Gestohlener Film beweist Völkermord
Häftlinge berichteten, wie die Massentötungen im größten KZ-Lager Europas abliefen und dass alle davon gewusst haben
Vor den Zuschauern im Sitzungssaal des Nürnberger Tribunals erschien eine neue „Portion“ von Augenzeugen aus verschiedenen Ländern Europas – Menschen, die den Aufenthalt in nazistischen Konzentrationslagern überlebt hatten. Die meisten Erzählungen waren dem KZ im österreichischen Mauthausen gewidmet – quasi dem Vorzeige-KZ des Dritten Reichs. Die Richter hörten nicht nur die Aussagen der früheren Häftlinge, sondern sahen auch einmalige Fotos, die die Deutschen gemacht hatten, um sie irgendwann selbst zu nutzen. Ihre Opfer konnten Negativfilme stehlen und mithilfe der Einheimischen verstecken.
Die meisten Opfer kamen aus der Sowjetunion
Bei Mauthausen handelte es sich um einen ganzen Komplex aus dem zentralen Lager und 49 Filialen. Das zentrale Lager hatten Häftlinge des KZ Dachau gebaut, des allerersten Konzentrationslagers der Nazis, das noch 1933 eröffnet worden war. Zwischen 1938 und dem Mai 1945 sind insgesamt 335 000 Menschen durch die Mauthausen-Hölle gegangen, von denen 122 000 getötet wurden, an verschiedenen Krankheiten gestorben oder verhungert waren. Das Lager war sozusagen international: Dort wurden friedliche Zivilisten aus ganz Europa, wie auch Kriegsgefangene (auch aus den USA und der Sowjetunion) gehalten und totgefoltert. Die meisten Todesopfer waren sowjetische Menschen: etwa 32 000.
Anfang Mai 1945 verließ die KZ-Verwaltung fast vollständig das Lager: Geblieben waren nur 30 SS-Soldaten, die es verteidigen sollten. Auch die meisten Kapos waren geflüchtet. Zu diesem Zeitpunkt war es den Häftlingen gelungen, ein kleines Arsenal zu sammeln – für den Fall, dass die SS-Kräfte den vorrückenden Alliierten Widerstand leisten sollten. Dazu kam es jedoch nie: Die US-Armee erreichte das Lager, das kaum noch bewacht war. Die dort gebliebenen Nazis haben die Häftlinge selbst „entsorgt“. Und die versteckten Waffen erwiesen sich bei ihren künftigen Auseinandersetzungen mit geflüchteten SS-Leuten in der Umgebung des befreiten Lagers als nützlich.
Die Augenzeugen hatte die französische Anklage vorgeladen: Ihre Erzählungen schockierten die Zuschauer im Saal Nr. 600. Diese Menschen hatten immerhin Massenhinrichtungen und qualvolle Mordmethoden mit ihren eigenen Augen gesehen. Für die Häftlinge war das kein Geheimnis – die Nazis hatten ihre Opfer oft öffentlich getötet.
„Falls du nicht auf mich hörst, landest du in Mauthausen“
Das Kreuzverhör der Augenzeugen klappte so gut wie nicht: Am Anfang versuchten manche Rechtsanwälte, die Ex-Häftlinge bei einzelnen Fehlern zu ertappen, aber bald stellte sich heraus, dass dies keine Fehler der Zeugen waren, sondern dass die Rechtsanwälte selbst keine klare Vorstellung vom KZ-Alltag hatten.
Die Mauthausen-Einwohner konnten über den Stand der Kenntnisse der Berliner Rechtsanwälte durchaus nichts gewusst haben. Aber sie wussten genau, dass hochrangige Angeklagte in Nürnberg, beispielsweise Ernst Kaltenbrunner und Albert Speer, sich ganz genau vorgestellt hatten, was für eine Einrichtung sie inspiziert hatten: Sie waren nämlich auf den Fotos aus dem KZ zu sehen.
Die früheren Häftlinge hatten keine Zweifel, dass die Menschen, die in der Umgebung des Lagers oder sogar in Wien lebten, alles oder wenigstens fast alles gewusst hatten. Auch deutsche Arbeiter der Betriebe, wo Zwangsarbeiter zum Einsatz kamen, blieben nicht in Unkenntnis.
„Ich habe bei Messerschmitt gearbeitet“, erzählte der Augenzeuge Maurice Lampe. „Unser Meister war mobilisierter Deutscher, der abends zu seiner Familie zurückkehrte. Er wusste über unser Leben, über unsere Leiden. Er sah oft, wie Menschen, die getötet werden sollten, weggeführt wurden. Er war Augenzeuge der meisten Prügelattacken, von denen ich erzählte … Einmal ereignete sich in Mauthausen Folgendes: Es traf eine neue Partie von 30 Wiener Feuerwehrleuten ein, die für die Teilnahme an einer Solidaritätsaktion gefasst worden waren. Diese Wiener Feuerwehrleute erzählten uns, dass man in Wien oft sagte, wenn man einem Kind Angst machen wollte: ‚Falls du nicht auf mich hörst, landest du in Mauthausen.‘“
Das KZ Mauthausen lag auf einer Hochebene, und die Schornsteine seines Krematoriums qualmten und vergifteten die ganze Gegend jede Nacht. Die Schornsteine waren aus einer weiten Entfernung zu sehen, und man musste nur sehr naiv sein, um nicht zu verstehen, was da vorging. Mauthausen selbst war ein kleines Städtchen mit etwa 4000 Einwohnern mit schönen Dörfern in der Umgebung und lag nur fünf Kilometer entfernt vom Lager. Am städtischen Bahnhof kamen fast täglich Züge mit neuen Häftlingen an. Die SS-Soldaten warfen aus Güter- und Viehwaggons Tausende ohnehin erschöpfte Häftlinge, die die Leichen ihrer Kameraden ausladen mussten, die den Weg nach Mauthausen nicht überlebt hatten. Das alles geschah vor den Augen der Stadtbewohner.
Zeugen von Mauthausen
Francois Boix
- Spanischer Staatsbürger, Katalane. Geboren 1920. Fotokorrespondent. War Soldat der spanischen republikanischen Armee, geriet 1940 in die Gefangenschaft, wurde in Mauthausen bis zur Befreiung im Mai 1945 festgehalten.
Maurice Lampe
- Französischer Staatsbürger. Geboren 1900. Kommunist und Gewerkschaftsaktivist, Teilnehmer des Bürgerkriegs in Spanien.
- Wurde am 8. November 1941 verhaftet und in ein Gefängnis geworfen. Am 22. März 1944 wurde er nach Mauthausen überführt, wo er bis zur Befreiung im Mai 1945 blieb.
Jean-Frederic Veith
- Französischer Staatsbürger. Geboren 1903 in Moskau.
- War genau zwei Jahre Insasse in Mauthausen: vom 22. April 1943 bis 22. April 1945. Im Lager wurde er in die Abteilung für Arbeitskräfteverteilung geschickt.
Quelle:
Sergej Miroschnitschenko. Stenogramm des Nürnberger Prozesses, Band VII