielleicht sind sie alle einfach wahnsinnig?

Gerichtspsychiater und Psychologen mussten das alles feststellen: das Niveau der Zurechenbarkeit der Angeklagten, ihr Intellekt, ihre Fähigkeit zur Empathie, ihre emotionale und soziale Intelligenz. Drei Personen gingen in die Geschichte ein – Gustave Gilbert, Leon Goldensohn, Douglas Kelly - und ihre Bücher. Das „Nürnberger Tagebuch“ von Gustave Gilbert, „22 Cells in Nuremberg. A Psychiatrist Examines the Nazi Criminals“ von Douglas Kelly, „Die Nürnberger Interviews“ von Leon und Eli Goldensohn.

Douglas Kelly. Macht des Dunklen

Douglas McGlashan Kelley wurde 1912 geboren,  studierte an der University of California, Berkeley und promovierte am Columbia University College of Physicians and Surgeons der Columbia University. 1942 wurde er als Militärpsychiater eingezogen, 1945 stand er auf dem Höhepunkt seiner Karriere, als er zum Chef-Psychiater des Internationalen Gerichtshofs wurde. Er war für Expertisen und die Vorbereitung eines Befundes – ob die Handlungen der Angeklagten die Folge psychischer Störungen oder Merkmal gewisser Besonderheiten und pathologischer Neigungen waren - zuständig.

Kelly erstellte ausführliche Beschreibung jedes Häftlings, fixierte detailliert ihren Zustand – von physischen Parametern wie Herzschlagfrequenz und Temperatur bis Umstimmung, sozialen Besonderheiten und Charaktereigenschaften. Er hatte von Anfang an die Hypothese, von der er überzeugt war, dass er schnell beweisen wird, dass die Angeklagten wahnsinnig sind. Er wollte unbedingt Abweichungen entdecken, die die Monstrositäten der Nazis erklären würden – psychisch gesunde Menschen sei so etwas in systematischer, regelmäßiger und gezielter Form nicht zuzutrauen.

Sein Kollege, Psychologe Gustave Gilbert, war mit Kelly nicht ganz einverstanden.  Er meinte, dass bei Expertisen bewiesen wird, dass die Besonderheiten der Psyche der Angeklagten keine Abweichungen sind. Allerdings blieb nicht viel Zeit für lange Diskussionen – die Arbeit war sehr anstrengend. Jeden Tag stundenlange Gespräche mit den Angeklagten, wobei Berufsethik, absolut bewertungsloses und neutrales Verhalten demonstriert werden sollte.

Hochrangige Nazis genossen die Kommunikation mit Psychiatern und Psychologen. Dadurch bekamen sie das verloren gegangene Gefühl ihrer Bedeutung zurück, sie konnten sich frei äußern, es entstand eine Illusion der Zusammenarbeit mit wohlgesinnten Anhängern. Sie wurden gefragt, ihnen wurde zugehört, ihre Intelligenz und emotionaler Zustand wurden mit zahlreichen interessanten Tests geprüft – sie erledigten gerne alle Aufgaben und nutzten jede Gelegenheit, über sich zu erzählen, Sympathie und Mitgefühl zu bekommen.

Der Sohn von Douglas Kelly bewahrte in zwölf Kisten die Archivdokumente seines Vater auf: Tagebücher, Notizen, Fotos und eine samtbezogene Schmuckkiste mit einem Fläschchen mit dem Sticker „Paracodin Hermann Görings“. In den Kisten gab es Röntgenbilder des Gehirns von Robert Lay und sogar Schädel-Bilder von Hitler – achtdimensional, die anscheinend vom Hitlers persönlichen Arzt Karl Brandt, der damals über die Sinusitis des Führers besorgt war, an Douglas Kelly überreicht wurden.

Kelly analysierte vielleicht tiefer als andere die finsteren Besonderheiten der Psyche seiner „Nürnberger Patienten“. Er interessierte sich für die Persönlichkeit Hitlers, er suchte nach Erklärungen für sein zerstörerisches Phänomen. Er sprach mehrmals mit Karl Brandt, der dieses Geheimnis lüften könnte. Letzten Endes kam Kelly zum Schluss, dass Hitler zwar normal war, doch an Hypochondrie litt, die die schrecklichsten Beschlüsse und Ideen provozierte. So war Hitler einmal davon überzeugt, dass er Magenkrebs hat – er hatte angeblich gerade deshalb den Angriff auf die Sowjetunion beschleunigt – er wollte dies um jeden Preis schaffen.

