Konstantin von Neurath stammte aus einer Diplomatenfamilie. Er wurde Außenminister, noch bevor die Nazis an die Macht kamen. Zu Beginn ließ ihn Hitler noch fünf Jahre als Chefdiplomat des Dritten Reiches amtieren. Doch irgendwann stießen die aggressiven Pläne des Führers bei von Neurath auf Widerstand - und er musste seinen Posten verlassen. Später wurde er jedoch zum Reichsprotektor in der okkupierten Tschechoslowakei ernannt. Am Ende durfte er eine Rente beanspruchen, musste sich aber auch vor dem Nürnberger Gericht verantworten.

Diplomat, Sohn eines Diplomaten

Im Unterschied zu vielen anderen Nazis, die den Nürnberger Prozess überstanden haben, hat von Neurath keine Memoiren hinterlassen. Dabei hätte er wohl viele Dinge erzählen können, wollte das jedoch nicht tun – ob vor Gericht oder auf dem Papier. Er wollte keine eigene Version der Geschichte zum Ausdruck bringen. Deshalb können wir uns jetzt nur an den wenigen Angaben zu seiner  Person und an den wenigen Aussagen seiner Zeitgenossen orientieren.

Konstantin Hermann Karl Freiherr von Neurath kam am 2. Februar 1873 im württembergischen Kleinglattbach zur Welt. Seine Vorfahren väterlicherseits waren schwäbische Adelige, Juristen und Diplomaten. Sein Vater war Oberkammerherr von Württemberg, sein Großvater Außenminister und sein Urgroßvater Justizminister. Seine Mutter Mathilde von Gemmingen war ebenfalls Tochter eines Freiherrn.

Nach seinem Abitur wurde Konstantin Freiwilliger in einem Infanterieregiment. Später studierte er Jura in Tübingen und Berlin. 1892 begann er seinen Dienst im württembergischen Justizministerium (laut einigen Quellen arbeitete er seit 1897 mit einer juristischen Firma zusammen).

1901 wurde von Neurath Mitarbeiter des deutschen Außenministeriums und heiratete im selben Jahr die Bankierstochter Maria Augusta Moser von Filseck, mit der er einen Sohn und eine Tochter hatte.

Zwei Jahre nach der Hochzeit wurde von Neurath zum Vizekonsul in London ernannt. 1909 wechselte er ins Amt des Legationsrats der deutschen Botschaft. 1914 wurde er nach Konstantinopel entsandt, in die Hauptstadt des Osmanischen Reiches, das Deutschlands Verbündeter im Ersten Weltkrieg war. Im selben Jahr wurde von Neurath Infanterieoffizier; für seinen Dienst wurde er mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet. 1916 wurde er schwer verletzt und kehrte für kurze Zeit ins Osmanische Reich zurück.

Am Ende des Kriegs, nämlich 1917 und 1918, stand Neurath an der Spitze der württembergischen Regierung, wobei er auf diesem Posten seinen Onkel Julius von Soden ablöste. 1918 dankte der König Wilhelm II. ab, und ein Jahr später wurde Württemberg eines der Länder der Weimarer Republik.

Er diente der Republik – und wurde auch für Hitler eine Hilf

Nach dem Krieg kehrte von Neurath ins deutsche Außenministerium zurück und wurde 1919 zum Gesandten in Dänemark und zwei Jahre später zum Botschafter in Italien ernannt. Dort arbeitete er bis 1930 und erlebte die Machtübernahme Benito Mussolinis mit. Zwei weitere Jahre, bis 1932, war Neurath Botschafter in London.

Nach seiner Rückkehr nach Berlin befand sich Deutschland in einer ernsthaften politischen Krise. Im Laufe nur eines Jahres hatte das Land gleich drei Regierungen, und in jedem Kabinett bekleidete er den Außenministerposten: zunächst im „Kabinett der Barone“ unter Reichskanzler Franz von Papen, dann unter dessen Nachfolger Kurt von Schleicher und schließlich unter Adolf Hitler.

