Es war fast ein Zufall, dass der Radiosprecher Hans Fritzsche in Nürnberg vor Gericht gestellt wurde: Nach dem Selbstmord von Joseph Goebbels war er der einzige Top-Funktionär des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda geblieben, der vor Gericht gestellt werden konnte. Und es spielte keine Rolle, dass er unter allen hochrangigen Angeklagten den niedrigsten Posten bekleidet hatte.
Junger Medienmacher
August Franz Anton Hans Fritzsche wurde am 21. April 1900 in Bochum geboren. Er war das zweite Kind in der Familie eines preußischen Postbeamten. Seine Schuljahre verbrachte er in Dresden und Leipzig. Direkt von der Schulbank zog er als Freiwilliger in den Ersten Weltkrieg.
Von April bis Oktober 1918 leistete Fritzsche seinen Wehrdienst in der 6. Kavallerie-Schützendivision in Flandern. Nach dem Krieg studierte er Philologie, Geschichte und Philosophie an den Universitäten Greifswald und Berlin, bekam am Ende jedoch keinen Doktorgrad.
1923 trat Fritzsche der konservativen Deutschnationalen Volkspartei bei und wurde zur gleichen Zeit Redakteur der Monatsschrift „Preußische Jahrbücher“. Zwischen 1924 und 1932 war er Chefredakteur der Nachrichtenagentur Telegrafen-Union von Alfred Hugenberg. 1932 wurde er zum Leiter des Rundfunksenders „Drahtloser Dienst“ ernannt.
Goebbels‘ Sprachrohr
Als die Nazis an die Macht gekommen waren, stellte Joseph Goebbels, Chef des neuen Ministeriums für Volksaufklärung und Propaganda, auf der Suche nach loyalen und begabten Journalisten Fritzsche an und machte ihn zum Leiter des Nachrichtendienstes in der Presseabteilung.
„Die Nazis haben am 30. Januar 1933 die Macht ergriffen. Aus den schriftlichen Aussagen Fritzsches erfahren wir, dass ihn am selben Abend, am 30. Januar 1933, zwei Beauftragte Goebbels‘ besucht haben“, erzählte der US-amerikanische Nebenkläger Drexel A. Sprecher. „Die beiden sagten Fritzsche, dass Goebbels zwar verärgert über seinen kritischen Artikel gegen Hitler sei, aber seit dem vorigen Herbst den Erfolg des Radioauftritts Fritzsches anerkenne. Außerdem sagten sie, dass Goebbels Fritzsche weiterhin als Nachrichtenchef im Radio behalten wolle, aber unter gewissen Bedingungen. Erstens sollte Fritzsche nämlich alle Juden feuern und zweitens auch alle anderen Mitarbeiter entlassen, die der NSDAP nicht beitreten wollten. Drittens sollte er den zweiten Gesandten Goebbels‘, (Hans-Heinz) Sadila-Mantau, als Mitarbeiter des Informationsdienstes anstellen. Fritzsche hat sich geweigert, diese Bedingungen zu erfüllen – bis auf die dritte.“
Fritzsches Hauptpflicht war, deutschen Redakteuren zu erklären, was diese zu veröffentlichen hatten und was nicht. Zur selben Zeit, und zwar am 1. Mai 1933, trat er der NSDAP und dann auch der SA bei. „Seit diesem Moment gehörte Fritzsche voll und ganz dem Nazi-Lager an, egal inwieweit er mit den Ereignissen bei dem Nazi-Regime nicht einverstanden war“, behauptete Sprecher.
Für die Etablierung des nazistischen Informationsdienstes wurden beträchtliche Summen bereitgestellt. Das Budget der deutschen Nachrichtenagenturen wurde verzehnfacht – von 400.000 auf vier Millionen Mark. Fritzsche wählte höchstpersönlich den Chefredakteur der Nachrichtenagenturen Transocean sowie Europa Press aus.
1942 war Fritzsche einige Zeit für die Agitationskampagne an der Ostfront zuständig, und im November verließ er die Presseabteilung, um Rundfunkchef zu werden. Sein Amt hieß offiziell „Generalbevollmächtigter für die politische Organisation des Großdeutschen Rundfunks“. Damit erreichte sein Publikum 16 Millionen Menschen – so viele Radiogeräte gab es damals in Deutschland.
Jede Sendung begann mit den Worten „Hier spricht Hans Fritzsche!“ Dadurch wurde er zum bekanntesten Kommentator des Dritten Reiches. Seine glasklare Stimme und seine gründlich ausgewählten Argumente gefielen den Deutschen, die nach neun Jahren unter den Nazis der „mittelmäßigen“ NSDAP-Redner müde waren.
