Seit dem ersten Tag des Nürnberger Prozesses veröffentlichte die „Prawda“, die wichtigste Zeitung in der Sowjetunion, regelmäßig Reportagen über seinen Verlauf. In der Regel handelte es sich dabei um ausführliche, aber eher emotionslose Meldungen der Nachrichtenagentur TASS. Über die wichtigsten Ereignisse berichteten allerdings bekannte Schriftsteller und Journalisten, und einer von ihnen war der “Prawda”Sonderberichterstatter Boris Polewoi. Er beschrieb beispielsweise höchst emotional die Verhöre der „Person Nummer eins“ auf der Anklagebank: Hermann Göring.

Görings Einzelauftritt in Nürnberg fand vom 13. bis 22. März statt und dauerte damit länger als die Auftritte aller anderen Angeklagten. Auf Zustimmung des Gerichts begann er mit einer mehrstündigen Rede und dann verhörte der Rechtsanwalt Otto Stahmer seinen Mandanten und dessen Zeugen. Anschließend musste Göring noch etliche Fragen der Ankläger und der Mitglieder des Tribunals beantworten.

Boris Polewoi, der Augenzeuge dieses „Göring-Marathons“ vom ersten und bis zum letzten Tag war, war erschüttert. Wir können das behaupten, denn der Schriftsteller hielt es nicht für nötig, seine Gefühle für sich zu behalten. Er war einfach irritiert von den „unverschämten Lügen“ Görings.

Boris Polewoi. „Göring verwischt die Spuren“ Zeitung „Prawda“ vom 23. März 1946

„Jäger haben eine sehr treffende Redewendung: ‚Das Tier schlägt Haken‘. Das bedeutet, dass das Raubtier, das von den Jägern gleich gefangen wird, auf einmal auf dem Schnee unglaubliche Zickzacks macht, um seine Verfolger zu verwirren und in die falsche Richtung zu leiten. Und gerade das will jetzt Hermann Göring tun. Von den ersten Worten seiner Aussage an macht er Zickzacks, lügt unverschämt, entstellt Fakten und redet einen Unsinn nach dem anderen. Es kommt dabei zu solchen Pirouetten, die es mir peinlich ist, zu hören.

(…)

Göring geht nach dem Rezept vor: lügen, solange es geht, die gesamte Schuld Hitler, Himmler, Goebbels in die Schuhe schieben, und alles zurückweisen, selbst wenn die Beweiskraft erdrückend geworden ist.

Von Neurath?, sagt Göring. Der Vorsitzende des Geheimen Rats des Dritten Reiches? Ach, was reden Sie denn! Er ist doch kein Kriegsverbrecher! Das ist eine völlig dekorative Figur – er wusste nichts über die Angelegenheiten des Dritten Reiches und beteiligte sich nicht im Geringsten daran. Hitler hatte den Geheimen Rat erfunden, um diesem sympathischen Herrn die Möglichkeit zu geben, zu den wichtigsten Beamten des Reiches zu gehören, ohne sich wirklich anzustrengen. Ich behaupte auch, dass es den Geheimen Rat faktisch gar nicht gab, und deshalb wurde er kein einziges Mal einberufen.

Feldmarschall Wilhelm Keitel? Göring greift auf dieselbe Masche zurück. Keitel hatte nach seinen Worten überhaupt kein Gewicht bei der Entscheidung von irgendwelchen Kriegsfragen. Er war so etwas wie ein Telefon, mit dem Hitlers Anweisungen an die Wehrmacht weitergeleitet  wurden. Er ist sehr sensibel, er spielte Hitler abends Wagner auf dem Klavier vor, als sie über die besetzten Länder reisten. Und sonst nichts.

Der Richter Lawrence war außer sich wegen dieser Lügen. Er fiel der Verteidigung ins Wort und erklärte, dass es dem Gericht völlig uninteressant war, von Göring Gerüchte zu hören, die im Generalstab verbreitet wurden.

