Vor 75 Jahren ging die Arbeit des wichtigsten Militärgerichtshofs zu Ende. Die Urteile für die größten Nazi-Verbrecher wurden verkündet. In diesem Artikel berichten wir darüber, was im Saal und hinter Kulissen des Nürnberger Militärgerichtshofs am 1. Oktober 1946 passierte.

Quälende Atmosphäre

Am 31. August hörte das Gericht die letzten Worte der Angeklagten und zog sich zurück, um das Urteil festzulegen. Mit dem Näherrücken des Tags der Urteilsverkündung wurden die Vertreter der Nazi-Riege zunehmend nervöser, so der Gerichtspsychologe Gustave Gilbert, der beim Nürnberger Militärgerichtshof tätig war: „Mit jedem Tag war die Lage im Gefängnis immer belastender – die Angeklagten warteten auf das Urteil, diese schwere Atmosphäre änderte sich auch nicht mit Lockerungen der Gefängnisregeln – Treffen der Angeklagten mit Ehefrauen, Besuche für Freunde“.

So gab Hermann Göring die Niederlage zu und konnte seine Nervosität nicht mehr verbergen. Es tat einfach weh, Joachim von Ribbentrop anzusehen (er bat Gilbert, zum Schutz der Angeklagten aufzutreten). Wilhelm Keitel sah ziemlich bedrückt aus und verzichtete auf ein Treffen mit der Ehefrau. Fritz Sauckel, Alfred Rosenberg, Hans Fritzsche und Walther Funk liefen mehrere Stunden lang in der Zelle hin und her, legten sich dann ins Bett und starrten an die Decke. Erich Raeder sagte, dass er keine Illusionen habe und mit der Todesstrafe rechnet. Nur Hjalmar Schacht war weiterhin überzeugt von einem positiven Ausgang des Prozesses für ihn.

Babylonischer Wirrwarr

Das Verlesen der Urteile begann am 30. September. „An diesem Tag kam ich sehr früh in den Justizpalast und fühlte bereits beim Betreten des Gebäudes eine ungewöhnliche Atmosphäre“, erinnert sich der Sekretär der sowjetischen Delegation, Arkadi Poltorak. „Beim Betreten gab es deutlich mehr schwere Polizeiwagen. Alle Kontrollen wurden verstärkt! Die Wachmänner beschauten aufmerksam Aktentaschen, Ausweise, verglichen sie mit den Pässen. Diesem Verfahren waren ausnahmslos alle ausgesetzt: Sowohl Vertreter der Presse als auch Mitarbeiter des Militärgerichtshofs, Anwälte und Gäste“.

Laut Poltorak gab es unter Gästen viele, die den Prozess nur in den ersten Wochen besuchten, und dann nicht mehr kamen. „Nun waren sie wieder zurück. Im Saal herrscht wieder ein babylonischer Wirrwarr, es versammelten sich Vertreter von fast allen Ländern der Welt“, so Poltorak.

Damit mehr Besucher in dem Saal Platz fanden, wurden alle überflüssigen Tische weggebracht und  durch Stühle ersetzt, erzählte der Forscher des Nürnberger Prozesses Alexander Swjaginzew. Es wurden Einladungen in zwei Farben gedruckt, damit eine Person nur eine der zwei wichtigsten Sitzungen besuchen konnte. Am letzten Tag, als die  Einzelurteile bekannt gegeben wurden, waren die Karten der Besucher auf dem oberen Balkon nur für einen halben Tag gültig.

Gegen 9.30 Uhr nahmen die Verteidiger Platz, dann kamen die Stenographen und Dolmetscher. In den gläsernen Radiokabinen drängten sich Techniker, die Galerie für die Presse war proppenvoll. In den Saal wurden nacheinander die Angeklagten geführt, die „äußerst angespannt“ waren und laut dem Sekretär der sowjetischen Delegation so taten, als ob sie sich nicht kannten.

Dann kamen die Richter aus dem Verhandlungsraum – der Vorsitzende Lord Geoffrey Lawrence mit einer großen Mappe mit den Urteilstexten.

Die Richter arbeiteten seit einigen Monaten am Urteil, besprachen ausführlich fast jeden Absatz des Urteils und des Schicksals jedes Angeklagten. Am wenigsten Diskussionen gab es um die Punkte über Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Dafür war der Anklagepunkt über Verschwörung der Gegenstand heißer Diskussionen, der Abschnitt über Verbrechen gegen den Frieden wurde innerhalb von zwei Monaten erstellt. Rosenberg, Frick, Seyß-Inquart hatten Chancen, dem Todesurteil zu entgehen. Funk und von Schirach drohte unvermeidlich der Galgen.

