Im Rahmen des Projekts „Nuremberg. Casus pacis“ wurde ausführlich über die kleinen Nürnberger Prozesse – Gerichtsprozesse der US-Administration gegen Nazi-Verbrecher – berichtet. Jetzt richtet sich der Blick auf die „sowjetischen Nürnberger Prozesse“ – 21 öffentliche Gerichtsprozesse, die 1943 bis 1949 verliefen. Die einzelnen Prozesse waren relativ schnell abgehandelt, doch die Urteile unterschieden sich, ebenso die Schicksale der Verurteilten.

Die meisten sowjetischen Gerichtsprozesse gegen Nazi-Verbrecher und ihre Helfershelfer verliefen unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Allein zu Lebzeiten Stalins wurden mindestens 81780 Menschen, darunter 24069 Kriegsgefangene, verurteilt. Weitere etwa 1000 Personen wurden nach 1953 vor Gericht gestellt.

Öffentliche Prozesse zu den grausamsten Verbrechen fanden zwischen 1943 und 1949 in 21 Städten in den sowjetischen Republiken (Russland, Ukraine, Belarus, Lettland und Moldawien) statt. Dabei wurden 252 Kriegsverbrecher aus Deutschland, Österreich, Ungarn, Rumänien, Japan sowie einige Nazi-Helfershelfer aus der Sowjetunion öffentlich verurteilt.

Die Prozesse können zeitlich in unterschiedliche Etappen eingeordnet werden – vor den Nürnberger Prozessen (Krasnodar, Krasnodon, Charkow), während der Nürnberger Prozesse (Smolensk, Brjansk, Leningrad, Nikolajew, Minsk, Kiew, Weilikje Luki, Riga) und nach den Nürnberger Prozesse (Stalino, Bobrujsk, Sewastopol, Tschernigow, Poltawa, Witebsk, Chisinau, Nowgorod, Gomel). Einen besonderen Platz nahmen die Chabarowsker Prozesse 1949 ein – gegen japanische Kriegsverbrecher.

Im Hinterland und an der Front

Während die ersten Gerichtsprozesse in der Kriegszeit – Krasnodar und Krasnodon – sich dadurch unterschieden, dass dabei Verbrechen der Kollaborateure untersucht wurden, saßen beim Charkower Prozess 1943 schon deutsche Kriegsverbrecher auf der Anklagebank.

„Das waren die weltweit ersten vollwertigen Prozesse gegen Nazis und ihre Helfershelfer“, sagte Dmitri Astaschkin vom Sankt Petersburger Institut für Geschichte der Russischen Akademie der Wissenschaften und Dozent an der Nowgoroder Staatlichen Universität. „Die Sowjetunion bemühte sich, für Aufsehen in der Welt zu sorgen: Die Sitzungen wurden von ausländischen Journalisten und den besten sowjetischen Schriftstellern – Alexej Tolstoi, Konstantin Simonow, Ilja Erenburg, Leonid Leonow - beleuchtet. Über die beiden Prozesse schrieb sogar die Kollaborateuren-Zeitung „Sa Rodinu“. Über die Prozesse wurden Broschüren in verschiedenen Sprachen herausgegeben, die in der Armee und im Hinterland vorgelesen wurden“.

Kurze Zeit später wurden die Dokumentarfilme „Das Urteil des Volkes“ und „Gerichtsprozess läuft“ in sowjetischen und ausländischen Kinos vorgeführt. Die Stenogramme des Charkower Prozesses erschienen als Einzelausgabe in Genf, die Dokumente des Prozesses von Krasnodar über Gaswagen wurden als Beweise auf den Sitzungen des Internationalen Militärgerichtshofs in Nürnberg genutzt.

Zudem fanden in der Kriegszeit mehrere lokale Gerichtsprozesse gegen Verräter statt. „Zum Beispiel, öffentliche Prozesse in Partisanenverbänden und Brigaden – ihre Zuschauer waren die Partisanen selbst und später Einwohner der Nachbardörfer“, so Dmitri Astaschkin.

