Julius Streicher war der verrufenste Angeklagte bei den Nürnberger Prozessen. Als Gauleiter von Franken wurde er durch Gewalt, unsittliches Verhalten und Korruptionsvorwürfe bekannt. Seine antisemitische Zeitung „Der Stürmer“ sorgte selbst bei der Nazi-Riege für Abneigung. Streicher hätte bereits im Dritten Reich hingerichtet werden können, hätte Hitler nicht seine Hand über ihn gehalten.

Von Antisemitismus zum Nazismus

Julius Sebastian Streicher wurde am 12. Februar 1885 im bayerischen Fleinhausen geboren. Er war eines von neun Kindern eines Volksschullehrers.  Eine Zeitlang war auch er  als Schullehrer tätig.

Vor dem Ersten Weltkrieg diente Streicher ein Jahr als Freiwilliger, wurde aber aus der Armee wegen Disziplinlosigkeit verbannt. Anschließend wurde ihm verboten, in den deutschen Streitkräften zu dienen. Doch der Krieg änderte alles. Als Soldat bewies er Mut, wurde mit dem Eisernen Kreuz der I. und II. Klasse ausgezeichnet und zum Leutnant befördert.

Nach dem Krieg ließ sich Streicher in Nürnberg nieder und arbeitete als Schullehrer, allerdings zeigte er auch großes Interesse an Politik. 1919 gründete er einen Nürnberger Ableger der rechtsextremen Deutschsozialistischen Partei, einer Partei mit radikalen antisemitischen Kräften.

Zwei Jahre später versuchten einige NSDAP-Mitglieder, die Adolf Hitler den Habitus eines Diktators vorwarfen, mit der Deutschsozialistischen Partei Kontakt aufzunehmen. In der Partei kam es deswegen  zu einem Konflikt, doch Hitler hielt seine Stellung, während Streicher eine gemeinsame Sprache mit ihm finden konnte. Hitler sagte, dass egal sei, welche Menschen ihn umgeben, wichtig sei, sie sollen der Sache helfen. Am 8. Oktober 1922 trat Streicher zusammen mit anderen Nürnberger Mitgliedern der Deutschsozialistischen Partei der NSDAP bei.

Lügenmärchen aus dem Hinterhof

Seit 16. April 1923 gab Streicher das antisemitische Hetzblatt „Der Stürmer“ heraus. Er selbst schrieb die wichtigsten Artikel für die Zeitung und  nahm dabei kein Blatt vor dem Mund. Er veröffentlichte Artikel über Ritualmorde „arischer Kinder“ durch die Juden, Briefe eines Patienten einer psychiatrischen Klinik mit der Beschwerde,  dass Juden ihn dorthin gebracht hätten, Listen von Frauen, die mit jüdischen Kerlen tanzten. Auch frivole Erzählungen und pornografische Karikaturen gehörten zum Inhalt. Zugleich versuchte Streicher, dem Antisemitismus einen „akademischen“ Ton zu verleihen, indem er auf die pseudowissenschaftliche Theorie der Telegonie zurückgriff:  Wenn der erste Mann einer arischen Frau ein Jude war, dann kann sie nie mehr gesunde und nach der Rassenlehre der Nazis arisch reine Kinder zur Welt bringen.

Das Blatt hetzte gegen Juden mit Titeln wie diesen: „Juden – Schänder der Rasse – bei der Arbeit“, „15-jähriges Mädchen nicht jüdischer Herkunft vergewaltigt“, „Gefährlicher Schänder der Rasse“, „Er betrachtet die deutsche Frau als seine Beute“, „Jüdisches Institut für Kultivierung der Rassenschändung“, „Vergewaltigung einer schwachsinnigen Frau“, „Jüdischer Diener beraubt seine jüdischen Herren  und schändet die Rasse“. „Der Stürmer“ war zwar kein offizielles Blatt der Nazi-Partei, doch Mitte der 1930er-Jahre lag die Ausgabe bei fast einer halben Million Exemplare. “Der Stürmer” war in den Zeitungsständen in ganz Deutschland zu sehen.