Während es keine Zweifel am Urteil gab, wurde darüber diskutiert, bei welchen Punkten der Angeklagte für schuldig befunden werden soll bzw. welche Haftstrafe bestimmt werden soll. Die sowjetischen Richter, die sich während des Prozesses generell an einen harten Kurs hielten, zeigten sich nun flexibel und waren zu Kompromissen bereit, aber nicht zum Freispruch – später kam es deshalb zu einem offenen Protest.

„Stunde um Stunde lasen die Richter (und ihre Stellvertreter), indem sie einander ablösten, dieses historische Dokument vor. Es dauerte den ganzen Tag, doch das Verlesen der Urteile war noch nicht abgeschlossen“, so Poltorak.

Der erste Tag sei nur der juristischen Begründung und allgemeiner Übersicht der Fakten, welche die Richter in „akkurate Rubriken“ aufteilten, gewidmet gewesen, so der US-amerikanische Jurist Philippe Sands. „Die komplizierten Verflechtungen der historischen Ereignisse und menschlichen Taten wurden auf ein Narrativ vereinfacht, der die Machtergreifung durch die Nazis, deren Angriffe in Europa, die verbrecherische Kriegsführung eindeutig beschrieb. 453 öffentliche Sitzungen waren für eine vollständige Übersicht dieser zwölf Jahre von Chaos, Gewalt und Morde notwendig. Es wurden 94 Zeugen gehört – 33 von der Klage und 61 von der Verteidigung“, so Sands.

Das Urteil definierte zum ersten Mal im Völkerrecht das Konzept der Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die im Gerichtssaal Versammelten hörten in absoluter Stille die Beschreibungen der Morde, Beraubungen, grausamen Umgangs, Zwangsarbeit, Verfolgungen – das alles galt fortan als internationale Verbrechen.

Der Militärgerichtshof nutzte die Formel, die vom britischen Chefankläger Hartley Shawcross ausgesprochen wurde – internationale Verbrechen werden von Menschen und nicht abstrakten Organisationen begangen. Das Völkerrecht kann nur dann umgesetzt werden, wenn diese Menschen bestraft werden, und jeder Mensch hat Verpflichtungen gegenüber dem Völkerrecht, das über den nationalen Gesetzen, die von einem konkreten Staat aufgedrängt wurden, steht.

Große Aufregung nach Urteilssprechung 

Am nächsten Morgen, dem 1. Oktober, befassten sich die  Richter mit der Formel der persönlichen Verantwortung der Angeklagten. Einige Angeklagten hörten aufmerksam zu, andere wurden unruhig und wippten vor und zurück, andere verhielten sich so, als ob das Ganze sie nicht berührt.

Im Begründungsteil des Urteils hieß es, dass Schacht, Papen und Fritzsche freigesprochen werden sollten. „Mit dem Vorlesen der Formel ihres Freispruchs, wurde es im Saal zunehmend lauter. Diese Reaktion schien mir inhomogen, wie auch der Gerichtssaal inhomogen war“, sagte Poltorak.

Laut dem Sekretär der sowjetischen Delegation waren diese Urteile keine Überraschung. „Auf den organisatorischen Sitzungen des Militärgerichtshofs, die nicht öffentlich waren, offenbarten die zahlreichen Erörterungen der Fragen zur Verantwortung von Schacht, Papen und Fritzsche, ziemlich eindeutig die Position der Richter“, sagte Arkadi Poltorak. „Während dieser Sitzungen musste der sowjetische Richter mehrmals die Aussagen der Richter westlicher Länder, die eindeutig ihre Meinung zum Ausdruck brachten, die sich im Ergebnis in einem Freispruch für diese Drei mündete, abwehren“.

Als das Gericht beschloss, drei Angeklagte auf freien Fuß zu setzen, verabschiedeten sich Fritzsche und von Papen von ihren Nachbarn an der Anklagebank, nur Schacht lief an Göring vorbei, ohne auf ihn zu schauen.  Die anderen Angeklagten blieben im Saal – wegen ihres Schuldspruchs.