Die Ansichten, mit denen Kelly sich an die Arbeit machte, brachen zusammen. Er erwartete eindeutige Erscheinungen einer Pathologie, offener Störungen, musste sich aber immer wieder davon überzeugen, dass es einfach Menschen waren, bei denen unglaublich verschiedene Merkmale, Neigungen, Gefühle und beispiellose Unmenschlichkeit kombiniert waren. Das größte Interesse löste bei Kelly das Charisma Görings aus, der sich natürlich durch eine unglaubliche Kraft, Überzeugtheit und Mut kennzeichnete. Man kann wohl sagen, dass der Psychiater von negativem Charme Görings beeinflusst worden war. Kelly wurde zum Postmann – er übergab die Briefe Görings an dessen Frau und Tochter, und dann ihre Briefe an ihn. Natürlich las er sie auch selbst. Er war von der Liebe, Zärtlichkeit und Fürsorge, die in jeder Zeile der Briefe des „Ungeheuers“ zu spüren waren, begeistert.

In der heutigen Zeit hätten Douglas Kelly wohl moderne Techniken der Psychiater und Psychologen geholfen – Supervisionen, die Möglichkeiten, die Eindrücke zu kanalisieren und reflexieren. Doch damals war er allein auf sich gestellt – die Erfahrung Nürnbergs wurde zu einer tickenden Zeitbombe, die Kelly immer mit sich trug. Er meinte, dass er und Göring als zwei Narzissten sich sehr ähneln – Willensstärke, Egozentrismus, ausgeprägter Individualismus. Wenn die Ähnlichkeit so stark ist, heißt das also, dass Douglas selbst auch ein ähnliches Potential des Übeltäters in sich trägt? Der Wechsel von klinischer Psychiatrie zur Kriminalistik half dabei aber nicht, sondern verschärfte  die Zweifel und den inneren Konflikt. Kelly sah nicht mehr eine eindeutige Grenze zwischen sich selbst und den Objekten seiner Analysen. Er sah im Spiegel immer öfter eine Schattenpersönlichkeit, seine dunkle Seite.

Nach seiner Demobilisierung 1946 war er an der Bowman Gray School of Medicine in Winston-Salem, North Carolina beschäftigt. Seit 1949 war Kelley Professor für Psychiatrie und Kriminologie an der University of California in Berkeley, Präsident des Verbandes für Entwicklung der Kriminologie. Er hatte eigene TV-Show namens „The Criminal Man“. Bei ihm entwickelte sich schnell eine Alkoholsucht, er war ein verschlossener, nervöser Mann mit finsteren suizidalen Gedanken. Nach der Rückkehr aus Nürnberg verbot er der Frau und drei Kindern, an ihn jegliche Fragen über die Arbeit bei den Prozessen und seinen Eindrücken zu stellen.

Als Kelly über den Selbstmord Görings erfuhr, konnte er seine Begeisterung nicht verheimlichen. Er sah in der Handlung seines Antihelden keine Feigheit des Verlierers,  sondern einen selbst unter ausweglosen Umständen errungenen Sieg, Kontrolle über eigenes Leben und Tod, nahezu Heldenmut, verzweifelte Tapferkeit eines extremen Individualisten, einen unerwarteten für alle Schritt eines „Großmeisters“. Man wollte ihn als einfachen Verbrecher erhängen? Er gab keine solche Chance – er nahm sich das Leben dann und so, wie er das selbst wollte.

Nach 12 Jahren folgte der 45-jährige Douglas Göring, er beging Selbstmord – mit derselben Methode wie Göring. Was „konnte er nicht mehr“? Vielleicht, begreifen, dass er nicht davon abgesichert ist, den Anderen Übel  zuzufügen? Oder sich der gemischten Gefühle schämen? Oder verstehen, dass die Grenzen schon vollständig verschwommen sind?

Gustave Gilbert: Das wichtigste Tagebuch von Nürnberg

Ein Mitglied der sowjetischen Delegation, der Schriftsteller Arkadi Poltorak, schrieb im „Nürnberger Epilog“: „Schon in den ersten Tagen des Prozesses habe ich bemerkt, dass mit den Angeklagten oft ein junger US-Offizier mit einem ISO-Band spricht. Das war der Gerichtspsychiater, Doktor Gilbert. In Nürnberg beneideten diesen Menschen Journalisten aus der ganzen Welt. Wie sie konnte Gilbert die Ereignisse im Gerichtssaal hören und beobachten. Doch niemand von ihnen hatte wie er die Möglichkeit, ohne jegliche Einschränkungen jederzeit mit den Angeklagten sowohl im Gerichtssaal als auch in den Zellen, sowohl öffentlich als auch unter vier Augen sprechen.

