Stalin, Berija, Paulus, Powers – Leben und Karriere des sowjetischen Chefanklägers

Roman Rudenko, der bekannteste und renommierteste Staatsanwalt der Sowjetunion, der in der Zeit von Stalin bis Breschnew im Dienst stand, übernahm mit 38 Jahren die Leitung der sowjetischen Delegation bei den Nürnberger Prozessen. Sein Kollege, US-Hauptankläger Robert Jackson, wurde zum Nationalheld in den Vereinigten Staaten. In Russland und in der Welt weiß man zu wenig über die Rolle Rudenkos. Es ist einer der wenigen Juristen, denen die Welt ihre aktuellen Vorstellungen von Recht, Gerechtigkeit vor Gericht und Humanität zu verdanken hat. Der Diplomat Sergej Rudenko spricht im Interview für das Projekt „Nuremberg. Casus pacis“ über seinen Vater.

Herr Rudenko, wann haben Sie erfahren, dass Ihr Vater der Hauptankläger bei den Nürnberger Prozessen war? Inwieweit war dieses Thema in ihrer Familie präsent?

Ich erinnere mich daran, dass das Thema des Großen Vaterländischen Krieges in meiner frühen Kindheit besprochen wurde. Natürlich wusste ich, dass es nach der Niederlage Deutschlands die Nürnberger Prozesse gab, bei denen mein Vater der Hauptankläger war. Anschließend erinnerte sich mein Vater oft an den Prozess und erzählte viel – natürlich im möglichen Rahmen, weil damals sehr viele Materialien geheim gehalten wurden. Doch im Schulalter hatte ich ein allgemeines Bild, ich konnte mir den Verlauf des Prozesses gut vorstellen.

Das Tribunal war eine komplizierte Angelegenheit, präzedenzlos. Der Vater sagte in seiner Einführungsrede am 8. Februar 1946, dass erstmals in der Geschichte Verbrecher auf der Anklagebank saßen, die ein ganzes Land kaperten und es für ihre Ziele ausnutzten. Das Gericht prozessierte nicht nur gegen Personen, sondern auch gegen die von ihnen ins Leben gerufene verbrecherischen Organisationen – SS, SD, Gestapo – deren Hauptziel die Massenausrottung von Menschen war. Die Situation war nicht einfach, weil der Anti-Hitler-Koalition Staaten mit verschiedenen rechtlichen und politischen Systemen angehörten. Es war nicht sehr einfach, eine gemeinsame Position zu finden und zu einem einheitlichen Beschluss zu kommen, was aber doch erreicht wurde.

Sergey Romanovich Rudenko
© Grigory Sysoev

Das sind quasi offizielle Begebenheiten. Teilte der Vater mit ihnen „menschliche“ Geschichten?

Er erzählte, dass es in der damaligen Situation wichtig war, Kontakt zu den Kollegen zu finden. Sehr gute, sogar herzliche Beziehungen entstanden zu US-Hauptankläger Robert Jackson. Sie halfen einander bei der Lösung von komplizierten Fragen, die während des Prozesses entstanden. Zum Beispiel: Ein sowjetisches Flugzeug landete ohne vorherige Benachrichtigung in der US-Zone, die Besatzungsmitglieder wurden festgenommen. Mein Vater wandte sich an Jackson mit der Bitte um Unterstützung, damit die Besatzungsmitglieder freigelassen werden. Jackson half. Der zweite Fall, von dem der Vater erzählte, war eher witzig. US-Soldaten sahen bei kaltem Wetter einen sowjetischen LKW – wie sich später herausstellte, hatte er Unterlagen von Nazi-Deutschland geladen. Sie wollten sich aufwärmen und machten Feuer mit den Papieren. Es hätte zu einem Skandal kommen können, doch Jackson sprach mit meinem Vater. Er sagte, dass diese Unterlagen nicht wertvoll seien, weshalb der Vorfall als erledigt betrachtet werden könnte. Mein Vater und Jackson verstanden sich gut.

In welcher Sprache sprachen beide eigentlich miteinander?