„Die Anklage gegen diesen Angeklagten kann wohl in einigen Worten dargelegt werden, wenn wir uns an den inoffiziellen Titel, den er selbst nahm, erinnern und zwar – Judenhetzer Nummer eins“, sagte der britische Nebenkläger John Griffith-Jones bei den Nürnberger Prozessen. „Im Laufe von 25 Jahren erzog er das ganze deutsche Volk im Geiste des Hasses und hetzte zur Verfolgung und Ausrottung der jüdischen Rasse auf. Er war Komplize der Morde, die in einem beispiellosen Maß begangen wurden“.

Mit dem Führer befreundet

Am 8. November 1923 ereignete sich der Bierputsch – die Nazis versuchten, die Macht in München an sich zu reißen. Damals marschierte Streicher in der ersten Reihe neben Hitler. Einige Augenzeugen erzählten, als Polizisten den Marsch der Nazis  stoppten, schoss Streicher als Erster. Daraufhin erschoss die Polizei 16 Demonstranten. Bei den ersten Schüssen schmiss sich Hitler sofort auf den Boden, dasselbe tat Streicher.

Vielleicht finden sich ein oder zwei Menschen, denen die Nase Streichers nicht gefalle, erzählte später Hitler. Doch am damaligen Tag, als er neben mir auf den Pflastersteinen vor der Feldherrnhalle lag, schwor ich, dass ich ihn nicht im Stich lasse, solange er bei mir stehe, so Hitler.

Hitler hielt sein Versprechen. Als er nach einer kurzen Gefängnisstrafe freigelassen wurde, ernannte er Streicher 1925 zum Gauleiter Nürnbergs. Er war immer noch Schullehrer und zwang seine Schüler, ihn mit „Heil Hitler!“ zu begrüßen. Drei Jahre später wurde Streicher jedoch wegen Propaganda antisemitischer Ideen aus dem Schuldienst entlassen.

Streicher konzentrierte sich auf seine Parteikarriere. 1929 wurde er Gauleiter von Franken und von den Nazis in den bayerischen Landtag gewählt. 1933 wurde er Reichstagsabgeordneter von Thüringen. 1934 wurde er von Hitler zum SS-Gruppenführer befördert.

Gauleiter mit Peitsche

Im Dritten Reich verschärfte sich der Antisemitismus Streichers. Am 1. April 1933 rief er zum Boykott jüdischer Unternehmen auf und übernahm die Leitung dieses Boykotts. 1935 begrüßte er voller Enthusiasmus die Verabschiedung der Nürnberger Rassengesetze. 1937 sagte Streicher, dass der Jude sich immer vom Blut anderer Völker ernähre, er brauche immer Mord und Opfer. Der Sieg komme erst, wenn die ganze Welt judenfrei werde. Am 10. November 1938 zeigte er unverblümt seine Begeisterung für die  Kristallnacht – Pogrome gegen Juden in Deutschland.

In dieser Zeit wurde vom „Stürmer“ das Kinderbuch „Der Giftpilz“ herausgegeben, das davon handelte, dass Juden wie Giftpilze seien. Ein Auszug aus diesem Buch (und es wurde von Kindern gelesen!):  „Inge wartet (im Vorzimmer des Arztes – Anm.d.Red.) nun schon eine Stunde lang. Wieder greift sie nach den Zeitschriften und versucht zu lesen. Da öffnet sich die Türe. Inge blickt auf. Der Jude erscheint. Ein Schrei dringt aus Inges Mund. Vor Schreck lässt sie die Zeitung fallen. Entsetzt springt sie in die Höhe. Ihre Augen starren in das Gesicht des jüdischen Arztes. Und dieses Gesicht ist das Gesicht des Teufels. Mitten in diesem Teufelsgesicht sitzt eine riesige, verbogene Nase. Hinter den Brillengläsern funkeln zwei Verbrecheraugen. Und um die wulstigen Kippen spielt ein Grinsen. Ein Grinsen, das sagen will: Nun hab’ ich dich endlich, kleines deutsches Mädchen! Und dann geht der Jude auf sie zu. Seine fleischigen Finger greifen nach ihr. Nun aber hat sich Inge gefasst. Noch ehe der Jude zupacken kann, schlägt sie mit ihrer Hand in das fette Gesicht des Judenarztes. Dann ein Sprung zur Türe. Atemlos rennt Inge die Treppe hinunter. Atemlos stürzt sie aus dem Judenhaus“.