Doktor Gilbert sprach gut Deutsch, es war angeblich seine Muttersprache. Das erweiterte noch mehr seine Möglichkeiten. Er wusste viel, was andere nicht wussten. Journalisten organisierten eine Jagd, wollten etwas Sensationelles für die Presse bekommen. Doch Gilbert konnte den Mund halten. Vor dem Ende des Gerichtsprozesses sagte er mir, dass er die Bearbeitung seiner Tagebücher abschließt und einige Verlagshäuser ihn dabei sehr drängen. Er wollte sehr, dass auch sowjetische Verlagshäuser seine Erinnerungen an die Prozesse herausgeben. Gilbert gab mir die erste Hälfte zur Kenntnisnahme. Das gesamte Buch habe ich später gelesen. Es wurde in den USA und in vielen europäischen Ländern herausgegeben. Das war ein sehr bemerkenswertes Dokument, insbesondere für die Teilnehmer des Prozesses. Gilbert ergänzt das allgemeine Bild der Ereignisse in Nürnberg mit vielen auffälligen Details, die ihm von den Angeklagten in privaten Gesprächen mitgeteilt wurden. Das war eine Art täglicher Kommentar der Angeklagten zu den bedeutenden Ereignissen des Prozesses, der ihr eigenes Verhalten im Gerichtssaal in gewissem Maße erklärte. Gilbert war ein delikater Beobachter“.

Gustave Mark Gilbert  wurde als Kind österreichisch-jüdischer Einwanderer 1911 in New York geboren.  1939 promovierte er an der Columbia University in Psychologie. Noch als Doktorand veröffentlichte er Studien zum Thema Zusammenhang zwischen Gefühlen und Gedächtnis. Er sprach glänzend Deutsch. Im Zweiten Weltkrieg wurde er im Rang eines First Lieutenant als Mitarbeiter des Nachrichtendienstes der US-Armee in Europa eingesetzt, wo er gefangen genommene deutsche Offiziere befragte. Unmittelbar nach Kriegsende wurde er nach Nürnberg versetzt. US-Behörden betrachteten den Gerichtsprozess nicht einfach als Gerichtsverfahren, sondern auch als ein psychologisches Labor, wo die unmenschliche Barbarei in ihrer extremen Form klinisch analysiert und bewiesen wird. Gilbert war ambitioniert – er betrachtete seine Arbeit am Militärgerichtshof nicht einfach als Pflicht, sondern auch als größte Chance im Leben.

Zunächst bestand seine Aufgabe als Gefängnispsychologe darin, dass die Angeklagten in einem maximal ruhigen Zustand bleiben sollten. Doch schon kurze Zeit später konnte er sich nicht mehr damit begnügen: Er beteiligte sich an Studien, lernte bei Douglas Kelly, was er noch nicht wusste. Gilbert beobachtete jeden Tag hochrangige inhaftierte Nazis unter allen möglichen Bedingungen – in Zellen, beim Spaziergang, bei Mahlzeiten, hatte mehrstündige Gespräche mit ihnen, war bei ihren Gesprächen mit Psychiatern und bei den Gerichtssitzungen anwesend, führte zahlreiche Tests durch. Am Abend hielt er ausführlich seine Beobachtungen fest. Aus diesen Dokumenten entstand einer der wichtigsten Dokumente dieser Epoche – „Das Nürnberger Tagebuch“.