„Als Neurath das Amt übernahm, hoffte er, seine Macht als Außenminister beizubehalten, indem er den so genannten dynamischen Charakter hatte“, schrieb der deutsche Diplomat Ernst von Weizsäcker. „Ein naher Freund von ihm sagte einmal: ‚Konstantin von Neurath ist ein Mann, der auf das Wild gerne aus einem Versteck schießt, es aber nicht durch Felder jagt‘. Natürlich wurde das Wort ‚Wild‘ im übertragenen Sinne verwendet, aber inhaltlich hat sich diese Aussage nicht verändert. Und Neurath selbst sagte über sich, er sah seine Aufgabe darin, ein Stein zu sein, der einen Wasserstau macht, ohne dem Strom zu schaden. (…) Er war weltgewandt und kannte die Feinheiten des Berufs des Diplomaten. Anders als die meisten Deutschen, empfand er keinen Minderwertigkeitskomplex, wenn es um Beziehungen mit anderen Ländern ging. Neurath kam mit dem diplomatischen Alltag hervorragend zurecht und war bauernschlau.“

Die Beziehungen des Führers mit ausgebildeten Diplomaten waren nicht gerade bestens: Sie waren misstrauisch gegenüber dem von extremistischen Ideen besessenen Gefreiten mit schlechten Manieren. Allerdings wagte Hitler am Anfang nicht, seine Ordnung sofort voranzutreiben – er brauchte Unterstützung großer Profis. Neurath hat insgesamt fünf Jahre an der Spitze des Außenministeriums des Dritten Reiches gestanden.

„Seit dem Moment, als  Hitler 1933 Kanzler, der Angeklagte von Papen Vizekanzler und der Angeklagte von Neurath Außenminister wurde, wurde der Himmel über der Welt trübe, die Hoffnungen der Menschheit wurden begraben, und Verträge bedeuteten keine feierlichen Verpflichtungen mehr – sie wurden mit unübertroffenem Zynismus abgeschlossen, um sie zum Betrug anderer Staaten hinsichtlich der kriegerischen Absichten Deutschlands auszunutzen“, behauptete  der britische Chefankläger Hartley Shawcross in Nürnberg.

„Natürlich war Hitler ein Lügner, und das wurde von Tag zu Tag klarer – er hatte keine Ahnung, was da passierte“, sagte Neurath seinerseits dem Gerichtspsychologen Gustave Gilbert. „Aber am Anfang bemerkte das niemand. Er war, wie man behauptet, ein hervorragender Demagoge. Er hat sehr viele geblendet. Und Verschwörungen wurden tief in der Nacht im Kreis seiner engsten Mitstreiter geschmiedet. Ich bin keiner, der nächtens wach bleibt. Manchmal wurde ich um 01.00, 02.00 oder sogar 03.00 Uhr nachts gerufen. Und gerade in dieser Zeit fanden seine heimlichen Beratungen mit Himmler und Bormann statt.“

Vertrag von Versailles aus der Welt schaffen

Hitlers erste Schritte auf dem internationalen Parkett begrüßte Neurath durchaus. Deutschland, das nach dem Ersten Weltkrieg den erniedrigenden Vertrag von Versailles akzeptieren musste, hat ihn demonstrativ verletzt und bemühte sich dann um die „Reparatur“ seines internationalen Status.

Am 19. Oktober 1933 trat es aus dem Völkerbund und ignorierte seine Beschlüsse hinsichtlich territorialer Streitigkeiten. Am 16. März 1935 unterzeichnete von Neurath das Gesetz über den Aufbau der Wehrmacht, das die allgemeine Wehrpflicht und deren Aufrüstung ausrief. Am 21. Mai verkündete die einseitige Ignoranz der Punkte des Vertrags von Versailles, die die Marine-, Boden- und Luftstreitkräfte betrafen.