Mein Vater beherrschte keine Fremdsprachen, vielleicht ein bisschen Englisch. Doch sie sprachen vorwiegend über Dolmetscher.

Roman Rudenko war der jüngste unter allen Hauptanklägern. Warum wurde gerade er ausgewählt?

Er sprach nicht darüber, doch wie ich denke, es gibt da zwei Aspekte. Der objektive Aspekt war, dass mein Vater damals Staatsanwalt der Ukraine war, und diese Republik hatte neben Weißrussland am meisten unter den faschistischen Eroberern gelitten. Der zweite Aspekt ist persönlich. 1945 liefen die Prozesse gegen die Kollaborateure. Einer davon – gegen Vertreter der polnischen Armia Krajowa – verlief im Säulensaal des Hauses der Gewerkschaften. Er wurde von der Presse umfassend beleuchtet; Diplomaten, ausländische Korrespondenten waren anwesend. Er war Assistent des Staatsanwalts Afanassjew. Es kam dazu, dass er sehr viel auftrat, sehr aktiv war – er bewährte sich also gut. Als sich die Frage stellte, wer der Hauptankläger bei den Nürnberger Prozessen sein wird, entschied sich Stalin für meinen Vater, obwohl er damals erst 38 Jahre alt war.

Einer der auffallendsten Momente des Prozesses war das Verhör von Feldmarschall Friedrich Paulus. Geht die Idee, ihn unter größter Geheimhaltung nach Nürnberg zu bringen, auf Ihren Vater oder auf die politische Spitze zurück?

Ich weiß ziemlich viel über diese Episode. Seit Beginn des Großen Vaterländischen Krieges hielt sich die Nazi-Propaganda an die Maßgabe, dass Deutschland nie vorhatte, die Sowjetunion anzugreifen. Der Angriff sei nur eine Vorbeugungsmaßnahme, weil die Sowjetunion ihre Truppen an der westlichen Grenze konzentrierte. An diese Linie hielt sich auch die Verteidigung während des Prozesses. Die Aussagen von Paulus, die in Moskau gemacht wurden, wurden von der Verteidigung nicht angenommen, sie forderte seine persönliche Anwesenheit. In dieser Situation entstand die Idee, ihn nach Nürnberg zu bringen, weil er seit Herbst 1940 an der Entwicklung des Plans für den Überfall auf die Sowjetunion teilgenommen hatte.
Als mein Vater Paulus in Moskau befragte, kam er zu dem Schluss, dass dieser seine Taten aufrichtig bereut. Anschließend setzte er sich dafür ein, dass Paulus nach Nürnberg gebracht wird. Über diese Idee wurde Stalin informiert, er stimmte zu und sagte nur: „In Ihrer Verantwortung, Genosse Rudenko.“

So etwas konnte bei Stalin ja auch nach hinten losgehen…

Ja, bei einem Scheitern konnte man den Kopf verlieren… Paulus wurde nach Nürnberg gebracht. Diese Operation wurde so gut organisiert, dass kein westlicher Geheimdienst darüber Bescheid wusste. Als die Verteidigung der Nazis erneut die Anwesenheit Paulus forderte, sagte der sowjetische Ankläger, dass dessen Ankunft vor Gericht nicht mehr als eine halbe Stunde dauern wird, weil er sich in der Residenz der sowjetischen Delegation befindet. Das war wie eine Bombenexplosion. Als Paulus im Saal erschien, waren die Angeklagten schockiert – viele in Deutschland dachten, er sei tot.

Natürlich war das für meinen Vater mit einem Risiko verbunden. Er kalkulierte zwar alles, doch eine Sache ist es, Aussagen in Moskau einzuholen, eine andere, in Nürnberg zu scheitern. Als er fragte, ob Paulus die in Moskau getätigten Aussagen wiederholen würde, sagte dieser „ja“ und betonte, dass er persönlich an der Ausarbeitung des Plans für den Angriff auf die Sowjetunion teilgenommen hatte, der Unternehmen Barbarossa hieß, und dass dieser Plan schon im Herbst 1940, also lange vor Beginn des Großen Vaterländischen Krieges, existierte.