Die Angeklagten verhielten sich zu Gilbert eher wie zu einem Freund – sie vertrauten ihm, teilten ihre Gedanken, suchten bei ihm nach Mitgefühl. Bei den Gesprächen mit ihm waren sie wie Kinder, die sich zu Erwachsenen hingezogen fühlen, sie waren nicht zurückhaltend in seiner Gesellschaft. Als Menschen der Freudianismus-Epoche hatten sie das Gefühl der von ihm beschriebenen „Übertragung“ – alle Gefühle übertrugen sie auf den Zuhörer. Dennoch blieb Gilbert trotz der äußeren Milde nicht ansprechbar auf den Charme und die grausamen Erscheinungen der Angeklagten. Vor seinen Augen glitt Ribbentrop in den Zustand animalischer Panik, erlebte Hans Frank eine tiefgehende psychologische Krise, verlor von Papen die Fassung, wagte es Albert Speer, der Wahrheit in die Augen zu blicken. Er sah, wie eine frühere, eng miteinander verbundene  Bande in zwei Dutzend Alleingänger, die einander hassen, zerfiel: innere Konflikte, situationsbedingte Koalitionen, Mini-Boykotte wurden Realität des Nürnberger Gefängnisses. Jeder versuchte, die Aufmerksamkeit Gilberts für sich zu erlangen und hoffte auf seine Unterstützung. Und Gilbert wunderte sich – die Menschen, die noch vor kurzem die Welt beherrschen wollten, weigerten sich nun, die Verantwortung zu übernehmen – außer Göring, der seine früheren Ideale kontinuierlich verteidigte.

Die Arbeit in Nürnberg brachte Gilbert Ruhm. Später war er Associate Professor am Michigan State College, Princeton University, Chef des Psychologischen Instituts an der Long Island University in Brooklyn (New York). 1961 trat er während des Adolf-Eichmann-Prozesses in Israel als Zeuge und Experte auf. Gerade das Phänomen des SS-Henkers Eichmann und seine Rolle am Holocaust bewegte Hannah Arendt zur genialen Formulierung der „Banalität des Bösen“ – eine unglaublich einfache und logische Antwort auf die Frage: „Wie konnten sie das tun?!“. Gilbert schrieb einige Werke, in einem von ihnen analysiert er die Persönlichkeit Görings und in einem anderen das Phänomen Hitler. Doch in den 1960er-Jahren rückte er zunehmend in die zweite Reihe – auch sein Ansehen als wichtigster Experte für die Nazi-Psyche nahm ab. Gilbert wurde vom jungen Psychologen Stanley Milgram überschattet, der ein Programm für Laborexperimente über Holocaust organisierte. Es war nun viel interessanter die Umwandlung eines einfachen Amerikaners in einen virtuellen Nazi zu „spielen“ als die Eingeständnisse realer Nazis zu erforschen. Milgram wurde durch sein Experiment zur Bereitschaft, gegenüber Autoritäten gehorsam zu sein, bekannt. Gilbert verschwand allmählich von der Bühne und starb 1977 im Alter von 65 Jahren. Allerdings werden seine Bücher weiterhin von Historikern hoch geschätzt, sein Name wird regelmäßig in Büchern und Filmen über die Nürnberger Prozesse verewigt.

Leon Goldensohn: jüdischer Beichtvater

Der Psychiater Leon Goldensohn löste Douglas Kelly ab und arbeitete mit den Angeklagten der Nürnberger Prozesse in den verbliebenen sechs Monaten. Hochrangige Nazis nahmen dies wohl als echte Bestrafung war – sie mussten ihre Geheimnisse an einen Juden preisgeben – einem US-amerikanischen Juden aus Newark, der auch gegen die Nazis kämpfte. Während des Krieges war Goldensohn in der 63. Division der US-Armee in Frankreich und Deutschland im Einsatz. Nun bewertete der 34-jährige Psychiater den psychischen Zustand der Antisemiten, die den Tod von Millionen Juden initiierten  - des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Heß, Außenministers  Joachim von Ribbentrop, des „Stürmer“-Herausgebers Julius Streicher, Luftwaffenchefs Hermann Göring etc.  Mit jedem Häftling sowie mit zahlreichen Zeugen sprach Goldensohn ausführlich über den Holocaust – dieses Thema war nicht nur seine Pflicht, es quälte ihn selbst.

Fast alle Gespräche verliefen auf Englisch via Dolmetscher, damit Angeklagte und Zeugen ihre Muttersprache sprechen können. Allerdings entschieden sich Ribbentrop und Großadmiral Karl Dönitz für die englische Sprache, die sie gut beherrschten, bei der Kommunikation mit dem Psychiater.