An der Front wurden Verräter und Nazis von den Militärgerichten bis zur Verabschiedung des Erlasses Nr.39 des Präsidiums des Obersten Rats der Sowjetunion vom 19. April 1943 „Über Strafmaßnahmen für deutsch-faschistische Bösewichte, die der Morde, Folterungen gegen sowjetische Zivilisten und gefangene Rotarmisten schuldig sind, Spione, Landesverräter unter sowjetischen Staatsbürgern und ihre Helfershelfer“ bestraft. Laut diesem Erlass wurden Gerichtsverfahren zu Mord an Kriegsgefangenen und friedliche Einwohner an militärische Feldgerichte bei Divisionen und Korps übergeben. Viele Sitzungen waren auf Empfehlung des Kommandos ebenfalls öffentlich, im Beisein der lokalen Bevölkerung.

„Beispielsweise fand am 12. März 1944 in Kolpino in der Kultury-Straße eine öffentliche Sitzung des Militärgerichtshofs zum Fall eines aktiven Helfershelfers der Nazi-Besatzer Boris Afanassjew statt“, erzählt der Historiker. „Vor dem Krieg war er als Architekt des Werkes Ischory tätig, während der Besatzung wurde er Bürgermeister des Dorfs Uljanowka (Sablino) und des Gebiets Sablino. Ihm wurde der Landesverrat, Ausbeutung der friedlichen Bevölkerung beim Bau des Kraftwerks, Durchführung einer harten Politik zur Steuereintreibung für die Besatzungsbehörden zur Last gelegt. Zeugen konnten beweisen, dass mit seiner Hilfe mehr als 2000 Menschen zur Zwangsarbeit in Deutschland geschickt wurden. Afanassjew wurde zur Todesstrafe verurteilt und am selben Tag im Hof der Küchenfabrik in Kolpino erschossen“.

Mit der Befreiung der Gebiete wurden die Kollaborateure und rangniedrigen Nazi-Militärs bei so genannten Volksgerichtsprozessen verurteilt. Das Volksgericht Strugo-Krasnenski führte 16 Schauprozesse im November und Dezember 1943. „Natürlich waren diese Prozesse schlecht organisiert, es fehlten Anwälte, es fehlten ausführliche Dokumentierung, Pressevertreter, Prozessnormen wurden nicht eingehalten“, so Astaschkin.

Parallele zu Nürnberg

Am präzisesten wurden die Verbrechen der Nazis vor der Vorbereitung der öffentlichen Prozesse Ende 1945 bzw. Anfang 1945, die in den acht am stärksten betroffenen sowjetischen Städten stattfanden, untersucht. Laut Verordnungen des Ministerrats der Sowjetunion wurden vor Ort spezielle Ermittlungsteams gebildet, die Archive, die Akte der Außerordentlichen Staatskommission zur Aufstellung und Untersuchung der Untaten der deutsch-faschistischen Eroberer und ihrer Helfershelfer sowie Fotodokumente analysierten, Tausende Zeugen  und hunderte Kriegsgefangenen befragt.

Bei den ersten sieben diesen Prozessen (Brjansk, Smolensk, Leningrad, Welikije Luki, Minsk, Riga, Kiew und Nikolajew) wurden 84 Kriegsverbrecher verurteilt. Die meisten von ihnen wurden erhängt. In Kiew versammelten sich mehr als 200.000 Augenzeugen, wie zwölf Nazis auf dem Kalinin-Platz (Heute Unabhängigkeitsplatz) erhängt wurden. Laut dem Erlass N39 blieben die Leichen der Erhängten drei Tage in der Schlinge.

Die Organisatoren der Prozesse wollten die Angeklagte wie eine kriminelle Bande präsentieren: Generäle als Organisatoren der Hinrichtungen, Offiziere mittleren Ranges als Koordinatoren, Soldaten als Vollzieher. In diesem Kettenglied gab es manches Mal Lücken  – so gerieten in die Liste des Brjansker Prozesses nur zwei Organisatoren und zwei Vollzieher (eine ungewöhnlich kleine Liste für Nachkriegsgerichtsprozesse).

Die sowjetischen Zeitungen betonten, dass öffentliche Nachkriegs-Gerichtsprozesse ein sowjetisches Pendant für die Nürnberger Prozesse seien. Die Zeitungen „Prawda“ und „Iswestija“ veröffentlichten auf einer Seite Informationen über die  Sitzungen des Internationalen Gerichtshofs und der Militärgerichte in sowjetischen Städten.