(…)

Dann war die Rede von Rosenberg. Es ist wohl kaum möglich, über diesen größten Ignoranten aus Hitlers Umfeld, der die furchtbaren Verbrechen des Faschismus mit verschwommenem Unsinn über die angeblich besonderen Eigenschaften des deutschen Blutes und über die deutsche „Herrenrasse“ bekräftigte, etwas zu sagen, was seine Schuld schmälern würde. Doch Göring zufolge war dieser Ignorant und Hitlers größter Henker, der für die besetzten Gebiete der Sowjetunion zuständig war, der das ganze besetzte Territorium vom Baltikum und bis zum Schwarzen Meer mit dem Blut der friedlichen sowjetischen Menschen begossen hat, einfach ein friedlicher komischer Kerl, ein etwas verrückter Philosoph, der durchaus seine Galoschen im Vorraum vergessen könnte.

(…)

Unglaublich, aber wahr. Da wäre ja selbst der schon tote Goebbels vor Neid geplatzt, wenn er diese frechen und lügnerischen ‚Meisterwerke‘ gehört hätte.

(…)

Es sieht ja danach aus, dass die Faschisten Deutschland ‚vor den Roten retten‘ wollten. Indem sie friedliche Länder wie die Tschechoslowakei, Jugoslawien oder Griechenland überfielen, wollten sie ihre rechte Flanke vor… einem Überfall der Sowjetunion beschützen. Egal was hier früher gesagt, bewiesen und bestätigt wurde (selbst von den Entlastungszeugen Milch und Kesselring), Göring stellt den Überfall auf die Sowjetunion, der fast ein Jahr lang vorbereitet worden war, als einen ‚Präventionskrieg‘ dar.

(…)

 Doktor Stahmer hat Dahlerus vorgeladen, um die völlig wahnsinnige These von der angeblichen Friedensliebe Görings zu beweisen. Er stieß den Zeugen mit seinen Fragen praktisch an. Aber dann bekam der englische Chefankläger, Sir Maxwell-Fyfe, das Wort. Dahlerus muss jetzt seine Fragen beantworten und einräumen: Es sei ihm jetzt klar, dass er bei all den Verhandlungen hinter verschlossenen Türen eine völlig klägliche Rolle gespielt hatte, indem er die verrückten Kriegsvorbereitungen des Faschismus tarnen sollte. (…) Dieser Entlastungszeuge, der von Stahmer vorgeladen wurde, um die faschistische Clique schön zu reden, verlässt das Rednerpult, nachdem er erklärt hat, dass Hitler aus seiner Sicht ein verrückter Schurke, Göring ein widerlicher Kriecher bei Hitler und Ribbentrop ein Mörder war.

Dann begann Genosse Rudenko, der sowjetischen Ankläger, seinen Teil des Verhörs. Göring und diesem ganzen ‚ausgeklügelten‘ System seiner Verteidigung wird der entscheidende Schlag versetzt.“

Wenn man sich das Stenogramm der Gerichtsverhandlungen ansieht, kann man sehen, dass es viele Dinge, die Boris Polewoi beschrieben hat, in Wahrheit gar nicht gegeben hat. Göring stellte Keitel nicht als „Windei“ dar, Dahlerus nannte nicht Hitler einen „Schurken“ und Göring einen „Kriecher“ usw. Im Grunde hat Polewoi keine Reportage über die Ereignisse auf dem Nürnberger Prozess geschrieben, sondern eine Reportage über die Ereignisse in seiner eigenen Seele.

Göring log tatsächlich – und das bestätigten die Ankläger im Laufe des Verhörs überzeugend. Sie bewiesen das akribisch, indem sie dem Angeklagten ein Dokument nach dem anderen vorlegten, wo das Gegenteil dazu geschrieben stand, was er behauptete. Für einen gleichgültigen Zuschauer könnte dieses Verfahren auch einmal langweilig sein. Aber nicht für einen sowjetischen Korrespondenten, Patrioten und Sieger, der mit seinen eigenen Augen die Schrecken an der Front gesehen hatte und davon überzeugt war, dass er Recht hatte.

Göring, der fast eine ganze Woche redete, hat in Polewois Seele ein glühendes Feuer des Hasses angezündet. Und aus diesem Feuer entstand die Inspiration, die diese Bilder und Aussagen geschaffen hat – die einerseits ausgedacht, andererseits aber völlig wahrhaft waren.

Die Reportage von Boris Polewoi war kein Dokument des Nürnberger Prozesses, aber ein Dokument aus der Epoche des Nürnberger Prozesses.

 

Julia Ignatjewa