Die Interviews Leon Goldensohns waren sehr anschaulich. Wirtschaftsminister Walther Funk erzählte ruhig, dass der Anteil der Juden im gesetzgebenden, wirtschaftlichen und kulturellen Leben des Dritten Reichs zu hoch gewesen sei. Allerdings sei er kein Radikaler gewesen und konnte die Massenmorde nicht voraussehen, sagte Funk. Ähnliche Ansichten brachte der deutsche Botschafter in Österreich Franz von Papen zum Ausdruck. Hitler strebte nicht die Ausrottung der Juden an, er sagte einfach am Anfang, dass der jüdische Einfluss zu groß sei, erzählte von Papen. Nach 1918, als der Krieg verloren wurde, gab es einen großen Zustrom von Juden aus dem Osten. Diese Übersättigung sei absolut nicht normal für das Land gewesen! Man dachte, das müsse geändert werden, so von Papen. Alfred Rosenberg, der für die besetzten Gebiete Deutschlands zuständig war, klagte, dass die Juden die deutsche Kultur bespuckten, wobei sie Theater, Verlagshäuser, Handel u.a. kontrollierten. Selbst vor dem Galgen, selbst bei der Dementierung der Verantwortung für die Massenmorde konnten sie die Hauptthese des Antisemitismus nicht abstreiten – die Existenz der „jüdischen Frage“.

Die Behandlung gehörte nicht zu den Aufgaben des Gefängnispsychiaters – nur aufmerksame Beobachtung. Die Ergebnisse – kennzeichnende und wichtige Aussagen der Angeklagten – wurden von Goldensohn eifrig protokolliert, wobei er möglichst objektiv bleiben musste. Das fiel ihm schwer. Er fragte Rudolf Heß – wie war es, den Prozess der Morde an Kindern, die im selben Alter wie seine eigene Kinder waren, die auch beim KZ-Lager wohnten, zu leiten. Heß, der 2,5 Millionen Menschen in die Gaskammer schickte, sagte ruhig, dass er persönlich niemanden tötete, er leitete einfach das Programm zur Ausrottung.

Göring bewies pathetisch, dass der Genozid seinem „Ritter-Kodex“ widerspreche und er Frauen respektiere und Morde an Kinder nicht akzeptiere, und niemand den wahren Göring kenne. Der persönliche Anwalt Hitlers, der „Schlächter von Polen“ Hans Frank sprach von nicht normalen sexuellen Bedürfnissen Hitlers, dessen sadistische Neigungen die fehlende Liebe zur Frau kompensierten. Goldensohn hielt alle diesen Aussagen mit einem unerschütterlichen Gesichtsausdruck fest. Als er Ribbentrop zuhörte, machte er eine Notiz – dieser doppelzüngige Heuchler war nun nicht so sehr vor von Hitlers Charme besessen, sondern unternahm nun Anstrengungen zur Schaffung eines Mythos über dessen unglaubliche Anziehungskraft.

Nach der Rückkehr in die USA  gab Goldensohn einige Vorlesungen über angeklagte Nazis und wollte ein Buch über diese beispiellose Erfahrung schreiben. Doch das schaffte er nicht mehr – er starb 1961 an Herzschlag im Alter von 50 Jahren. Die Familie Goldensohn verhielt sich zu seinem Erbe wie zu „heißen Kartoffeln“, die schnell weiter geworfen werden. Vielleicht war es einfach Angst, als ob das auf Papier Niedergeschriebene  konzentriertes Gift ist. Seine Witwe übergab die Unterlagen von den 1970er- bis 1980er-Jahren ihren Kindern – zwei Söhnen und einer Tochter, die die Notizbücher an ihren Onkel Eli weiterleiteten. Anschließend gaben sie offen zu, dass das Leons Buch ohne die Anstrengungen von Eli Goldensohn hätte nie herausgegeben werden können. Man hatte auch Glück – Prof. Eli Goldensohn hatte ein sehr langes Leben und wusste, wie man mit Archivdokumenten umgeht. Der Neurologe und Wissenschaftler ging mit 84 Jahren in Rente. Er schloss die Arbeit am eigenen Buch ab und begann erst dann mit der Arbeit an Dokumenten seines verstorbenen Bruders. Mehr als fünf Jahre vergingen, bis „Die Nürnberger Interviews“ herausgegeben wurden – 60 Jahre nach den damaligen Ereignissen, als der Jude Leon Goldensohn jedes Mal in die Nazi-Hölle ging und die größten Sünder der Geschichte befragte. Warum sprachen sie mit einem Juden, warum waren sie offen gegenüber dem Feind, einem Vertreter der verhassten Sieger? Eli Goldensohn gab darauf eine lakonische Antwort – sein Bruder war ein echter Profi, Intellektueller, der ein Gespräch auf jedem Niveau halten konnte, ein wahrer Gentleman. Doch der frühe Tod Leons geht seinem Bruder zufolge auf die Erfahrungen mit den befragten  Nazi-Oberen zurück. Was er von ihnen hörte, schmerzte ihn unglaublich und wirkte sich auf seine Gesundheit aus.