„Sie wurden nicht nur von Zeitungen, sondern sogar von der Anklage und Verteidigung miteinander  verglichen“, so Astaschkin. „Staatsankläger Lew Smirnow in Smolensk erklärte die Verkettung der Verbrechen von den  Nazi-Anführern, die in Nürnberg angeklagt wurden, bis zu zehn konkreten Henkern auf der Klagebank. Sowohl die einen als auch die anderen sind Teilnehmer einer und derselben Mittäterschaft. Anwalt Kasnatschejew (er war übrigens beim Charkower Prozess tätig) sprach auch von einer Verbindung zwischen den Verbrechern von Nürnberg und Smolensk, aber mit einer anderen Schlussfolgerung: Ein Gleichheitszeichen kann nicht zwischen allen diesen Personen gesetzt werden“.

Die Details der Untaten, die auf öffentlichen Prozessen ans Licht kamen, schockieren noch heute. Beim Smolensker Prozess wurden die medizinischen Experimente von Rudolf Modisch erörtert – Assistent des deutschen Kriegslazaretts Nr.551. Nachdem bei sowjetischen Kriegsgefangenen Blut und manchmal auch Rückenmarksflüssigkeit entnommen wurde, tötete Modisch sie unter dem Deckmantel einer „medizinischen Spritze“. „In jedem Russen sah man nur ein Tier. Das wurde uns jeden Tag von den Leitern eingeflößt“, so Modisch. Deswegen hätten sich die Deutschen keine Gedanken bei Ermordungen und anderen Verbrechen gemacht, weil die Russen in ihren  Augen keine Menschen waren. So kamen mindestens 23 Gefangene ums Leben.

Beim späteren Prozess von Stalino waren die Nazis wegen Mordes an mehr als 75.000 Menschen, die in einen Schacht geworfen wurden (einige lebendigen Leibes) und mit Alkali begossen, angeklagt. Ähnliche Verbrechen wurden auch in anderen Städten im Donezbecken verübt.

In Gomel wurden die Gaswagen-Fahrer Hericke und Grundmann angeklagt, die rund 10.000 Menschen in ihrem Gaswagen vergifteten. Vor Gericht erzählten sie ganz gelassen über diese Ereignisse, als ob es nicht um den schrecklichen Mord an Frauen, Kindern und Greisen ging.

Ohne Todesstrafe

Seit dem Frühjahr 1947 wurden in Abstimmung mit Innenminister Sergej Kruglow und Außenminister Wjatscheslaw Molotow die Vorbereitungen auf die zweite Runde der Schauprozesse gegen deutsche Militärs begonnen.

Bei den nächsten neuen Prozessen in Stalino (Donezk), Sewastopol, Bobrujsk, Tschernigow, Poltawa, Witebsk, Nowgorod, Chisinau und Gomel, die auf Anordnung des Ministerrats vom 10. September 1947 stattfanden, wurden 137 Menschen zu Haftstrafen im Verbannungsort Workutlag verurteilt. Da im Mai 1947 die Todesstrafe  durch Erlass des Präsidiums des Obersten Rats der Sowjetunion aufgehoben wurde, wurde die höchste Strafe nicht mehr verhängt.

Jede Gruppe der Angeklagten wurde in der Regel in einer größeren Stadt in dem Gebiet, wo sie die meisten Verbrechen begingen, vor Gericht gestellt. Doch wie bei den Prozessen von 1945 bis 1946 gab es 1947 einige Fälle, als Personen unter anderem für Verbrechen, die in anderen Republiken der Sowjetunion begangen wurden, vor Gericht gestellt wurden. So wurden drei von 19 Angeklagten der Nowgoroder Prozesse 1947 auch Verbrechen zur Last gelegt (Mord an rund 500 Menschen unter Vorwand des Kampfes gegen Partisanen), die im Gebiet Witebsk verübt wurden.