„In einer offiziellen Mitteilung  für das US-Außenministerium schrieb ich am 10. Oktober 1935 aus Wien folgendes: ‚Europa kann nicht den Mythos loswerden, dass Neurath, Papen und Mackensen ungefährliche Leute und ‚Demokraten alter Schule‘ wären“, sagte der US-Diplomat George Messersmith, der 1935 bis 1937 Botschafter der Vereinigten Staaten in Österreich  gewesen war, vor Gericht in Nürnberg aus. „In Wahrheit sind sie aber die Waffe des Regimes, seine Sklaven, und gerade weil die Außenwelt sie für harmlos hält, können sie ihre Arbeit umso effizienter leisten. Sie können gerade deshalb Unfrieden säen, weil sie den Mythos verbreiten, sie würden mit dem Regime nicht mitfühlen…“

Am 7. März 1936 betraten die deutschen Truppen das entmilitarisierte Ruhrgebiet und haben es wieder unter ihre Kontrolle genommen. Neurath befürwortete nicht nur diesen Schritt Hitlers, sondern bemühte sich um seine diplomatische Unterstützung, indem er diese Aktion als Reaktion auf den französisch-sowjetischen Vertrag über gegenseitige Hilfe von 1935 bezeichnete.

„Die Einheit des Rassen- und Volkswillens, die vom Nazismus unerhört schnell geschaffen wurde, hat eine solche Außenpolitik ermöglicht, bei der die Fesseln des Versailler Vertrags gerissen wurden – es wurde wieder die Freiheit zum Aufrüsten erreicht und die Souveränität der ganzen Nation wiederhergestellt“, erklärte Neurath in seiner Rede am 29. August 1937. „Wir sind wieder die Herren in unserem eigenen Haus geworden und haben Mittel geschaffen, auf die sich unsere Stärke stützt, damit diese Konstellation für immer und ewig bleibt. De Welt sollte angesichts der Taten und Worte Hitlers bemerkt haben, dass seine Ziele gar nicht aggressiv sind.“

Zu einem weiteren Erfolg wurde der deutsch-japanische Anti-Komintern-Pakt vom 5. November 1936. Neurath gehörte zu den Teilnehmern der Verhandlungen mit Japan, aber unterzeichnet wurde er vom Sonderbotschafter Joachim von Ribbentrop. Und am 25. Oktober wurde in Berlin ein Abkommen mit Italien getroffen, dem zufolge die Einfluss- und Expansionsbereiche in Europa festgelegt wurden (ab jetzt redeten die Faschisten von der „Achse Berlin-Rom“).

Auf dem Höhepunkt seiner Karriere trat von Neurath 1937 der NSDAP bei. Bald darauf wurde er auch SS-Mitglied, und zwar Gruppenführer (sprich Generalleutnant). Später behauptete er, dass sowohl die NSDAP-Mitgliedschaft als auch der hohe SS-Posten ihm quasi aufgedrängt worden wären – aber die SS-Uniform hatte er durchaus offen getragen.

„Er trug zur Machtübernahme durch die Nazi-Verschwörer bei, was im ersten Punkt der Anklageschrift erwähnt ist; er trug zur Kriegsvorbereitung bei, was im ersten Punkt der Anklageschrift erwähnt ist; er beteiligte sich an der politischen Planung und Vorbereitung der aggressiven Kriege der Nazi-Verschwörer bei, die internationale Verträge und Abkommen verletzten, was im ersten und zweiten Punkt der Anklageschrift  erwähnt ist“, erklärte der US-amerikanische Ankläger Sidney Alderman in Nürnberg. „Im Sinne des Führerprinzips übernahm er die Verantwortung für die Erfüllung der außenpolitischen Pläne der Nazi-Verschwörer, was im ersten Punkt der Anklageschrift erwähnt ist; er verordnete Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, beteiligte sich daran und leitete diese, was im vierten Punkt der Anklageschrift erwähnt ist, insbesondere an Verbrechen gegen Menschen in besetzten Gebieten und gegen ihr Eigentum.“