The Rudenko family - wife Maria Andreevna, daughters - Larisa and Galina, Roman Andreevich. October 12, 1941. Photo from the Rudenko family archive.
The Rudenko family - wife Maria Andreevna, daughters - Larisa and Galina, Roman Andreevich. October 12, 1941. Photo from the Rudenko family archive.
© Grigory Sysoev

Neigte Ihr Vater zu ungewöhnlichen Entscheidungen?

Vor Entscheidungen analysierte er natürlich sorgfältig alles. Doch ich kann ein Beispiel anführen, als mein Vater ein ziemlich großes Risiko einging, als er bereits Generalstaatsanwalt war. Zu Beginn der 1960er-Jahre machten Leute wie Rokotow, Faibischenko und Jakowlew große Devisengeschäfte. Sie wurden verurteilt, zunächst zu acht und später zu 15 Jahren Haft. Obwohl das die Höchststrafe war, war Chruschtschow unzufrieden. Über den Obersten Sowjet wurde ein Gesetzt durchgesetzt, dass für solche Geschäfte im schlimmsten Fall die Todesstrafe vorgesehen ist. Doch das Gesetz hat keine rückwirkende Kraft, weshalb mein Vater sich gegen die Todesstrafe aussprach, weil er verstand, dass dies ernsthafte Folgen nach sich ziehen kann. Chruschtschow fragte ihn: „Welche Linie verfolgen Sie eigentlich? Meine oder die der Devisenverbrecher?“ Mein Vater antwortete:

„Ich verfolge eine Linie, die auf das Einhalten der sozialistischen Gesetzlichkeit ausgerichtet ist.“ „Sie können gehen“, sagte Chrutschow.

Die Angeklagten wurden zum dritten Mal vor Gericht gestellt und erschossen.

Danach sprach mein Vater mit meiner Schwester (ich war damals noch klein) und sagte, falls ihm etwas geschehe und er abgesetzt werde, müsse sie die reale Situation kennen. Zwei bzw. drei Monate gab es ein zermürbendes Warten, danach fand eine Sitzung des Obersten Sowjets der Sowjetunion statt, bei der Chruschtschow meinen Vater bat aufzustehen. Und er sagte laut: „Da sehen sie ein Beispiel, wenn ein Mensch seine Position verteidigt.“ Natürlich war der Schritt meines Vaters riskant, doch das stimmte mit seinen Überzeugungen überein.

Chruschtschow soll damals Roman Rudenko sogar gesagt haben: „Denken Sie nicht, dass Ihr Amt lebenslang ist!“ Doch nach drei Jahren wurde Chruschtschow selbst abgesetzt, und Ihr Vater blieb der einzige Generalstaatsanwalt der Sowjetunion, der auf diesem Posten bis zum Tod arbeitete.

Ja, 28 Jahre lang, er starb 1981.

Niemand in der Sowjetunion hatte den Posten des Generalstaatsanwalts so lange inne. War diese glänzende Karriere das Ergebnis der Anstrengungen Ihres Vaters oder einfach eine Verkettung von Umständen?

Ob es teilweise Zufall in seinen jungen Jahren war, ist für mich schwer einzuschätzen. Doch eines kann ich sicher sagen: Wenn in der Sowjetunion Bekanntschaften eine große Rolle spielten, da hatte mein Vater keine Privilegien – er begann seine Karriere als unqualifizierter Arbeiter in einem Zuckerwerk und erreichte alles aus eigener Kraft. Natürlich hatte er gute juristische Kenntnisse, er strebte das strikte Einhalten des Gesetzes an. Eine sehr große Rolle spielte Nürnberg – danach wurde er von Stalin hoch geschätzt, sein Ansehen stieg. 1953 war die Ernennung meines Vaters zum Generalstaatsanwalt eine der ersten Personalentscheidungen Chruschtschows. Er wurde mit dem Berija-Fall beauftragt, seit dieser Zeit bekleidete er unabsetzbar dieses Amt.