„Im Justizpalast herrscht Verwirrung. Der heutige Morgen war am sensationellsten, die internationale Presse beeilt sich, diese Sensation in der ganzen Welt zu verbreiten“, so Poltorak. „Es ging das Gerücht um, dass in einem Saal des Palastes eine (improvisierte) Presskonferenz stattfindet, deren Protagonisten die Freigesprochenen sind. Ich ging dorthin. Der Saal war voller Korrespondenten aus verschiedenen Ländern, vor allem amerikanische und britische. Eine Frage folgte der anderen. Die Interviewten antworteten mit selbstzufriedenen Gesichtern. Auch hier logen sie, wie sie auf der Anklagebank logen. Sowjetische Journalisten gingen nicht zu dieser ‘Pressekonferenz‘“.

Still wie im Operationssaal

Nach der Mittagspause, um 14.50 Uhr, begann die letzte, 407. Sitzung.

„Die Situation im Saal änderte sich stark“, so Poltorak. „Scheinwerfer, die zwischendurch eingeschaltet wurden, damit man Video- und Fotoaufnahmen machen konnte, wurden weggebracht (in der letzten Sitzung waren Fotos verboten). Nur das blaue Licht der Neonröhren war an den Wänden, Gesichtern der Angeklagten, Mitarbeitern des Sekretariats, zahlreichen Gäste zu sehen.

Die Anklagebank war leer. Im Saal war es still wie in einem Operationssaal. Jemand hustete nur ab und zu, dieses Husten war wir eine unerwartete Salve.

Alle warteten darauf, dass der Militärgerichtshof mit der Verkündung des Urteils für jeden Angeklagten beginnt. Alle blickten auf die beiden Türe – durch die eine sollten die Richter des Militärgerichtshofs kommen, durch die andere die Angeklagten.

Es kamen die Richter. Lawrence nickte, alle setzten sich.

Die Schlussformel des Urteils mit den Strafen gegen die Angeklagten wurde nur vom Vorsitzenden verlesen. Die Angeklagten wurden einzeln in den Saal gerufen, um das Urteil zu erfahren und dann hinausgeführt – das geschah 18 Mal. Martin Bormann wurde in Abwesenheit verurteilt. Für den Fall eines Herzanfalls, Ohnmachtsanfall oder Hysterie waren ein Arzt und eine Krankenschwester im Saal, und im Aufzug, in dem die Angeklagten zum Saal gebracht wurden, zwei Soldaten mit Trage und Zwangsjacke.

„Zum ersten Mal bei diesem Prozess, der ein Jahr dauerte, wurden die 18 schuldig gesprochenen Angeklagten, die auf ein konkretes Urteil warteten, nicht als eine einheitliche Gruppe, sondern als Einzelpersonen betrachtet“, so Philippe Sands. „Sie wurden nicht alle zusammen in den Saal geführt – jeder wartete draußen, neben dem Aufzug. Jeder ging in den Saal, hörte das Urteil und ging hinaus“.

Die Chefankläger forderten in ihren Schlussreden die Todesstrafe für alle Angeklagten (Ausnahme war nur US-Staatsanwalt Robert Jackson, der keine konkrete Strafmaßnahme forderte, sondern nur sagte, dass „diese Menschen für unschuldig zu befinden, bedeuten würde, zu sagen, dass es keinen Krieg, keine Morde, keine Verbrechen gab“). 12 der 22 Urteile waren Todesurteile.

Jeder Angeklagte reagierte auf seine eigene Art. Laut Poltorak warf Göring einen letzten bösen Blick auf die Richter und verließ schweigend den Saal. Der ergraute und erschrockene Ribbentrop kam nur mühsam zum Ausgang; Keitel hielt sich gerade wie eine Kerze und schien unerschütterlich. Rosenberg verlor die Selbstkontrolle, Frank streckte die Arme, Streicher spreizte die Beine und bewegte den Kopf etwas nach vorne, Jodl zischte böse.

Der zu lebenslanger Haft verurteilte Heß sah wie ein „Lustigmacher“ aus, Funk schien sich zunächst mit einem Todesurteil abgefunden zu haben, wirkte verwirrt und weinte fast, als er erfuhr, dass er am Leben bleiben wird.

„Ich verfolgte aufmerksam, wie sich Rosenberg, Keitel, Kaltenbrunner, Frick, Frank, Jodl, Sauckel, Streicher, Seyß-Inquart, die zur Todesstrafe verurteilt wurden, verhielten“, so der sowjetische Jurist Mark Raginski, der bei dem Prozess als Assistent der Ankläger fungierte. „Außer Seyß-Inquart konnten sie, Mörder von Millionen Menschen, ihre Angst nicht verheimlichen. Ribbentrop, Rosenberg und Jodl mussten von den Wächtern von beiden Seiten gehalten werden, weil sie nicht auf den Beinen stehen konnten“.