Minister ohne Ministerium

Bald begann der Untergang der Karriere Konstantin von Neuraths. Am 5. November 1937 fand bei Hitler eine geheime Beratung über Probleme der Rüstungsindustrie statt, an der nur sechs Personen teilnahmen, auch der Außenminister. Der Führer redete vom Krieg und bestand darauf, dass Deutschland expandieren sollte, und zwar auf Kosten der mitteleuropäischen Länder: Österreichs und der Tschechoslowakei. Dann würde es den Zugang zu zusätzlichen Lebensmitteln, kürzere und bequemere Grenzen sowie die Möglichkeit für Schaffung neuer Streitkräfte zwecks neuer Aggressionen bekommen.

Neurath war gegen diese Affäre, und am 4. Februar 1938 wurde der Außenminister von Hitler entlassen. Sein Nachfolger im Außenministerium wurde Joachim von Ribbentrop, der dem Führer absolut treu war. Neurath ist weiter Regierungsmitglied geblieben, allerdings als Minister ohne Portefeuille (den Posten behielt er bis zum 30. April 1945) und Präsident des Geheimen Kabinettsrats.

„Fast fünf Jahre lang duldete Hitler Neuraths konservative Methoden. Aber als ihm der Konservatismus nicht mehr gefiel, entließ er ihn vom Ministerposten“, erläuterte Weizsäcker. „Das Tandem Neurath-Ribbentrop, das den Doppelsinn der deutschen Außenpolitik sehr genau widerspiegelte, in der Neurath die Rolle des ‚Markenzeichens‘ spielte, die die aggressiven Absichten tarnte, funktionierte nicht mehr, und am 4. Februar 1938 ernannte Hitler Ribbentrop zum Außenminister.“

Neurath mochte seinen Nachfolger nicht. „Neurath hielt den früheren Außenminister für einen pathologischen Lügner, wie auch seinen Herren – Hitler“, schrieb Gustave Gilbert. „Vom Chefarzt eines Sanatoriums (in Dresden) erfuhr Neurath, dass Ribbentrop 1934 dort als Patient behandelt worden war. Der Arzt erzählte Neurath, dass er Ribbentrop wegschicken musste, denn er hielt ihn für einen Psychopathen – einen Lügner, der sich für seine Taten nicht verantworten konnte; außerdem erzählte der Arzt über seine Vermutungen hinsichtlich der möglichen sexuellen Abweichungen Ribbentrops. Neurath zufolge war Ribbentrop Hitlers ‚Speichellecker‘“.

1938 und 1939 annektierte Deutschland Österreich, dann zwang es die Tschechoslowakei, auf die Sudeten zu verzichten, und schließlich wurde das Land aufgeteilt. Und als Ribbentrop noch seine Koffer in London packte, bemühte sich von Neurath darum, den tschechoslowakischen Gesandten in Berlin, Vojtěch Mastný, zu überzeugen, dass die Ereignisse in Österreich keine Rolle für die deutsch-tschechischen Beziehungen spielen würden und dass Deutschland keine feindseligen Absichten gegenüber der Tschechoslowakei hätte. Natürlich war das eine Lüge.

„Von Neurath, Diplomat alter Schule, der vor den Nazis mit seinen großen Erfahrungen prahlte, leitete in den frühen Jahren die nazistische Diplomatie, beruhigte die künftigen Opfer und festigte als Reichsprotektor in Böhmen und Mähren Deutschlands Positionen vor dem künftigen Überfall auf Polen“, sagte der US-amerikanische Chefankläger Robert Jackson in seiner Abschlussrede.