Im Normbereich

Kelly und Gilbert führten viele verschiedene Tests durch, z.B. der bekannte Rorschachtest – es werden Tafeln mit speziell aufbereiteten Tintenklecksmustern gezeigt und die Testperson soll antworten – „Was soll das sein?“. Früher galt der Rorschachtest als eine der wertvollsten psychologischen Diagnostikmittel. Jene, die auf den Bildern Dynamik, Bewegung, Prozesse sahen, galten als kreative Personen. Jene, die Pflanzen, Tiere bzw. Naturerscheinungen sahen, waren laut Psychologen verschlossener. Die Ergebnisse des Tests waren interessant – alle Angeklagten hatten gar keine Imagination bzw. kreative Fähigkeiten. Selbst jene, die wie Hjalmar Schacht Gedichte schrieben und gut malten, oder wie der Architekt des Dritten Reichs und Rüstungsminister Albert Speer, der Theater und Ballett liebte. Allerdings wiesen die Tests keine Störungen nach, alles war im Normbereich.

Zudem wurden alle Angeklagten einem IQ-Test unterzogen. 128 Punkte und höher bedeutet überdurchschnittliche Fähigkeiten bis zur Genialität, 80 bis 119 Punkte bedeutet Normbereich, unter 65 Punkte große intellektuelle Probleme. Der IQ wurde gemäß dem Alter der Teilnehmer berechnet. Der IQ der älteren Menschen wie von Papen, Raeder, Schacht und Streicher war de facto um 15-20 Prozent niedriger als  angegebene Kennzahlen, entsprach aber vollständig ihren Altersgruppen.  Die besten Ergebnisse waren bei Schacht (143), Seyss-Inquart (141), Göring (138), Dönitz (138), von Papen (134).

Die Ergebnisse beeindruckten die Psychiater – alle Angeklagten erhielten überdurchschnittliche Kennzahlen. Selbst der niedrigste IQ – bei Streicher – war trotzdem höher als der Durchschnitt. Die allgemeine durchschnittliche IQ-Zahl der 21 Angeklagten – 128 Punkte. Göring war übrigens unglaublich sauer wegen seines dritten Platzes und forderte einen neuen Test, um gewinnen zu können. Die IQ-Ergebnisse wurden lange geheim gehalten – sie wurden sogar in Berichten nicht veröffentlicht. Selbst Psychiater wollten die schockierenden Fakten nicht akzeptieren – hoher IQ und Begabtheit der größten Verbrecher in der Geschichte der Menschheit.

Eine weitere Methode der Bewertung waren therapeutische Apperzeptionstests – mithilfe der Erzählungsmethoden wurden verdeckte Schichten der Psyche aufgedeckt. Zudem gab Gilbert den Angeklagten verschiedene kreative bzw. analytische Aufgaben – z.B. ein autobiografisches Essay, ein Kommentar zu einem uneindeutigen politischen Ereignis im Dritten Reich oder eine Art Beschreibung der eigenen Psychologie erstellen. Die Nazis machten das gerne, ihnen gefiel das Interesse an ihrer persönlichen Meinung. General Gerd von Rundstedt schrieb für Gilbert den Aufsatz „Ob Hitler ein großer Feldherr war“, wo er die Fähigkeiten Hitlers als Befehlshaber bewertete und zum Schluss kam, dass er den Krieg verlor, weil nicht dem Generalstab, sondern verantwortungslosen Zivilisten aus der Partei und propagandistischen Kreisen zuhörte.