Aus politischen Gründen waren bei den öffentlichen Prozessen von 1945 bis 1947 die Namen der Kollaborateure fast nicht zu hören. „Wegen dieser Vertraulichkeit wurden viele Verräter mit Blut an den Händen außer Acht gelassen, weil die Befehle der Nazi-Organisatoren der Hinrichtungen gerne von  Verrätern aus Ostbataillonen, Jagdkommandos, nationalistischen Einheiten vollzogen wurden“, so Astaschkin. „So wurde beim Nowgoroder Prozess  im Jahr 1947 Oberst Werner Findeisen, Koordinator der Bestrafer des Ostbataillons Schelon, vor Gericht gestellt. Im Dezember 1942 trieb das Bataillon auf den vereisten Fluss Polist alle Einwohner der Dörfer Bytschkowo und Potschinok zusammen und exekutiert sie per Schusswaffe. Die Verräter wiesen ihre Verantwortung zurück, und die Ermittler konnten die Verfahren gegen hunderte Henker im Fall Findeisen nicht mit Fakten oder Geständnissen untermauern. Ohne Klärung der Anklagepunkte bekamen sie allgemeine Fristen für Verräter und wurden zusammen mit allen anderen im Jahr 1955 amnestiert. Anschließend versteckten sie sich an verschiedenen Orten, erst später wurde die persönliche Verantwortung jedes einzelnen von ihnen zwischen 1960 und 1982 bei unzähligen öffentlichen Prozessen untersucht. Nicht alle wurden gefasst“.

Der letzte öffentliche Prozess gegen ausländische Kriegsverbrecher, der von Historikern einzeln untersucht wurden, war der Chabarowsker Prozess 1949 gegen die japanische Entwicklern einer Biowaffe. Diese Waffe wurde an sowjetischen und chinesischen Staatsbürgern ausprobiert. Vor dem Internationalen Gerichtshof in Tokio wurden entsprechende Verbrechen nicht untersucht – den Angeklagten wurde von den US-Behörden Immunität vor gerichtlicher Verfolgung  im Tausch gegen Informationen über die Tests zugesagt. In Chabarowsk erschienen vor Gericht zwölf ehemalige Militärs der Kwantung-Armee – von General bis zum Laboranten, die zu Haftstrafen in Lagern von drei bis 25 Jahren verurteilt wurden.

Prozesse im Schnelldurchlauf

Alle öffentlichen Prozesse wurden von den Militärgerichten des jeweiligen Militärbezirks durchgeführt. Sie verliefen in speziellen Gebäuden mit entsprechenden Kapazitäten für Zuschauer: Universitäten, Klubs, Theaters und Kinos, Offiziers- oder Kulturhäuser. Der Rundfunk berichtete über die Gerichtssitzungen über Lautsprechern auf den Straßen, zuweilen wurde vor dem Gerichtssaal Fotoausstellungen über die Untaten der Nazis organisiert. Unter den Zuschauern gab es Agenten des Staatssicherheitsdienstes, die Mängel bei der Organisation der Prozesse und die Reaktionen der Bevölkerung beobachteten  mussten.

Die Beweisgrundlagen bildeten Akten der Außerordentlichen Staatskommission. Während der Prozesse wurden öffentlich Zeugen befragt, die von der Klägerseite eingeladen wurden – sowjetische Staatsbürger, darunter Minderjährige, Kollaborateure und deutsche Kriegsgefangenen sowie Experten. Viele Angeklagten gestanden ihre Schuld und baten das Gericht um Nachsicht.

Den Angeklagten wurden sowjetische Anwälte zur Verfügung gestellt, darunter bekannte Juristen. Einige Angeklagten bevorzugten es, sich selbst zu verteidigen. Wie in Nürnberg betonten die Anwälte oft, dass ihre Mandanten einfach Befehlen folgten – so schlug Anwalt Bykow während des Nikolajew-Prozess dem Gericht vor, den Angeklagten Happ für gedankenlosen Automaten zu halten, der nicht berechtigt war, zu denken und zu fühlen.

Die öffentlichen Prozesse wurden in relativ kurzer Zeit zum Abschluss gebracht. Während bei den US-amerikanischen kleinen Nürnberger Prozessen die Gerichtsfälle einige Monate lang untersucht wurden, dauerte der kürzeste sowjetische Prozess drei Tage und der längste - der Minsker Prozess - zwei Wochen. Astaschkin erklärt dies mit der Hast bei den Ermittlungen und Druck seitens Moskaus, was dazu  führte, dass die Justiz nicht ganz ihrer Rolle gerecht wurde: „Hätten die Ermittler es nicht so eilig gehabt, wären noch viele verdeckte Kriegsverbrechen der Nazis ans Licht gekommen“.