Vom Reichsprotektor zum Rentner

Offenbar aus Dankbarkeit für solche Dienste hat Hitler von Neurath nach der Aufteilung der Tschechoslowakei nach Prag entsandt. Dort wurde er zum ersten Reichsprotektor von Böhmen und Mähren (das war alles, was von Tschechien übrig geblieben war). Hitlers engerer Mitstreiter, Albert Speer, sagte, dass der Führer mit der Ernennung des Diplomaten alter Schule bei den Briten und Franzosen den Eindruck hervorrufen wollte, dass sie vor Deutschland keine Angst haben müssten. Allerdings ließen sich diese nicht beeindrucken und gaben Polen, das Hitlers nächstes Opfer werden sollte, die Sicherheitsgarantie ab.

Deshalb musste sich der Reichsprotektor nicht mehr mäßigen. In Böhmen und Mähren wurde ein grausames Polizei-Regime etabliert, das der Journalist Julius Fučík in seinem Buch „Reportage unter dem Strang geschrieben“ ausführlich geschildert hat. Neurath trieb die Nürnberger Rassengesetze intensiv voran, unterdrückte unabhängige Medien, politische Parteien und die Gewerkschaften sowie jegliche Studentenproteste. Bald nach seiner Ernennung wurde ihm der Verdienstorden vom Deutschen Adler verliehen, der für Ausländer bestimmt war (bis dahin war unter allen Deutschen nur Ribbentrop mit diesem Orden ausgezeichnet worden). Mit seinem Dekret im August 1939 etablierte Neurath das „Geiselsystem“: Das Dokument sah nämlich vor, dass für jede Sabotageaktion nicht nur einzelne Personen, sondern die ganze tschechische Bevölkerung die Verantwortung übernehmen müsste.

Allerdings zeigte sich der alte Diplomat nicht eifrig genug im Kampf gegen den tschechischen Widerstand. Das nutzten die Geheimdienste der Nazis aus, die  dem Führer einen Bericht mit Kritik am Reichsprotektor vorlegten.

Ende September 1941 teilte Hitler von Neurath mit, dass zu seinem Stellvertreter der RSHA-Chef Reinhard Heydrich ernannt werde. Neurath, der seine Macht mit dem fanatischen und sehr grausamen Nazi nicht teilen wollte, reichte das Rücktrittsgesuch ein. Aber der Führer entscheid anders: von Neurath wurde in den „fristlosen Urlaub“ geschickt, während Heydrich amtierender Reichsprotektor wurde. Dieser handelte ganz anders als sein Vorgänger: Er griff auf Repressalien gegen „Verdächtige“ zurück, ließ alle Synagogen schließen und schickte tschechische Juden massenweise ins KZ Theresienstadt. Arbeiter genossen dagegen verbesserte Arbeitsbedingungen – sie wurden mit Lebensmitteln besser versorgt, und ihre Löhne wurden erhöht.

Als Heydrich am 27. Mai 1942 von tschechischen Widerstandskämpfern tödlich verletzt wurde, wurde zum neuen amtierenden Reichsprotektor der NSDAP-Veteran Kurt Daluege ernannt. Allerdings blieb von Neurath formell weiterhin im Amt. Erst am 24. August 1943 wurde seinem Rücktrittsgesuch stattgegeben, auf ihn folgte der frühere Innenminister Wilhelm Frick.

Kurz zuvor hatte Neurath zu seinem 70. Geburtstag vom Führer 250 000 Reichsmark erhalten. Trotz dieses großzügigen Geschenks ließ er sich auch im Ruhestand die Politik des Dritten Reiches nicht gefallen, kritisierte die Verfolgung der Kirche und knüpfte sogar Kontakte mit den Teilnehmern der so genannten „Verschwörung der Generäle“ von 1944. Zwar wurden ihre Teilnehmer grausam bestraft, aber von Neurath blieb für die Gestapo unantastbar – und blieb weiter auf seinem Landgut leben.

Die Terrasse seines Hauses war mit Jagdtrophäen „geschmückt“: einem Jagdhorn und Rehgeweihe mit der Aufschrift: „Getötet im November 1940 in Mähren“. Das war sehr makaber: Unter Neurath waren in Mähren immerhin Tausende Männer und Frauen ermordet und totgefoltert worden.