SS-Richter Obersturmbannführer Georg Konrad Morgen schrieb eine „Apologie“ über die psychologischen Ursachen der Massenmorde und gab direkt zu, dass er von den Gräueltaten in KZ-Lagern Bescheid wusste (obwohl er auch verwirrt zu beweisen versuchte, dass er dabei Widerstand leistete). General der Waffen-SS, Leiter des SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamtes, Oswald Pohl, schrieb einen ganzen Lebenslauf, wo er viele Besonderheiten Hitlers und Himmlers enthüllte. Auch der legendäre schockierende Lebenslauf von Rudolf Heß, ein einmaliges Dokument der Entmenschlichung der ganzen Nation, erschien nur auf beharrlicher Bitte Gilberts. Reichswirtschaftsminister Walther Funk schrieb über Psychologie, Philosophie und Ideologie Hitlers. Mitarbeiter des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda, Hans Fritzsche, erstellte ein ausführliches psychologisches Porträt Goebbels und beschrieb das Ausmaß seines eventuellen Einflusses auf das deutsche Volk. SS-Hauptsturmführer Helmut Fischer analysierte ausführlich die Struktur der Wissenschaft, Politik der Hochschulbildung und Beziehungen zwischen Wissenschaftlern im Nationalsozialismus. Die Sammlung Gilberts aus zahlreichen Manuskripten wurde anschließend an das Archiv von Yad Vashem überreicht.

Mit den Ergebnissen der Tests, Notizen der Angeklagten und Interviews versuchten die Psychologen und Psychiater die wichtigste Frage zu enträtseln – hatten sie es mit einer Pathologie oder einer grausamen Version der Norm zu tun? Wie sieht das Verhältnis zwischen dem Nazi-Virus und der bewussten „bösen Absicht“ aus? Die Aufgabe stimmte jedes Mal mit der Antwort überein. Jedes Mal konnten die Psychiater und Psychologen ihren Augen und Ohren nicht trauen.

Schlachtfeld

Inwieweit waren die Schlussfolgerungen Kellys, Gilberts und Goldensohns aus wissenschaftlicher Sicht tragbar? Sie nutzten für die damalige Zeit fortgeschrittene Techniken, doch Jahrzehnte später stellte sich heraus, sie haben die Spezifik der Analysemöglichkeiten ignoriert. So wurden der demoralisierte Zustand der Angeklagten und die Umstände des Gefängnisses, Angst vor Vergeltung und Hinrichtung nicht berücksichtigt. Zudem basierte die Psychologie in den 1940er-Jahren in vielerlei Hinsicht auf den Ideen Sigmund Freuds, die noch nicht einheitlich angewendet wurden – außerdem hatten die Experten in Nürnberg kein einheitliches psychiatrisches Lexikon. Deswegen unterschieden sich die Interpretationen Kellys und Gilberts stark voneinander. Die Rorschachtests waren einige Jahrzehnte später stark umstritten. In den 1970er-Jahren testete Rorschach-Expertin Molly Harrower unitarische Priester und psychiatrische Notfallpatienten – die Ergebnisse wurden mit den Testergebnissen der Nazi-Oberen vermischt. Dann wurden zehn Kollegen gebeten, die Ergebnisse der Nürnberger Angeklagten zu ermitteln. Die Experten scheiterten an dieser Aufgabe. Heute werden Rorschachtests nur selten genutzt, die meisten Spezialisten sind der Ansicht, dass ihre Ergebnisse zu voreingenommenen und unterschiedlichen Einschätzungen verfügen.

Doch 1945 und 1946 verfügten Kelly und Gilbert nur über diese Instrumente. Sie arbeiteten mit begrenzten Möglichkeiten und an ihrer Belastungsgrenze.

Zunächst schien das Duo nahezu perfekt zueinander zu passen. Kelly war ein begabter Psychiater, Intellektueller, Rorschach-Experte, er hatte nur einen Nachteil – er sprach kein Deutsch und brauchte einen Dolmetscher. Gilbert war ein ausgezeichneter Psychologe, sprach fließend Deutsch, wusste aber sehr wenig von psychiatrischen Tests. Für die beiden war die Arbeit im Gerichtshof eine professionelle Herausforderung, deren Wichtigkeit sie klar verstanden. Nie zuvor hatten sie eine Chance bzw. den Wunsch oder die Möglichkeit, die Persönlichkeit von Menschen zu analysieren, die noch vor kurzem die Welt beherrschten.

Sie hingen bei vielen Fragen voneinander ab und stützten sich auf gegenseitige Erkenntnisse. Doch bald gingen ihre Deutungen der erhaltenen Informationen auseinander. Gilbert war eher der Meinung, dass die Häftlinge des Nürnberger Gefängnisses „von Dämonen besessene Psychopathen“ waren. Kelly meinte, dass es ziemlich wahrscheinlich sei, dass viele Menschen unter bestimmten Umständen zu einem ähnlichen Verhalten abrutschen können. Jeder  deutete die erhaltenen Angaben zugunsten der eigenen Theorie.