Bereits nach der Freilassung der Verurteilten sagten einige von ihnen, dass die Ermittlungen grausam verliefen – so beklagte sich Werner Findeisen über „Folterungen mit Instrumenten“. Wie es aus sowjetischen Dokumenten folgt, brachte er ähnliche Beschwerden bereits während der Ermittlungen zum Ausdruck. Während des Verhörs sagte er, dass er unschuldig sei und dementierte die zuvor gegebenen Aussagen, weil im Innenministerium Tatarstans gegenüber ihm angeblich unerlaubte Ermittlungsmethoden angewendet wurden. Dabei sagte er dem Agenten in der Zelle: „Falls ich vor Gericht gestellt werde, werde ich auf dem Prozess auf meine Aussagen verzichten, und wenn ich wieder befragt werde, werde ich nach jeder Aussage eine Unterschrift setzen“. Seine Aussagen wurden damals nochmals geprüft – Ermittler suchten den  Ort seiner Taten auf. Dennoch sagte er vor Gericht aus. Andere Beschwerden wurden in den Unterlagen nicht entdeckt.

Deswegen ist eine Analogie mit den sowjetischen politischen Schauprozessen aus den 1930er-Jahren laut dem Historiker unbegründet. „Die Prozesse der 1930er-Jahre ist ein Verstoß gegen die Prozessrichtlinien, Manipulation und extrem grausame Folterungen. Die Schuld wurde von den Ermittlern zynisch erfunden“, so Astaschkin. „Die Grundlage der öffentlichen Prozesse gegen Kriegsverbrechen bildete die tatsächliche Schuld mit sehr vielen realen Beweisen. Angesichts der Öffentlichkeit wurde besondere Aufmerksamkeit der Gesundheit der Kriegsgefangenen und Überprüfung ihrer Beschwerden gewidmet. Für einen öffentlichen Gerichtsprozess wurden nur jene ausgewählt, deren Schuld mehrmals bewiesen wurde. Und die nächtlichen Verhöre waren tatsächlich eine häufige Erscheinung – alles wurde im Schnellverfahren erledigt“.

Gerichte sollen geschlossen und Verurteilte freigelassen werden

Seit 1947 verliefen die einzelnen öffentlichen Prozesse  zunehmend hinter verschlossenen Türen. „Bereits am 24. November wurde eine Verordnung des Innenministeriums der Sowjetunion, des Justizministeriums der Sowjetunion und der Staatsanwaltschaft Nr737/18/15/311 verabschiedet, bei der die Verfahren der Angeklagten wegen Kriegsverbrechen bei geschlossenen Sitzungen der Militärgerichte des Innenministeriums (also fast ohne Zeugen) ohne die beteiligten Seiten behandelt werden und die Schuldigen zu Haftstrafen von 25 Jahren Arbeitslager verurteilt werden sollten“, so Astaschkin.

Das Schicksal der bereits bei den Prozessen Verurteilten, besonders in den Jahren zwischen 1947 und 1949 erinnert in vielerlei Hinsicht an das Schicksal der US-amerikanischen „kleinen Nürnberger Prozesse“.

Im September 1955 erkannte die Sowjetunion die Bundesrepublik Deutschland an. Bis Ende des darauffolgenden Jahres wurden alle Verurteilten, die noch lebten, im Rahmen der so genannten Adenauer-Amnestie repatriiert. Die Ermittlungsverfahren liefen in der Bundesrepublik nicht weiter, deswegen mussten ihre Strafen weiterhin nur die Staatsbürger Ungarns und der DDR in ihrer Heimat abbüßen. In anderen Ländern, vor allem in der BRD und Japan, ließen die Behörden die Angeklagten der „sowjetischen Nürnberger Prozesse“ frei. Unter ihnen gab es sowohl „kleinere Fische”, als auch jene, die wegen schwerwiegender Verbrechen verurteilt wurden.

Anschaulich, aber gerecht

Forscher schätzen die rechtskonformen Aspekte der sowjetischen Nürnberger Prozesse unterschiedlich ein. Einige Historiker, insbesondere ausländische, bezeichnen sie als politisches Schauspiel, einige sehen darin eine gerechte Vergeltung für Kriegsverbrechen.