Kommen wir zu einem schwierigen Thema. Unter Chruschtschow befasste sich Ihr Vater auf eigene Initiative mit der Rehabilitation der Opfer der politischen Repressalien und erreichte eine Revision vieler Verfahren. Die Schlussfolgerungen der Kommission, in der er arbeitete, bildeten die Grundlage des Berichts Chruschtschows beim 20. Parteitag über den Persönlichkeitskult Stalins.

Ja, so war es.

Ihr Vater unternahm große Anstrengungen, um die Richtung der sowjetischen Rechtsprechung zu ändern, sie humaner zu machen. Auf der anderen Seite war Roman Rudenko in den 1930er Jahren in den außergerichtlichen Ermittlungsorganen tätig, die zahlreiche Todesurteile fällten, die später als illegal und rechtswidrig eingestuft wurden. Wie begreifen Sie diese zwei Aspekte?

Da gibt es natürlich keine eindeutige Antwort. In den 1930er Jahren ging der Staat oft einen harten und oft ungesetzlichen und nicht gerechtfertigten Weg, und diesem auf der höchsten Ebene festgelegten System mussten sich alle untergeordneten Organe unterstellen. Wenn ein Hinweis kam, dass jemand schuldig war, gab es nicht die Praxis, Ermittlungen aufzunehmen, einen Gerichtsprozess einzuleiten, die Beweislage zu untersuchen. Man berief sich dabei auf „schwere Zeiten“, auf die „feindselige Umgebung“ usw. Es ist kaum vorstellbar, dass man einem Staatsanwalt gesagt hätte: „Dieser Typ muss erschossen werden“, und dieser würde antworten: „Nein, lasst uns die Situation untersuchen.“ Man kann sich ja leicht vorstellen, wie es einer solchen Person damals gehen würde. Wir haben mit dem Vater nicht über dieses Thema gesprochen.

Ich weiß nicht genau, was in den „Dreiergruppen“ unter Beteiligung meines Vaters passierte, vermute aber, dass dabei auch illegale Entscheidungen getroffen worden sein könnten. Das ist unsere Geschichte, und wir sollten das nicht ignorieren. Aber ich weiß genau, dass mein Vater ganz ehrlich in Rehabilitationsfragen war: Er beschäftigte sich sehr viel damit und hielt es für einen großen Teil seiner Arbeit, ungerecht verurteilte Menschen zu rehabilitieren.

Was für ein Mensch war Ihr Vater im Alltag? Alexander Swjaginzew führte in seinem Buch, das ihm gewidmet war, ein Beispiel an: Ihre Mutter hat Sie einmal bestraft, und der Vater sagte ihr darauf, sie sollte das nie wieder tun.

Ja, ich habe Swjaginzew selbst von dieser Episode erzählt. Ich war fünf oder sechs Jahre alt, als ich mit einem Besen in der Hand einer Verwandten hinterherjagte, weil ich böse auf sie war. Und meine Mutter hat mich dafür geschlagen. Und am Abend hörte ich zufällig ihr Gespräch mit dem Vater. Er sagte, dass ich dafür zwar tatsächlich bestraft werden musste, aber die Mutter sollte einsehen, dass physische Gewalt mir gegenüber nicht wieder vorkommen sollte. Und so etwas hat es tatsächlich nie wieder gegeben. Mein Vater war in diesem Sinne hart, aber fair. Er bemühte sich immer darum (und das tue ich jetzt auch), seinen Kindern Anständigkeit und Ehrlichkeit beizubringen. Und es gab noch einen sehr wichtigen Moment: Er sagte mir, dass ich niemals etwas versprechen sollte, wenn ich mir nicht sicher sei. Aber wenn ich schon mein Wort gegeben hätte, dann müsste ich es auch unbedingt halten. Der Preis für das Ehrenwort war für ihn enorm hoch.

Bestimmt wandten sich sehr viele Menschen mit der Bitte an ihn, ihnen zu helfen, mit Beschwerden auf diese oder jene Ungerechtigkeit. Hat Ihnen Ihr Vater solche Geschichten erzählt?