„Ich schaue auf die Uhr. Die silbernen Uhrzeiger zeigten 15.40 Uhr. Der Prozess ist zu Ende. Die Richter verlassen den Saal“, so Poltorak. „In den Korridoren des Justizpalastes hallte es unglaublich. Es herrschte ein Sprachengewirr und die Schar der Journalisten rannte zu Telegraphen und Telefonen. Sie eilten, überholten sich gegenseitig, rannten sich beinahe um, um ihren Zeitungen und Agenturen die letzten Ergebnisse der fast einjährigen Tätigkeit des Internationalen Militärgerichtshofs zu übermitteln: zwölf Angeklagte – Göring, Ribbentrop, Keitel, Rosenberg, Kaltenbrunner, Frick, Frank, Streicher, Sauckel, Jodl, Seyß-Inquart und Martin Bormann in Abwesenheit – Todesstrafe durch Erhängen, drei – Heß, Funk und Raeder – lebenslange Haftstrafe, zwei – Schirach und Speer – 20 Jahre Haft, Neurath – 15 Jahre Haft, Dönitz – zehn Jahre Haft.”

Als Hinrichtungsmethode wurde der Tod durch den Strang gewählt. Früher galt diese Maßnahme als Schande – Militärs wurde früher der Kopf abgeschnitten - und mit Auftauchen der Schusswaffe wurden sie erschossen. Damit demonstrierten die Richter, dass die Nazi-Verbrecher keinen Respekt selbst beim Tod verdienen.

Neben den Urteilen für die Angeklagte wurden die Urteile für die Nazi-Organisationen verkündet. Die Führung der NSDAP, SS, Sicherheitspolizei und Gestapo wurde als Verbrecher-Organisationen eingestuft, alle ihre Mitglieder wurden für ihre konkreten Taten zur strafrechtlichen Verantwortung gezogen. Das Reichskabinett, Generalstab, Oberkommando der Wehrmacht und SA wurden freigesprochen. Laut dem Gericht waren weder der Generalstab noch das Oberkommando der Wehrmacht eine Organisation bzw. Gruppe im rechtlichen Sinne, und in der SA gab es keine Geschlossenheit. Dabei betonte der Militärgerichtshof, dass es keine Zweifel an der Schuld der Generäle von Nazi-Deutschland gebe.

Nach der Verkündung des Urteils betonte Lawrence, dass der sowjetische Richter Iona Nikitschenko eine spezielle Stellungnahme hat, die sofort der Presse mitgeteilt wurde. Der Vertreter der Sowjetunion stimmte nicht dem Freispruch von Schacht, Franz von Papen und Fritzsche zu. Er sagte, dass Heß die Todesstrafe verdiene. Er protestierte gegen die Nichtanerkennung des Reichskabinetts, Generalstabs und Oberkommandos der Wehrmacht als verbrecherische Organisationen. Andere Urteile des Gerichtshofs kritisierte er nicht.

„Zu mir kamen viele Kollegen, Juristen, Pressevertreter und sagten: Wir sind mit Ihrem Richter einverstanden, sie sind alle schuld, sie sollten alle streng bestraft werden“, so Mark Raginski.

Obwohl der Text dieser Stellungnahme in Moskau abgestimmt (und laut einigen Historikern auch geschrieben) wurde, enthielt er keine propagandistische Rhetorik, die ausgewogenen Argumente und Genauigkeit der juristischen Formulierungen waren beeindruckend.

Auszüge aus der speziellen Stellungnahme des sowjetischen Mitglieds des Internationalen Militärgerichtshofs, Generalmajor der Justiz, Iona Nikitschenko:

(…) Damit wurde unbestritten festgestellt:

Schacht förderte aktiv die Machtergreifung durch die Nazis
Schacht kooperierte im Laufe von zwölf Jahren eng mit Hitler
Schacht sicherte das wirtschaftliche und finanzielle Fundament für die Schaffung der Hitler-Kriegsmaschine
Schacht bereitete die Wirtschaft Deutschlands auf die Führung der Angriffskriege vor
Schacht nahm an der Verfolgung der Juden und Ausplünderung der von Deutschen besetzten Gebiete teil.
Dementsprechend wird bewiesen, dass Schacht bei der Vorbereitung und Umsetzung des allgemeinen verbrecherischen Plans eine führende Rolle spielte.