Zwischen Kelly und Gilbert kam es auch zum Zerwürfnis. Als Kelly Nürnberg verließ und durch Goldensohn abgelöst wurde, warf Gilbert ihm vor, seine Notizen geklaut zu haben. Dabei verhandelte Kelly bereits mit Verlagshäusern über ein Buches. Er schrieb an Gilbert und bat ihn, Interviews und Stenogramme der Gerichtssitzungen bereitzustellen, was dieser jedoch verwehrte. Gilbert war es natürlich sauer, dass der ehemalige Kollege sich als größter Vertrauter der Nazi-Anführer darstellt, der über dunkelste, exklusive Geheimnisse verfügt. Die beiden arbeiteten gleichzeitig an eigenen Büchern und kämpften um einzigartige Daten. Kelly drohte Gilbert mit einer Klage, wenn er seine Testunterlagen nutzen wird, und Gilbert warf Kelly Manipulation der Notizen vor.

Die beiden meinten, ein gutes Konzept bieten zu  können – trotz der beschränkten Auswahl, unglaubwürdiger Tests, Streitigkeiten und fehlenden klaren Standards und Begriffen. Kelly zufolge war der Nazismus eine soziokulturelle Krankheit. „In Nürnberg hatte ich die reinsten Teilchen des Nazi-Virus – 22 Fläschchen. Doch so etwas kann man in jedem Land finden – an großen Tischen, wo wichtige Fragen gelöst werden“. Gilbert war der Meinung, dass der Nazismus nicht Teil eines normalen menschlichen Verhaltens war, sondern eine besondere Art der Psychopathologie ist. Kelly zufolge hat jeder Mensch eine dunkle Seite. Gilbert zufolge war die dunkle Seite bei den Nazis einmalig. Bei einer Frage waren sie sich einig: Das Grausamste bestand darin, dass diese Unmenschen Menschen waren, sie waren zurechnungsfähig, sie waren normal.

So waren hochrangige Nazis normal – mit allen Ergebnissen der Tests, bei denen ihre Einmaligkeit und überdurchschnittliche Ambitionen festgestellt wurden. So waren auch ihre einfachen Untergeordneten normal – jene, die den Befehlen strikt folgten, ohne Zweifel zu haben. Die Banalität des Bösen – die Bereitschaft dazu war grausame alltägliche Realität. Bei den meisten Angeklagten war das Resultat der psychiatrischen Analyse sofort klar. Niemand hatte eine eindeutige pathologische Neigung zur Gewalt. Alle waren zurechnungsfähig, geistig und emotional vollwertig, alle Reaktionen waren im Normbereich. Ernsthafte Zweifel kamen nur bei fünf Personen auf – Robert Ley, Julius Streicher, Rudolf Heß, Gustav Krupp und Hermann Göring. Sie wurden lange beobachtet, wobei die Änderungen ihres Zustands analysiert wurden. Außer Krupp wurden auch sie als zurechnungsfähig betrachtet und waren imstande, vor Gericht für die Verbrechen Verantwortung zu tragen.

Douglas Kelly, Gustave Gilbert und Leon Goldensohn konnten sich nie mehr damit abfinden, was sie da vorgefunden haben. Die Banalität. Es gab kein Rätsel. Leere.

Nazi-Deutschland litt an einer politischen, nicht psychologischen Pathologie – das wurde von den Experten festgestellt. Diese giftigen Keime konnten nicht komplett entfernt werden – die spezifische Infektion entzündet sich hin und wieder an einzelnen Orten, wobei die Menschheit mit neuen Versionen erschüttert wird. Allerdings ist die Immunität der Welt imstande, die Attacken des Nazismus-Virus zu erkennen – das ist den Nürnberger Prozessen zu verdanken.

 

 

Quelle:

Gustave Gilbert „Das Nürnberger Tagebuch“

Aaron Rothstein “Psychology at Nuremberg”
Jon Kalish “A Jewish doctor who put Nazis on the couch”
Douglas Main “Nazi Criminals Were Given Rorschach Tests at Nuremberg”

Ian Nicholson “Psychologist of the Nazi mind”

Caren Chesler “Rudolf Hess’ Tale of Poison, Paranoia and Tragedy”

Katherine Ramsland „Professional Suicide“
Alexander Swjaginzew „Die Ärzte suchten nach Nazismus-Virus“