Nein, das tat er nicht. Aber ich weiß genau, dass er sich darum bemühte, solchen Menschen zu helfen. Er konnte es nicht akzeptieren, wenn etwas unter Umgehung des Gesetzes getan wurde. Einmal (ich war damals etwa zwölf Jahre alt) bin ich auf der Datscha Rad gefahren, und da kam ein Mann auf mich zu und sagte: „Ich habe ein Paket für Ihren Vater. Überreichen Sie es ihm bitte.“ Ich hatte keine Ahnung, worum es ging, und dann sagte mein Vater seinen Assistenten, sie sollten den Mann einholen und ihm dieses Paket zurückgeben. Und dann erklärte er mir, dass ich solche Dinge nicht entgegennehmen sollte: Wenn man Gerechtigkeit anstrebt, sollte man den legitimen Weg gehen, ohne jemandem etwas anonym zu überreichen.

Als ich schon Student war, arbeitete man Vater sehr viel, und zu Hause versuchten wir immer, ihn irgendwie abzulenken. Wir waren eine große Familie: Meine Eltern haben fast 50 Jahre zusammengelebt, ich habe zwei Schwestern, und die beiden sind verheiratet und haben Kinder. Vor allem am Wochenende trafen wir uns auf der Datscha unseres Vaters zum Familienfrühstück oder zum Mittagessen. Dann gingen wir Fußball spielen – der Vater hatte das sehr gerne. Wir erzählten uns irgendwelche Witze, spielten Domino usw. Mit uns entspannte er sich, und wir wollten ihn nicht beunruhigen, wenn das nicht wirklich nötig war. Im Allgemeinen hatten wir eine sehr freundschaftliche und warme Atmosphäre in der Familie.

Roman Rudenko (on the left) with intelligentsia. From left to right - P. Krylov, N. Sokolov, Y. Korolkov, Vs. Ivanov, S. Kirsanov, Kuzkin, M. Kupriyanov. Nuremberg, 1946. Photo from the Rudenko family archive.
Roman Rudenko (on the left) with intelligentsia. From left to right - P. Krylov, N. Sokolov, Y. Korolkov, Vs. Ivanov, S. Kirsanov, Kuzkin, M. Kupriyanov. Nuremberg, 1946. Photo from the Rudenko family archive.
© Grigory Sysoev

War es verboten, zu Hause über die Arbeit zu reden?

Nein, keineswegs. Im Gegenteil: Der Vater sprach sehr gerne darüber, antwortete auf ganz verschiedene Fragen. Wir sprachen oft über Politik. Bei uns gab es generell keine verbotenen Themen. Aber es war uns allen generell klar, dass der Vater sehr beschäftigt war, und deshalb sollten wir lieber über Musik, Kunst usw. sprechen.

Welche Momente hielt Ihr Vater für die wichtigsten in seiner Karriere?

Darüber erzählte er mir nichts Konkretes, aber ich denke, das war der Nürnberger Prozess, der Prozess gegen Berija, die Rehabilitation der Opfer von Repressalien und der Prozess gegen Francis Powers – den US-amerikanischen Piloten, der während eines Spionageflugs über Swerdlowsk abgeschossen wurde.

Zurück zum Nürnberger Prozess: War Ihr Vater ganz zufrieden mit der Arbeit des sowjetischen Teams? Die Teilnehmer des Prozesses verwiesen darauf, dass kein einziges Mitglied der sowjetischen Delegation keine Auszeichnungen der Regierung erhalten hatte, obwohl Generalstaatsanwalt Gorschenin sich mit einem entsprechenden Gesuch an Stalin wandte.

Mein Vater schätzte die Arbeit der sowjetischen Delegation sehr hoch ein. Er sagte, die Arbeit sei sehr gut abgestimmt gewesen – alle arbeiteten wie ein einheitlicher Mechanismus, vielleicht außer einem einzigen Fall. Es gab einen NKWD-Offizier namens Lichatschow, der die Arbeit der Delegation eher negativ beeinflusste. Aber dann wurde er abgerufen und erschien nie wieder in Nürnberg.