Der Beschluss über den Freispruch Schachts widerspricht eindeutig den vorliegenden Beweisen.

“Die Amerikaner werden einen Banker nicht erhängen”

Die Öffentlichkeit reagierte gespalten auf die Urteile. Der US-amerikanische Chefankläger Robert Jackson stimmte dem Gerichtsbeschluss zu, war jedoch mit dem Freispruch für Papen und Schacht nicht einverstanden. Österreichs Justizminister ging noch weiter und forderte die Auslieferung Papens nach Wien.

Die belgische Presse reagierte erbost auf die Freisprüche, die niederländische Zeitung „De Volkskrant“ titelte, dass das Urteil „Nicht das Ende“ ist. „Die Nazi-Anführer werden am 16. Oktober sterben“, schrieb trocken der britische „Guardian“. „Wir sollen sie alle erhängen“, hieß es bei der Londoner Zeitung „The Evening News“.

Die sowjetische Presse äußerte allgemeine Zufriedenheit mit dem Verlauf des Prozesses und unterstützte die spezielle Stellungnahme von Nikitschenko. Die Leitartikel in den wichtigsten Moskauer Zeitungen hatten ähnliche Titel: „Das Urteil der Geschichte“ in der „Prawda“ und „Das Urteil gegen den Hitlerismus“ in der „Iswestija“.

Heute könnte es merkwürdig erscheinen, dass ähnliche Gedanken auch in einer Kolumne von „The Guardian“ geäußert wurden. „Wenn zwölf Menschen erhängt werden sollen, ist es merkwürdig, dass Schacht und von Papen selbst einer Haftstrafe entgingen und freigesprochen wurden“, betonten britische Journalisten. „Fritzsche verdiente kaum einen Platz auf der Anklagebank neben den großen Bösewichten, doch Papen wird eine bösartige Figur in der Geschichte Deutschlands bleiben. Schacht unterstützte die Errichtung des materiellen Fundaments der „Verschwörung“. Wusste dieser scharfsinnige Mensch nicht von den Zielen, denen er mit seinem Talent diente? Es ist interessant, dass diese Punkte in der russischen Stellungnahme berücksichtigt wurden, und Richter Jackson, Staatsanwalt aus den USA, brachte ebenfalls Bedauern wegen Freisprüche für Schacht und Papen zum Ausdruck.”

Viele Staatsanwälte waren wegen der Freisprüche beunruhigt –  der Fall Schacht bekräftige beispielsweise die Befürchtungen, dass die „Amerikaner nie einen Banker erhängen werden“. Einer der wichtigsten Initiatoren des Prozesses, der ehemalige US-Verteidigungsminister Henry Stimson, lobte die Ergebnisse des Militärgerichtshofs, betrachtete die Urteile aber mit Skepsis, wobei Bedauern wegen einer zu engen Deutung des Begriffs „Verschwörung“ geäußert wurde.

Hingegen wurde gelobt, dass es im Urteil kein Prinzip der kollektiven Verantwortung gab.

Auch viele Deutsche waren gegen Freisprüche. Die sowjetischen Behörden nutzten ihre Unzufriedenheit. Laut Poltorak beteiligten sich allein in Leipzig 100.000 Menschen an einer Kundgebung mit Banner mit der Aufschriften „Tod den Kriegsverbrechern!“, „Wir wollen einen langen Frieden!“, „Volksgericht gegen Papen, Schacht und Fritzsche!“, „Wir wollen Ruhe und Frieden!“. Ähnliche Demonstrationen fanden in Dresden, Halle und Chemnitz statt.

Tod!

Die Reaktion der Angeklagten wurde von Gustave Gilbert bildhaft beschrieben.

„Tod!, sagte Göring, und fiel wie ein Sack ins Bett seiner Gefängniszelle. Dann griff er ein Buch, er versuchte verzweifelt den bisherigen Wagemut beizubehalten, der Psychologe bemerkte jedoch, wie stark seine Hände zitterten. Seine Augen wurden feucht, er atmete schwer, als ob er den beginnenden seelischen Kollaps unterdrücken wollte. Er bat mich mit unsicherer Stimme, ihn für einige Zeit allein zu lassen“, erzählte der Psychologe.