Auf der Anklagebank

Sein ruhiges und friedliches Leben fand im Mai 1945 ein Ende, als von Neurath von den französischen Besatzungsbehörden festgenommen wurde. Und bald darauf begann der Nürnberger Prozess. Dort musste er sich für seinen Dienst als Hitlers Minister, wie auch für seine Rolle bei der Besetzung der Tschechoslowakei verantworten. Im Laufe des Prozesses wurde er mehrmals ohnmächtig, und die Ärzte mussten sich um ihn kümmern.

„Als er 70 wurde“, erinnerte der britische stellvertretende Ankläger David Maxwell Fyfe, „hatten die meisten deutschen Zeitungen seine jahrelangen Aktivitäten im Interesse des Nazi-Regimes gelobt. Diese Aktivitäten erfolgten in zwei Richtungen:

1. Er vertrat die innere ‚fünfte Kolonne‘ in den konservativen politischen Kreisen Deutschlands. (…)

2. Sein früherer Ruf als Diplomat ließ die öffentliche Meinung im Ausland nur schwer daran glauben, dass er Mitglied einer solchen Regierung sein konnte, die ihre Verpflichtungen nicht erfüllte. Für Hitler war es äußerst wichtig, dass seine eigene Absicht zur Verletzung von allen Verträgen und Verpflichtungen möglichst lange verdeckt blieb. Und zu diesem Zweck hat er mit dem Angeklagten seine beste Waffe gefunden.“

Neurath selbst wollte keine Aussagen machen, erzählte die sowjetische Dolmetscherin bei dem Nürnberger Prozess, Margarita Nerutschewa. „Seine Antworten auf direkte Fragen waren überwiegend kurz und knapp: ‚Ich kann mich daran nicht erinnern‘, ‚Ich weiß es nicht‘, ‚Ich glaube nicht‘, ‚Ich habe meine Zweifel‘ usw.“, erinnerte sie sich. „Und vor allem versuchte er, die ganze Verantwortung denjenigen zu geben, die nicht mehr am Leben waren. (…) Auf die Frage des Anklägers, ob er gewusst hatte, dass Juden zusammengeschlagen, getötet, von ihren Familien getrennt, in Konzentrationslager geworfen worden waren, dass ihr Eigentum vernichtet oder unter seinem Wert verkauft worden war, antwortete der Verbrecher: ‚Ich habe gehört, dass man sie dort verprügelt hätte, aber damals wurden Juden nicht getötet, oder möglicherweise war das nur ein Einzelfall‘.“

Seine eigene Schuld räumte er weder bei den Gesprächen mit dem Gerichtspsychologen noch bei Gesprächen mit den anderen Angeklagten ein – selbst nach den am meisten schockierenden Offenbarungen während des Nürnberger Prozesses. Dabei war er äußerst wortkarg – sogar in den Briefen an seine Frau. Also hat niemand erfahren, was der Edelmann Konstantin von Neurath in Wirklichkeit über die Geschichte des Dritten Reiches gedacht hatte, wie auch über seine eigene Rolle in dieser Geschichte.

 

Quellen:

Neurath, Konstantin von // Große russische Enzyklopädie

Stenogramm des Nürnberger Prozesses, Bänder I, II, V /Aus dem Englischen übersetzt und erstellt von Sergej Miroschnitschenko

William Shirer. Aufstieg und Fall des Dritten Reiches

David Mark Gilbert. Nürnberger Tagebuch.

Ernst von Weizsäcker. Der Botschafter des Dritten Reiches. Erinnerungen eines deutschen Diplomaten

Margarita Nerutschewa. 40 Jahre Einsamkeit. Notizen einer Militärdolmetscherin

Annie Lacroix-Riz. Le Vatican, l’Europe et le Reich : de la Première Guerre mondiale à la guerre froide

Ann Tusa; John Tusa. The Nuremberg Trial

 

Daniil Sidorow