Was den Abschluss des Prozesses angeht, so berichtete mein Vater Stalin über die Ergebnisse. Unter anderem verwies er dabei darauf, dass der allgemeine Beschluss, dem zufolge der Faschismus und kriminelle Organisationen verurteilt wurden, wichtiger war als die Urteile gegen einzelne Angeklagte. Wie Sie wissen, verlangte mein Vater in seiner Abschlussrede die Todesstrafe für alle Angeklagten. Dasselbe verlangten auch die anderen Ankläger außer Jackson, der keine konkreten Maßnahmen nannte. Am Ende beschloss das Gericht, dass zwölf der insgesamt 22 Angeklagten hingerichtet werden sollten; sieben weitere wurden zu verschiedenen Haftstrafen verurteilt, und drei Angeklagte wurden freigesprochen. Natürlich wäre es wünschenswert gewesen, dass alles so geschieht, wie die sowjetische Seite es verlangte. Aber viel wichtiger war, dass ein klarer Kompromiss gefunden wurde und dass das Gericht eine einheitliche Position einnahm.

Stalin schätzte die geleistete Arbeit im Gespräch mit meinem Vater sehr hoch ein und war mit den Ergebnissen des Nürnberger Prozesses im Allgemeinen zufrieden. Was die Auszeichnungen angeht, so hat mein Vater seinen ersten Lenin-Orden, soweit ich mich erinnern kann, im März 1945 bekommen – für die Wiederherstellung der sozialistischen Legitimität in der Ukraine. Es gibt immer noch gewisse bürokratische Regeln, und ihnen zufolge kann eine Person, die ausgezeichnet worden ist, schon in der Friedenszeit keine andere Auszeichnung binnen einer kurzen Zeit bekommen. Aber das ist nur meine Vermutung – ich habe diesbezüglich keine genauen Informationen.

Bei den Nürnberger Prozessen ging es nicht nur um die Arbeit unmittelbar im Laufe der Gerichtsverhandlungen, sondern auch um normales Leben: Freizeit, Spaziergänge, informelle Gespräche. Hat sich Herr Rudenko an diese informelle Seite des Prozesses erinnert?

Ich kann das nicht sagen, dass ich von ihm viele Erinnerungen diesbezüglich gehört hätte. Aber dank Alexander Swjaginzew habe ich 2014 die sowjetische Residenz in Nürnberg besucht. Dort trafen sich die Delegationsmitglieder abends; Es kamen verschiedene Menschen hinzu, die den Prozess beleuchteten. Unter anderem hatte mein Vater sehr gute Beziehungen zu den Kukryniksy-Karikaturisten. Man konnte sich von der Arbeit ablenken, und da die Beziehungen innerhalb der Delegation sehr gut waren, war diese Kommunikation von vielen Erinnerungen an die Jugendzeit, von vielen Anekdoten begleitet.

Wenn Sie sich am Nürnberger Prozess hätten beteiligen können, was würden Sie dabei gerne sehen oder vielleicht etwas verändern?

Ich habe nie wirklich darüber nachgedacht: Eine Zeitmaschine wurde immerhin noch nicht erfunden. Aber es wäre sicherlich sehr interessant gewesen, am Nürnberger Prozess teilzunehmen. Etwas verändern – das nicht. Er ist so gelaufen, wie er laufen musste, mit allen seinen Nuancen. Und am wichtigsten waren seine Ergebnisse.

Wie Sie selbst bemerkten, hatte es vor dem Nürnberger Prozess in der Vergangenheit keine ähnlichen Prozesse gegeben. Dabei wurde die Grundlage der Welt gelegt, in der wir jetzt leben. Was sind die wichtigsten Lehren aus dem Nürnberger Prozess aus der heutigen Sicht?

Die Beschlüsse der Nürnberger Prozesse sind und bleiben aktuell, auch wenn schon 75 Jahre vergangen sind. Wie Sie wissen, haben sie die Basis von etlichen völkerrechtlichen Dokumenten gebildet. So berücksichtigt die UN-Vollversammlung immer noch auf die Beschlüsse des Prozesses – ich kann mich beispielsweise auf die jüngste Resolution zur Bekämpfung der Versuche zur Heroisierung des Nazismus berufen, die am 16. Dezember 2020 verabschiedet wurde. Aber in manchen Ländern finden sich Kräfte, die versuchen, den Faschismus zu rechtfertigen und die Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges umzudeuten; die behaupten, es sei noch eine große Frage, „wer wen überfallen hat“. Solchen Versuchen muss man sich widersetzen.