„Der Einfluss dieser Sendungen Fritzsches auf das deutsche Volk während der Konsolidierung der Nazi-Kontrolle war umso wichtiger, weil Fritzsche gleichzeitig Leiter der Nachrichtenagentur war, die die Regierungskontrolle über alle Informationen im Rundfunk ausübte“, betonte Sprecher.
Propaganda-Profi
Zwar zogen Goebbels und Fritzsche quasi an einem Strang, waren jedoch keine Freunde. Der Minister bewunderte Fritzsches Arbeit, zeigte ihm jedoch nie seine Sympathien. Neben dem Job im Rundfunk war Fritzsche als Chef des Deutschen Pressedienstes für internationale Telegrafendienste sowie für knapp 2000 Tageszeitungen und Zeitschriften zuständig. Oft hielt er Beratungen für mehrere Hunderte Vertreter von besonders einflussreichen deutschen Zeitungen ab, traf sich mit Journalisten, um ihnen die offizielle Position der Nazis mitzuteilen.
Wie auch Goebbels, appellierte Fritzsche ständig an die Ideen, die Adolf Hitler in seinem Buch „Mein Kampf“ formuliert hatte. Er sprach immer wieder von einer „Verschwörung des globalen Judentums“, von der „plutokratischen Demokratie“ und der „bolschewistischen Gefahr“, vom „Lebensraum“ und vom „Führerprinzip“. Er feierte „das Genie des Führers“ und betonte, dass es in der gesamten deutschen Geschichte niemandem gelungen sei, dem Reich ein solches Territorium und Prestige zu sichern, wie das Hitler ohne einen einzigen Schuss geschafft habe. Er begrüßte die Aufspaltung der Tschechoslowakei, die Besatzung Polens, den Überfall auf Jugoslawien und etliche andere gewaltsame Aktionen der Nazis.
„Das Schicksal des Judentums in Europa ist so unangenehm ausgefallen, wie der Führer es für den Fall eines europäischen Krieges vorausgesagt hatte“, sagte Fritzsche in seiner Sendung am 18. Dezember 1941. Mit der Ausweitung des Krieges, den nach seinen Worten die Juden provoziert hatten, könnte dieses traurige Schicksal auch auf die Völker der Neuen Welt erwarten, denn es sei kaum vorstellbar, dass die Völker der Neuen Welt den Juden das Unheil verzeihen würden, das ihnen die Alte Welt nicht verziehen habe.
Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs berichtete Fritzsche über die glanzvollen Siege des Dritten Reichs und bewunderte das Potenzial der eroberten Territorien für die deutsche Wirtschaft. Dann aber kamen die ersten Niederlagen in der Sowjetunion, und die Propagandaarbeit wurde schwieriger.
Fortan berichtete Fritzsche über die Grausamkeit der Russen und deren westlicher Verbündeten, über die Gefahr, die seinen Zuhörern drohen würde, und wies gleichzeitig die Vorwürfe zurück, deutsche Soldaten würden viele Verbrechen begehen. Manchmal griff er auch die Übertreibungen der Anti-Hitler-Propaganda auf und zitierte beispielsweise die Londoner Zeitung „News Chronicle“, die einmal geschrieben hatte: „Wir sind für Vernichtung von allen Lebewesen in Deutschland – Männern, Frauen, Kindern, Vögeln und Insekten“.
„Zwar können wir nicht sagen, dass Fritzsche befohlen hätte, 10.000 oder 100.000 Menschen zu töten, aber es genügt, wenn wir uns mit der Frage befassen, inwieweit schwerer es den Verschwörern gefallen wäre, ohne dieses Aufhetzen seitens Fritzsches Bedingungen zu schaffen, unter denen die Vernichtung von Millionen Menschen im Osten möglich wurde“, so Sprecher weiter.
Wer hat Berlin aufgegeben?
Bis zu den letzten Stunden des Krieges arbeitete Fritzsche am Mikrofon, aber es waren für ihn auch zusätzliche Aufgaben entstanden. Ende April 1945 war er im Berliner Führerbunker. Nach Hitlers Selbstmord am 30. April wurde Goebbels zum neuen Reichskanzler. Schon am 1. Mai diktierte er einen Brief an den Befehlshaber der 8. Gardearmee der Roten Armee, Generaloberst Wassili Tschuikow, mit der Bitte, provisorisch das Feuer einzustellen. Darauf kam die Antwort, die Sowjetunion würde nur die bedingungslose Kapitulation des Dritten Reiches akzeptieren. Goebbels beschloss, dass weiterer Widerstand zwecklos wäre, und nahm sich das Leben – neben seiner Frau und den sechs minderjährigen Kindern.