Der deutsche Forscher Andreas Hilger ist der Ansicht, dass sich die öffentlichen Prozesse de facto kaum von geschlossenen Prozessen unterschieden – die beiden hingen von den Beschlüssen der Behörden und nicht vom Recht ab. Angeklagte, Ort und Zeit dieser Schauprozesse wurden bewusst aus einer großen Masse tauglicher Fälle von  Kriegsverbrechen ausgewählt, um die größte Auswirkung zu erreichen, so Hilger. Die beweisbare, individuelle Schuld für die Verbrechen, genauer gesagt, in den Massenverbrechen, die bei den  Gerichtssitzungen beleuchtet wurden, spielte bei dieser Wahl nur eine zweitrangige Rolle. Damit unterschieden sich die öffentlichen Prozesse überhaupt nicht von parallel laufenden Prozessen hinter verschlossenen Türen, was den Mechanismus der politischen Steuerung betreffe, so der Experte.

Sein Kollege Manfred Zeidler hebt hingegen die juristische Vollwertigkeit der öffentlichen Prozesse von 1946 bis 1947 hervor. Alle Prozesse waren öffentlich, kennzeichneten sich durch ein hohes Niveau rechtlicher Formalität, darunter neben dem Verhören von mehr als 300 Zeugen, sowie das Recht der Angeklagten auf rechtlichen Schutz. Die sowjetische Presse beleuchtete ausführlich die Ereignisse in den Gerichtssälen, wobei die Aussagen der Zeugen und Angeklagten zum Teil wörtlich zitiert wurden.

Doch kein  Experte hatte Zweifel an der Schuld der Angeklagten. „Die Propaganda lief  in absolut allen sowjetischen Institutionen, darunter die Justiz, weshalb die öffentlichen Prozesse eine politische Bedeutung hatten, insbesondere zur Kompromittierung der neuen Ordnung der Nazis in den Augen der Einwohner der zuvor besetzten Gebiete“, so Astaschkin. „Doch das Hauptziel der Prozesse war die Suche nach Kriegsverbrechen“.

Für die sowjetischen Nürnberger Prozesse spricht auch die Tatsache, dass keiner der Angeklagten in den 1990er-Jahren rehabilitiert wurde, als die Verfahren zu den Opfern politischer Repressalien revidiert wurden.

„Das Urteil der öffentlichen Prozesse (im Unterschied zu den geschlossenen, wo es an Beweisen mangelte) kann selbst nach heutigem Maß als begründet bezeichnet werden. Zudem wurden für die öffentlichen Prozesse Verdächtige ausgewählt, deren Schuld rein faktisch, mittels sowjetischer Zeugen und Kriegsgefangener bewiesen wurde. Unter der Last dieser Beweise gestanden fast alle Angeklagten ihre Schuld. Auch die zentralen und lokalen Behörden sowie die Mehrheit der Bevölkerung waren sich sicher, dass sie schuldig sind“, so Astaschkin.

Der Großteil der Dokumente der sowjetischen Nürnberger Prozesse ist bislang nicht veröffentlicht worden, viele sind weiterhin vertraulich. Doch die Arbeiten mit ihnen gehen weiter – neue Dokumente aus dem FSB-Archiv werden nach und nach auf der Website des Föderalen Archivprojekts „Verbrechen der Nazis und ihrer Helfershelfer gegen friedliche Bevölkerung der Sowjetunion in den Jahren des Großen Vaterländischen Kriegs 1941-1945“ veröffentlicht.

Wir danken dem wissenschaftlichen Mitarbeiter des Sankt Petersburger Instituts für Geschichte der Russischen Akademie der Wissenschaften und Dozenten der Staatlichen Universität Nowgorod, Dmitri Astaschkin, für seine Unterstützung bei der Erstellung des Artikels.

 

Quelle:

 

Jewgeni Wolkow, Igor Sibirjakow. Sewastopoler Gerichtsprozess 1947 über Kriegsverbrechen: Symbolische Praktiken der Macht

Dmitri Astachkin, Sergej Koslow. Sie stehen vor Gericht: Rekonstruktion des Gerichts gegen Nazi-Kriegsverbrecher in Nowgorod

Dmitri Astaschkin. Prozesse gegen Nazi-Verbrechen in der Sowjetunion 1943-1949

Tamara Kuprewitsch. Wie Nazi-Kriegsverbrecher in Gomel 1947 vor Gericht standen