Erlauben Sie mir einen kleinen Abstecher: 2018 griff die damalige britische Ministerpräsidentin Theresa May im Kontext der Vergiftung des einstigen Obersten der Hauptaufklärungsverwaltung im russischen Generalstab, Sergej Skripal, auf den Begriff „highly likely“ zurück, und behauptete, daran wäre Russland schuld. Später wurde diese juristisch untaugliche Formulierung auch bei vielen anderen Vorwürfen gegen Russland verwendet. Im Westen kann man auch jetzt sagen: „highly likely“ hätte nicht Deutschland die Sowjetunion, sondern die Sowjetunion Deutschland überfallen. Aber man muss sich nur die Beschlüsse der Nürnberger Prozesse und die späteren Beschlüsse der UN-Vollversammlung anschauen, und es wird alles klar. Deshalb sind alle Versuche, die Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges zu bezweifeln, aus meiner Sicht zum Scheitern verdammt. Es mag ein großes Geschrei geben, aber ansonsten ändert sich nichts.

Was muss getan werden, damit ein neuer Nürnberger Prozess nie nötig wird?

Ein neuer Nürnberger Prozess als solcher ist heutzutage kaum vorstellbar, denn zuvor müsste es eine umfassende Aggression gegeben haben. Es ist ja ein Paradox, aber heutzutage gibt es den Faktor der nuklearen Eindämmung. Jeder Politiker versteht: Egal, wer einen neuen Krieg beginnen sollte: dabei könnte die ganze Erde vernichtet werden. Deshalb kann ich mir einen neuen Nürnberger Prozess nicht vorstellen. Wenn es zu einem neuen Weltkrieg kommen sollte, würde es dann keine Menschen geben, die sich später versammeln könnten.

Es war ja nicht umsonst, dass wir mit den USA 2010 den äußerst wichtigen Vertrag zur Verringerung strategischer Waffen (START-Vertrag) abgeschlossen haben. Und als in den USA die neue Administration Joe Bidens an die Macht kam, akzeptierte sie sofort und bedingungslos seine Verlängerung. Leider bleibt das vorerst der einzige positive Moment in den russisch-amerikanischen Beziehungen unter dem aktuellen US-Präsidenten.

In Russland wird viel über die Ergebnisse der Nürnberger Prozesse geredet. Allerdings wurde das Stenogramm des Tribunals in englischer, französischer und deutscher Sprache Ende der 1940er Jahre veröffentlicht. Und der vollständige russische Text wurde immer noch nicht publiziert. Warum wird in dem Land, das die Hauptrolle beim Sieg gegen den Nazismus spielte und in dem viel darüber gesprochen wird, so wenig für die wahre Aufrechterhaltung des historischen Gedächtnisses getan? Es ist immer noch ein großes Problem, die Archive zu erreichen, die mit dem Großen Vaterländischen Krieg verbunden sind.

Über den Nürnberger Prozess ist heutzutage praktisch alles bekannt, und zwar nicht auf Basis von unbegründeten Behauptungen. Warum in Russland die Dokumente, die mit dem Prozess verbunden waren, immer noch nicht veröffentlicht wurden, kann ich nichts sagen. Aber ich sehe darin keine Politik. Vielleicht wird darauf viel zu wenig geachtet, man sollte dem mehr Aufmerksamkeit schenken. Vielleicht denkt jemand: Es sind 75 Jahre vergangen, und es ist sowieso alles klar – muss denn das noch veröffentlicht werden?

Und es gibt noch die Frage der Freigabe von gewissen geheimen Dokumenten – das ist ein schwieriger und langwieriger bürokratischer Prozess. Aber ich sehe keine Versuche, etwas zu verbergen, besonders seitens des Staates. Die Nürnberger Prozesse waren unser außenpolitischer Sieg, und damit ist alles gesagt.