Heß ging wie an Krücken in seine Zelle und sagte im Gehen, er habe nicht zugehört, was da gesagt wurde, weshalb er keine Ahnung habe, wie sein Urteil sei. Er pfeife darauf. Doch als der Wächter ihm die Handschellen anlegte, fragte er trotzdem, wozu das gemacht wird und warum die Handschellen nur ihm angelegt werden und Göring nicht.

Der unter Schock stehende Ribbentrop stürzte in seine Zelle, wankend flüsterte ununterbrochen: „Der Tod! Der Tod! Jetzt kann ich nicht mehr meine Memoiren abschließen! Das bedeutet Hass“.

Sauckel schwitzte am ganzen Leib und zitterte wie Espenlaub. Jodl bemühte sich, Gilbert nicht anzuschauen, ging schnurstracks in die Zelle und sagte dann, dass er eine Todesstrafe, aber nicht durch Erhängen verdiene. Seyß-Inquart lächelte, doch obwohl er Eindruck machen wollte, sagte seine Stimme alles. Frick zuckte mit den Schultern und stellte teilnahmslos fest: „Sie werden mich erhängen. Ich habe nichts anderes erwartet“.

Speer lachte nervös: „20 Jahre! Ich muss ja sagen, dass es gerecht ist. Sie hätten mir kaum weniger gegeben, angesichts der ganzen Fakten“. Neurath flüsterte nur: „15 Jahre!“.

Die zur Todesstrafe Verurteilten blieben in ihren Zellen, und jene, die Haftstrafen bekamen, wurden in andere Zellen verlegt.

Geschenkte Apfelsinen

Die Freigesprochenen fühlten sich gespalten. Fritzsche zeigte Anzeichen eines Nervenzusammenbruchs – er war erschüttert und durch die Ereignisse der letzten zwei Tage so angeschlagen, dass er beinahe in Ohnmacht fiel.

Papen war hingegen in angeregter Stimmung, weil er diesen Ausgang nicht erwartet hatte. Er wollte eine Apfelsine, die er vom Mittagessen mitgenommen hat, Neurath geben. Fritzsche bat, sein Obst von Schirach zu geben, und Schacht aß sein Obst selbst.

Allerdings war es für die Freigesprochene zu früh für Feierlichkeiten. „Kurz nach der Verkündung der Freispruch-Urteile, verkündeten die deutschen Zivilbehörden, dass alle Drei festgenommen und wegen Verbrechen gegen das deutsche Volk vor Gericht gestellt werden. Die Nürnberger Polizei umstellte den Justizpalast, um Fritzsche, Papen und Schacht sofort festzunehmen, sobald sie das Gebäude verlassen wollen“, sagte Gilbert.

Die Freigesprochenen blieben nach eigenem Wunsch noch drei Tage lang im Gefängnis. Papen verglich sich mit zum Tode gehetztem Wild, Fritzsche bat den Psychologen verzweifelt, ihm eine Pistole zu geben, wenn er die Qualen nicht mehr ertragen kann.

Spät in der Nacht beschlossen sie, das Gefängnisgebäude zu verlassen. Laut Erinnerungen Fritzsches, auf die sich Poltorak beruft, fuhren zwei US-amerikanische Laster in den Gefängnishof. In einen stieg Schacht, in den anderen Fritsche.

Papen beschloss, erst Mitte Oktober das Gefängnis zu verlassen, nach Briefwechseln mit der Führung der westlichen Besatzungszonen in Deutschland.

Doch kurze Zeit später wurden alle drei wieder festgenommen und vor Gericht gestellt – nun vor einem deutschen Gericht.

Wir danken dem Juristen und Völkerrechtsexperten Sergej Miroschnitschenko für seine Unterstützung bei der Erstellung dieses Artikels.

 

Quellen:

Arkadi Poltorak. Nürnberger Epilog

Gustave Gilbert. Das Nürnberger Tagebuch

Philippe Sands. Ost-West-Straße. Herkunft der Begriffe „Genozid“ und „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“

Alexander Swjaginzew. Der wichtigste Prozess der Menschheit. Reportage aus der Vergangenheit. Appell an die Zukunft

Mark Raginski. Nürnberg: Vor Gericht der Geschichte. Erinnerungen eines Teilnehmers des Nürnberger Prozesses.

Tusa A., Tusa J. The Nuremberg Trial

Weinke A. Die Nürnberger Prozesse

Hirsch, Francine. Soviet judgment at Nuremberg: a new history of the international military tribunal after World War II

Priemel K. C. The Betrayal: The Nuremberg Trials and German Divergence

Editorial: the sentences // The Guardian, 2 October 1946