Der Gauleiter von Franken hatte selbst im Dritten Reich einen äußerst schlechten Ruf. „Bekannter Wüstling, der mit seinen sexuellen Abenteuern prahlte und sogar die Männer seiner ehemaligen Liebhaberinnen erpresste, wurde damit bekannt und reich, dass er ein eklatanter antisemitischer Fanatiker war“, schrieb William Lawrence Shirer. „Schamlose Artikel des Wochenblatts wirkten auf viele Nazis abstoßend. Streicher war auch wegen seiner pornografischen Neigung bekannt“.

Laut Shirer galt das Wort Streichers in Franken als Gesetz. Jeder, der für seinen Unmut sorgte, konnte hinter Gitter landen. „Nur auf der Anklagebank in Nürnberg, wo der Gerichtsprozess gegen Kriegsverbrecher lief, sah ich Streicher ohne Peitsche, die bei ihm sonst in der Hand oder am Gürtel war, wobei er lachte und damit prahlte, wie er Unerwünschte mit der Peitsche züchtigte“, so der US-Journalist.

In seinem Gebiet konnte er tun und lassen, was er wollte. Er prügelte einen Häftling des Nürnberger Gefängnisses blutig und gab anschließend zu: Es sei für mich einfach notwendig gewesen, jetzt fühle er sich viel besser. Alle wussten auch, dass er sehr gierig war und das beschlagnahmte jüdische Eigentum an sich riss.

Es ist nicht erstaunlich, dass Streicher auch von hochrangigen Nazis kritisiert wurde. Die Vertrauten Hitlers – Reichstagspräsident Hermann Göring und Hitlers Parteivize Rudolf Hess sowie der Leiter der Deutschen Arbeitsfront Robert Ley und Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht – sagten offen, dass Streicher mit seinen frivolen Artikeln und moralischen Fehltritten den Nazis viel mehr schadet als nützt. Seit 1938 wurden seine öffentlichen Auftritte von Propagandaminister Joseph Goebbels verboten.

Dennoch ließ Hitler diese Vorwürfe lange Zeit außer Acht. Die Aufgabe eines politischen Anführers bestehe offenbar nicht in Versuchen, das menschliche Material, das in seinen Händen liege, zu verbessern. Der Mensch aus niederen Schichten sollte über die „jüdische Bedrohung“ in einer einfachen und verständlichen Form erfahren. „Der Stürmer“ würde diese Aufgabe übernehmen, so Hitler.

Luftwaffe gegen „Stürmer“

1940 stand Streichers Karriere um ein Haar auf dem Spiel. Er war sehr unzufrieden darüber, dass der Luftwaffenminister zu seinem Stellvertreter einen Halbjuden – Generalfeldmarschall Erhard Milch -  machte, dessen Lebenslauf dafür eigens korrigiert wurde. Er werde selbst entscheiden, wer hier Jude sei und wer nicht, sagte Hermann Göring. Streicher war darüber erbost und nannte in einer „Stürmer“-Ausgabe die Tochter des Luftwaffenchefs „ das Ergebnis einer künstlichen Befruchtung“.

Dieses Gerücht hatte sich Streicher nicht selbst ausgedacht. Während des Bierputsches wurde Göring im Leistenbereich verletzt. Es wurde gemunkelt, dass er keine mehr Kinder zeugen kann. Dennoch unterschätzte Streicher die Reaktion des Nazis Nummer zwei, der sein einziges Kind vergötterte. Der wütende Göring forderte vom  Obersten Parteirichter der NSDAP Walter Buch, den frechen „Fabulisten“ zu bestrafen. Buch versprach, dieser Forderung nachzukommen.

Streicher wurde durch eine Intervention Hitlers gestützt. Der Führer hinderte zwar nicht an einer Finanzprüfung, nach der Streicher aus den Parteiämtern entlassen wurde. Doch dem ehemaligen Gauleiter blieben sein Leben und das Blatt, das er in einer Residenz bei Nürnberg weiterhin herausgab.

Nach Beginn des Zweiten Weltkriegs zeigte sich Streicher als eifriger Befürworter der Ausrottung der polnischen und sowjetischen Juden. Am 6. Januar 1944 schrieb er im „Stürmer“: Der Aufstieg des Nationalsozialismus biete die Möglichkeit, den Kontinent von jüdischen Unterdrückern und Ausbeutern für immer zu befreien. Erst im Februar 1945 wurde die Herausgabe des Blatts eingestellt, in dieser Zeit kehrt Streicher aus der Verbannung zurück. In den letzten Wochen des Kriegs leitete er de facto wieder die Parteiorganisation in Franken.

