Während der Militärgerichtshof in den Weihnachtsferien war, erstellte die Abteilung für Informationskontrolle der US-Armee eine soziologische Studie in ihrer Besatzungszone. Ihre Mitarbeiter untersuchten folgende These: Stimmt es, dass die Deutschen kaum Interesse für den Prozess gegen die Kriegsverbrecher zeigen?
“Man will den Deutschen ihre Würde nehmen”
Die Umfrage wurde von US-Militärs und deutschen Staatsbürgern in rund 40 Städten und Dörfern durchgeführt. Die Befragten kamen aus verschiedenen sozialen Gruppen – Arbeiter, Mittelklasse und Intelligenz. Die Studie zeigte, dass die Nürnberger Prozesse einen größeren Einfluss auf einkommensstarke Personen haben.
Die "New York Times" veröffentlichte einige Zahlen der Studie.
Sind die Angeklagten schuldig?
80% — alle Angeklagten sind schuldig
11% — nicht alle sind schuldig.
Wer von den Angeklagten soll freigesprochen werden?
5% — Rudolf Heß
2% — Franz von Papen
2% — Konstantin von Neurath
je 1% — Erich Raeder, Hjalmar Schacht, Karl Dönitz, Wilhelm Keitel und Albert Speer
(Letzten Endes werden sich die Landsleute der Angeklagten als sehr weitsichtig erweisen. Gegen diese Personen, ausgenommen Keitel, fällt das Gericht mildere Urteile)
Was war die wichtigste Entdeckung?
29% — Wahrheit über KZ-Lager
12% — Fakten, die die Vorbereitung auf einen Angriffskrieg beweisen
Teilnehmer der Umfrage: Kurt Blaum, Oberbürgermeister von Frankfurt am Main: Ohne den Prozess hätte das deutsche Volk nie die Wahrheit über den Überfall auf Polen oder das Anzünden des Reichstags erfahren.
Teilnehmer der Umfrage: Karl Freudenberg, Direktor des Forschungsinstituts für Holz und Polysaccharide: Es sei wichtig, dass die Menschen erfahren, welche Taten im Namen ihres Volkes von der Partei-Riege begangen wurden. Er hoffe, dass wegen der Prozesse nicht alle Deutschen vom Ausland gehasst werden. Kollegen aus der Universität interessieren sich für den Gerichtsprozess. Meine Ehefrau erzählte, dass die Hausfrauen in den Warteschlangen nicht darüber sprechen würden.
Teilnehmer der Umfrage: Rudolf Falk, Mitarbeiter des Wirtschaftsdienstes der Universität Heidelberg: In der „Neuen Zeitung“ vom 14. Dezember gebe es Artikel über einen Kohlemangel in Deutschland, über deutsche Fabriken, die ihre Arbeit wieder aufnehmen, und eine Kolumne mit Nachrichten aus verschiedenen Gebieten der US-Besatzungszone. Das alles sei interessanter als der Nürnberger Prozess.
Teilnehmerin der Umfrage: Leni Pretorius, ehemalige Dozentin der Universität Heidelberg: Aus Gesprächen mit anderen Deutschen könne man sagen, dass der Prozess Hass auslöse, weil er mit dem Ziel durchgeführt werde, den Deutschen, die von Ausländern verurteilt werden, ihre Würde zu nehmen.
Die Abteilung für Informationskontrolle kam zu dem Schluss, dass es bei den Deutschen keine grundlegenden Änderungen zu den Nürnberger Prozessen mit Beginn der Gerichtssitzungen und dem Vorlegen der Beweise gab. Die These der Militärsoziologen fand damit ihre Bestätigung. Der Artikel über die Studie in der „New York Times“ erschien unter dem Titel: „Gericht gegen Kriegsverbrecher sorgt für Frust bei Deutschen“.
Vom psychologischen Krieg zur Informationskontrolle
Die Abteilung für Informationskontrolle wurde am 12. Mai 1945 aus einer Einheit für psychologischen Krieg des Hauptkommandos der Alliiertenkräfte der USA und Großbritanniens gebildet. Die Aufgabe der Einheit während des Krieges war die Demoralisierung des Gegners und die Gewährleistung der ununterbrochenen Propaganda – sowohl in der Luft via Flugblätter als auch per Rundfunk.
Der Abteilung stand US-Generalmajor Robert McClure vor. Er bekleidete den Posten des Direktors der Abteilung für Informationskontrolle.
Am Tag des Sieges, am 8. Mai 1945, schrieb McClure an seine Frau: „Wir werden strikt alle Zeitungen, Kinos, Rundfunksendungen u.a. in Deutschland überwachen! Derzeit kümmert sich meine Abteilung um acht Zeitungen mit einer Auflage von 1.000.000 Stück und versendet rund zwei Millionen Zeitungen in verschiedenen Sprachen per Luft für Vertriebene und Kriegsgefangene. Das größte Zeitungsunternehmen in der Welt.“
Die Ziele der Abteilung waren mit dem Kurs auf die Denazifizierung verbunden – die Deutschen dazu zu bewegen, den Nazismus und Militarismus zu verurteilen, einen demokratischen Staat aufzubauen und die öffentliche Meinung zu bilden, um Zuspruch für das Vorgehen der Alliierten zu erhalten. Die Umfragen waren ein wichtiger Teil der Arbeit des Gremiums. Die Ergebnisse der Umfrage lieferten Aufschluss über das Verhalten der Deutschen gegenüber den Nürnberger Prozessen und der Arbeit der McClure-Abteilung, womit Korrekturen am Aktionsplan zur Entnazifizierung Deutschlands vorgenommen werden konnten.
Quellen:
The New York Times, Vol. XCV, No. 32,120 vom 2. Januar 1946
Alfred H. Paddock Jr. "Major General Robert Alexis McClure: Forgotten Father of US Army Special Warfare"