Aber Fritzsche versuchte dennoch, die Situation in den Griff zu bekommen. Angesichts der Agonie der neuen Führung in Berlin (der neue Reichspräsident Karl Dönitz verlegte seine Residenz nach Flensburg) ging er in sein Büro auf dem Wilhelmsplatz und schrieb einen Kapitulationsbrief an den Befehlshaber der 1. Weißrussischen Front, Marschall Georgi Schukow. Am 2. Mai erreichte er trotz des Widerstandes der deutschen Soldaten die Stellungen der Russen und bekundete als ältester von allen in der Stadt verbliebenen Nazi-Beamten die Aufgabe Berlins. Nach der Kapitulation der Hauptstadt half er Rotarmisten, die Leichen der Familie Goebbels zu identifizieren, und wurde danach verhaftet.
Zunächst wurde Fritzsche in einem Berliner Keller gehalten und dann nach Moskau gebracht, wo er in einem Untersuchungsgefängnis des NKWD landete. Dort riss man Fritzsche nach seinen Worten drei Goldzähne heraus, stellte ihn in einen „Stehsarg“ (eine drei Fuß große Zelle), und ernährt wurde er angeblich nur mit Brot und Wasser. Im Herbst wurde der frühere Radiosprecher nach Nürnberg übergeführt, wo er sich vor dem Internationalen Militärgerichtshof verantworten musste.
Umstrittenster Angeklagter
Niemand empfand Sympathie für seine Aktivitäten als Propagandist, aber dass er als Nazi-Beamter aus den hinteren Reihen auf die Liste der Hauptkriegsverbrecher gesetzt wurde, rief eine heftige Diskussion hervor. Die Logik des Nürnberger Prozesses verlangte es, jemanden für die Propaganda-Maschinerie der Nazis anzuklagen. Aber Goebbels war tot, Julius Streicher, dem unser nächster Beitrag gewidmet sein wird, eignete sich dafür kaum, und deshalb bestand die sowjetische Führung darauf, dass Fritzsche in Nürnberg vor Gericht gestellt wird.
„Der Angeklagte Fritzsche nutzte die oben erwähnten Posten und seinen eigenen Einfluss zwecks Verbreitung und Entwicklung der wichtigsten Doktrinen der Nazi-Verschwörer, die im ersten Punkt der Anklageschrift erwähnt sind, wie auch für das Propagieren und die Förderung von Kriegsverbrechen, die im dritten Punkt der Anklageschrift erwähnt sind, sowie von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die im vierten Punkt der Anklageschrift erwähnt sind, insbesondere von antijüdischen Maßnahmen und der gnadenlosen Ausbeutung der okkupierten Gebiete“, stand in der Anklageschrift geschrieben, die der US-amerikanische Ankläger Sidney Alderman vorlas.
Aber während die Öffentlichkeit die anderen Angeklagten mit Abscheu wahrnahm, genoss Fritzsche sogar ein gewisses Mitleid. „Niemand von den Anwesenden, auch Fritzsche selbst, konnte nachvollziehen, warum er sich als ‚kleines Tier‘ dort wiedergefunden hatte, es sei denn nur als Goebbels‘ Schatten“, schrieb der US-amerikanische Journalist William Shirer, der im Dritten Reich arbeitete und danach den Nürnberger Prozess beleuchtete.
Fritzsche selbst bedauerte vor Gericht seine Rolle und behauptete, man hätte ihn getäuscht, so dass er keine Ahnung von der wahren Situation gehabt hätte. Jahrzehnte später fanden Historiker heraus, dass Fritzsche doch von etlichen Verbrechen der Nazis gewusst und seine Zuhörer bewusst desinformiert hatte. In Nürnberg hatte man das jedoch nicht beweisen können. Sein Gerichtsurteil lautete neun Jahre Arbeitslager. Zudem wurde ihm auf Lebenszeit verboten, sich jemals wieder publizistisch zu betätigen oder als Lehrer oder Erzieher zu arbeiten.
Quellen:
Enzyklopädie des Dritten Reiches
Konstantin Salesski. Wer war wer im Dritten Reich. Bibliographisches Wörterbuch
William Shirer. The Rise and Fall of the Third Reich
Das Stenogramm des Nürnberger Prozesses. Bänder I, IV, V/Übersetzt und zusammengesetzt von Sergej Miroschnitschenko
Joachim Fest. Inside Hitler's Bunker
Max Bonacker: Goebbels’ Mann beim Radio. Der NS-Propagandist Hans Fritzsche (1900–1953)
Daniil Sidorow