„Vielleicht beteiligte sich der Angeklagte weniger physisch an den Verbrechen gegen die Juden, von denen das Tribunal hörte, als einige andere Verschwörer. Doch die Anklage meint, dass sein Verbrechen deshalb nicht weniger schwer ist“, sagte Griffith-Jones während der Prozesse. „Keine einzige Regierung in der Welt, die es vor den Nazis  gab, hätte die Politik der Massenausrottung durchführen können, ohne ein Volk, das die Regierung unterstützt und eine große Anzahl von Menschen – Männer und Frauen – zu haben, die bereit wären, die Verbrechen zu begehen – Mord an vielen Millionen Männer und Frauen. Streicher übernahm die Aufgabe der Aufklärung des Volkes, Erziehung der Mörder, Vergiftung ihres Geists durch Hass“.

Außenseiter unter den Verbrechern

Am 23. Mai 1945 wurde Streicher von US-Militärs im österreichischen Waidring festgenommen. Im November wurde er vor den Internationalen Kriegsgerichtshof gestellt. Im Unterschied zu den anderen Angeklagten kannte er bereits den Nürnberger Justizpalast von innen – früher war er wegen Verführung einer Minderjährigen angeklagt gewesen, jedoch freigesprochen worden.

Streicher war neben Fritsche der einzige Angeklagte, der nicht wegen realer Taten, sondern wegen Propaganda angeklagt wurde. „Er förderte die Machtübernahme durch die Nazi-Verschwörer und Stärkung ihrer Macht über Deutschland, was im Anklagepunkt eins angegeben ist. Er genehmigte, leitete und beteiligte sich an Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die im Anklagepunkt vier angegeben sind, darunter die Anstiftung der Verfolgung der Juden, wie es in den Anklagepunkten eins und vier steht“, so Sidney Alderman.

„Man kann Streicher als den echten »geistigen Vater« derer ansehen, die in Treblinka Kinder entzweirissen“, sagte der sowjetische Chefankläger Roman Rudenko. „Ohne den »Stürmer« und seinen Redakteur hätte der deutsche Faschismus nicht so schnell und in solchen Ausmaßen Mörder erziehen können, welche die verbrecherischen Pläne Hitlers und seiner Clique direkt ausführten, indem sie mehr als sechs Millionen Juden Europas vernichteten“, sagte er.

Daraufhin nannte Streicher den Prozess „Triumph des globalen Judentums“ und wies die Anklage zurück. Die Reden und Artikeln hätten dem Informieren des Publikums gedient, er habe nicht vorgehabt, zu agitieren und schüren, sondern aufzuklären, so Streicher. Er gab zu, dass er zur Ausrottung des jüdischen Volkes aufrief, das sei jedoch nicht buchstäblich gemeint gewesen. Er soll von der Vernichtung der Juden in ausländischen Zeitungen gelesen haben, glaubte aber selbst angeblich nicht daran.

Sein Anwalt Hans Marx, forderte eine psychiatrische Expertise für seinen Mandanten, gegen die sich Streicher jedoch verwahrte. Ärzte stellten fest, dass Streicher zwar von einer Idee besessen ist, gänzlich aber gesund sei und für seine Handlungen haften kann.

In der Kantine des Justizpalastes, die aus Sicherheitsgründen in Sektoren aufgeteilt wurde, saß Streicher an einem Tisch mit Hess, dem ehemaligen Marine-Oberbefehlshaber Erich Raeder und dem ehemaligen Außenamtschef Joachim von Ribbentrop. Der Gerichtspsychologe Gustave Gilbert sagte, dass Raeder und Ribbentrop sich beleidigt fühlten, die Mahlzeit an einem Tisch mit solcher verrufenen Figur einzunehmen.

 

Quelle:

Enzyklopädie des Dritten Reichs

Konstantin Salesski. Wer ist wer im Dritten Reich. Bibliografie-Wörterbuch

Alexej Surin. Julius Streicher: Propaganda der Barbarei

William L. Shirer. Aufstieg und Fall des Dritten Reiches

Stenogramm der Nürnberger Prozesse. Band I, IV, V / Übersetzt aus dem Englischen – Sergej Miroschnitschenko

 

Daniil Sidorow